Montag, 6. Januar 2025

du hast die Wahl

Ansprache zur Andacht an Epiphanias, 6.1.2025, über Mt 2,1-12

Liebe Schwestern und Brüder,

die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland
ist eine dieser herzzerreißenden Geschichten,
in denen sich am Ende das hässliche Entlein als Schwan entpuppt,
das Aschenbrödel den Prinzen heiratet
oder der kleine Junge aus ärmlichen Verhältnissen
der neue Lord Fauntleroy wird:

Ein Kind unbedeutender Eltern, geboren in einem Stall,
ist in Wahrheit ein König, den die Weisen anbeten.
Und nicht nur ein König, sondern der Christus;
der Messias, den die Propheten verheißen hatten.

Doch die Geschichte ist kompliziert.
Warum machen sich die Weisen für ein Baby auf den weiten Weg?
Sehen nicht alle Neugeborenen gleich aus?
Wenn man beide nebeneinander legen würde,
das Baby einer Königin und das Baby einer einfachen Frau,
ließe sich das eine nicht vom anderen unterscheiden.
Man sieht es dem Kind Jesus nicht an, dass es der Messias ist;
das muss er erst noch werden.

Dann gibt es auch bereits einen König in Jerusalem, Herodes.
Die Weisen gehen geradewegs zu ihm.
Das Kind eines Königs sucht man in einem Palast.
Aber die Weisen scheinen genau zu wissen,
dass sie den Messias nicht in Herodes’ Palast finden werden.
Ihre Frage, wo der Messias zur Welt kam,
ist Herodes gegenüber mindestens unhöflich,
wenn nicht sogar ein Affront, eine Kränkung,
die diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen könnte.

Und schließlich ist es die Nachricht von der Geburt des Königs selbst,
die in Jerusalem keineswegs Freude auslöst.
Dabei warten doch alle auf den Messias!
Doch dass er nun tatsächlich geboren sein soll,
was ein Blick in die Bibel bestätigt,
lässt die Jerusalemer Eliten erschrecken.
Herodes schmiedet sogar Mordpläne gegen das Neugeborene.

Die Weisen aus dem Morgenland
unternehmen eine weite, beschwerliche und gefährliche Reise,
um ein neu geborenes Kind anzubeten.
Normalerweise nimmt man eine solche Reise nur auf sich,
wenn das Kind ein Verwandter ist.
Selbst dann überlegt man, ob man den Besuch
nicht mit einem anderen Anlass verbinden kann -
einem runden Geburtstag zum Beispiel.

Auch zum Neugeborenen eines Königs würden sich nur
begeisterte Royalisten auf den Weg machen.
Allen anderen, Weisen zumal, wäre das nicht der Mühe wert.

Aber wenn der Messias endlich geboren wird,
auf den alle Gläubigen sehnsüchtig warteten
und den die Propheten schon vor Jahrhunderten verheißen hatten,
verlockt das auch die Weisen, sich auf den weiten Weg zu machen:
So etwas erlebt man nur einmal;
davon kann man noch seinen Urenkeln erzählen.

So begeistert die Weisen von der Geburt des Messias sind,
so wenig amused ist man im Palast.
Dabei könnte Herodes doch ganz gelassen bleiben:
Bis dieses Kind erwachsen geworden ist,
dass es ihm den Thron streitig machen könnte,
ist er als König längst in Rente.

Doch der Messias ist nicht einfach der König in Jerusalem.
Er ist der, der Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit bringt.
Frieden und Gerechtigkeit sind für einen Machthaber die größten Bedrohungen.
Er regiert mit Gewalt und festigt seine Macht durch Vetternwirtschaft.
Indem er einer Clique Vorteile verschafft,
die treu zu ihm hält und ihm nach dem Munde redet,
zieht er sich Unterstützer heran, die ihm helfen, seine Macht zu sichern.
Sie werden ihn verteidigen, weil sie damit ihre Pfründe verteidigen.

Gottes Frieden zeigt, dass Gewalt unmenschlich ist.
Gottes Gerechtigkeit gilt allen gleichermaßen
und nimmt sich besonders der Schwachen, Benachteiligten an.
Der Messias stellt den Machthaber bloß;
lässt das Unrecht erkennen, mit dem er seine Macht sichert.

Insofern kann man die Geburt des Messias
als Kampfansage an den Gewaltherrscher verstehen.
Herodes jedenfalls fasst die Geburt Jesu so auf
und schmiedet seinen Mordplan, um den Messias zu beseitigen.
Um seine Macht zu erhalten,
schreckt er nicht davor zurück, die Hoffnung zu zerstören,
die über Jahrhunderte wie ein wertvoller Schatz gehütet worden war.

Die Nachricht von der Geburt des Messias verursacht eine Krise in Jerusalem.
Eine Krise, die den Machthaber Herodes verunsichert
und ihn um seine Herrschaft bangen lässt.

Jesus, der Messias, löst diese Krise aus; er ist die Krise:
Er ist der Eckstein, an dem manche Anstoß nehmen,
und er wird es sein Leben lang bleiben.
Er legt sich mit Schriftgelehrten und Pharisäern an.
Er stürzt die Tische der Händler und Geldwechsler im Tempel um.
Er sagt, dass man nicht zwei Herren dienen kann,
sondern sich entscheiden muss zwischen Gott und dem Mammon.
Er lässt sich mit Leuten ein, die von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden
und lehrt, dass die Letzten die Ersten sein werden.

An Jesus scheiden sich die Geister.
Man muss sich entscheiden, für oder gegen ihn.
Der Glaube stellt uns immer wieder vor solche Entscheidungen,
ja, er ist die Entscheidung selbst.
Daran erkennen wir, dass wir eine Wahl haben.

Die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland
unterstreicht doppelt und dreifach,
dass Jesus der verheißene Messias ist.
Dieses Unterstreichen ist notwendig,
weil Jesus nicht so ohne weiteres als Messias zu erkennen ist.
Er hat nicht Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufgerichtet,
wie es die Propheten angekündigt hatten.
Statt dessen sprach er davon, dass dieses Reich Gottes
nahe herbeigekommen sei.
In ihm, Gottes Sohn, war es gegenwärtig - in ihm war Gott gegenwärtig.

Die Entscheidung für den Messias Jesus
bringt uns in den Machtbereich Gottes.
Gottes Machtbereich lässt uns die Mächte der Welt kritisch sehen.
Wir erkennen, dass wir nicht so handeln müssen,
wie wir es immer getan haben oder wie es alle tun,
sondern dass wir eine Wahl haben:
Wir entscheiden, wer wir sind und wer wir sein wollen.
In Gottes Machtbereich entdecken auch wir unsere besten Seiten
und werden sichtbar als die Prinzessinnen und die Prinzen,
als die Gott uns geschaffen hat.

Sonntag, 5. Januar 2025

ewiges Leben

Predigt am 2. Sonntag nach dem Christfest, 5.1.2025, über 1.Johannes 5,11-13

Das ist der Beweis: Gott gab uns ewiges Leben,
und dieses Leben besteht in seinem Sohn.
Wer den Sohn hat, hat das Leben.
Wer den Sohn nicht hat, hat das Leben nicht.
Das habe ich geschrieben, damit ihr,
die ihr an den Namen des Sohnes Gottes glaubt, wisst,
dass ihr ewiges Leben besitzt.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?“,
soll Friedrich der Große seinen Soldaten hinterher gerufen haben,
die lieber flohen, als sich in einer aussichtslosen Schlacht totschießen zu lassen.

Wollt ihr ewig leben?
Das war für die Soldaten damals keine Frage.
Ihnen ging es nur ums Überleben - ein Kampf, den viele von ihnen
damals auch außerhalb des Schlachtfeldes führen mussten.
Wenn das Leben selbst auf dem Spiel steht,
kommt niemand auf die Idee, über das ewige Leben nachzudenken.
Es ist eine rein theoretische Frage.
Wir wissen, dass wir nicht ewig leben können.
Man stellt sich solche Fragen nur,
wenn man Zeit und Lust hat, über alles mögliche nachzudenken,
auch über Unrealistisches oder Unmögliches.

Jetzt z.B. wäre Zeit dazu.
Darum frage ich Sie und mich: Wollen wir ewig leben?

Ewig leben - das klingt erst einmal verlockend:
Keine Angst mehr vor dem Tod haben zu müssen
wäre schön und erstrebenswert.
Endlos Zeit haben für alle Hobbies;
alles ausprobieren, alle Pläne und Ideen verwirklichen können;
alle Orte besuchen, die man immer schon mal kennenlernen wollte;
alle Serien im Fernsehen sehen können, alle Bücher lesen,
alle Musikstücke hören oder selber spielen,
alles tun, was man immer schon mal tun wollte.
Sich nicht entscheiden müssen, ob man lieber das eine tut oder das andere,
weil man beides tun kann, nacheinander.

Aber dann fällt mir der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier” ein,
in dem Bill Murray den selben Tag in einer Endlosschleife erleben muss,
immer und immer wieder.
Bei den vielen Wiederholungen desselben Tages lernt er u.a. Klavier spielen,
und er lernt alle Bewohner:innen der Kleinstadt Punxsutawney 
quasi persönlich kennen, einschließlich ihrer Macken und täglichen Routinen.
Aber er kommt aus dieser Schleife nicht mehr heraus.
Jeden Morgen wacht er zur selben Melodie des Radioweckers auf.

„Ewig”, das sind ja nicht bloß ein paar Jahre oder Jahrzehnte mehr -
„ewig” hat kein Ende, ist eine unendliche Anzahl von Jahren.
Irgendwann hat man alles getan, was man tun wollte.
Irgendwann hat man alles gesehen, erlebt, was man sehen und erleben wollte.
Irgendwann ist es genug.
Aber „ewig” kennt kein „genug”.
Wenn man es so betrachtet, ist „ewig” nichts Verlockendes, sondern ein Fluch.

Aber kommen wir noch einmal darauf zurück,
was „ewig” für uns zu einer guten Idee gemacht hat:
Das waren alles Dinge, die wir gern tun oder tun würden,
schöne Dinge, Dinge, auf die wir neugierig sind.
Niemand wünschte sich, ewig zur Arbeit zu gehen,
ewig einen Stein einen Berg hinauf zu rollen wie Sisyphus,
ewig krank oder bettlägerig sein.

Was wir uns ewig wünschen,
sind die erfüllten und erfüllenden Momente im Leben,
von denen wir mit Faust sagen würden: „Verweile doch, du bist so schön!”
Wenn man es so versteht, beschreibt „ewiges Leben” keine unendliche Zeit,
sondern ein Leben, das lebenswert ist, weil es schön ist,
weil es das eigentliche, das wahre Leben ist.

Für Johannes ist dieses wahre Leben eine Person: Jesus Christus:
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben”, sagt Jesus von sich (Joh 14,6),
und: „Ich bin das Brot des Lebens” (Joh 6,35).
Jesus ist der, der lebendiges Wasser gibt, von dem man nie wieder durstig wird,
weil es in einem selbst zu einer Quelle wird (Joh 4,10.14).
Darum schreibt Johannes:
„Dieses Leben besteht in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben.”

Auf der einen Seite steht das Leben, das für uns wahres, erfülltes Leben ist.
Auf der anderen Seite steht Gottes Sohn, der selbst das wahre, das ewige Leben ist.
Sind das zwei Seiten einer Medaille,
oder schließen sich unser wahres Leben und Christus, das ewige Leben, gegenseitig aus?

Was für uns wahres Leben ist, sind Dinge, die wir schön finden,
die wir uns erträumen, die wir gern tun würden.
Was ich schön oder erstrebenswert finde, muss es für Sie nicht sein.
Es ist sogar höchst wahrscheinlich,
dass unsere Ansichten davon, was „wahres” Leben ist,
was wir als schön und erfüllend empfinden,
sich sehr voneinander unterscheiden;
dass wir dabei kaum auf einen gemeinsamen Nenner kämen.

Uns allen gemeinsam ist, dass das, was wir als „wahres Leben” ansehen,
etwas ist, was uns als Einzelne betrifft,
auf jede und jeden von uns allein bezogen ist -
auch dann, wenn es dafür einen anderen Menschen braucht.
Bei dem, was wir als wahres Leben empfinden, geht es nur um uns.

Christus dagegen ging es überhaupt nicht um sich.
Ihm ging es um die Liebe, und die ist immer eine Sache von zweien.
Christus hat Gott als Liebe verkündigt und hat so gelebt,
dass er Beziehungen gestiftet oder ermöglicht hat:
Er wandte sich Menschen zu,
die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden waren
oder nicht dazugehören durften.
Er scharte einen Kreis von Jüngerinnen und Jüngern um sich,
die er lehrte, als Gemeinschaft zu leben und miteinander auszukommen.
Nach seiner Auferstehung gründeten sich Gemeinden;
bis heute ist das die Form, in der wir unseren christlichen Glauben leben.

Das wahre Leben, das Christus ist, ist die Gemeinschaft;
darum wird die Gemeinde auch der „Leib Christi” genannt.
Und darum kann Johannes sagen, dass wir das ewige Leben besitzen:
Wir besitzen es, weil wir zur Gemeinde Jesu Christi gehören.
Wir hier zusammen: das ist das wahre, das ewige Leben.

Nun geht es nicht darum, wer hier neben wem sitzt,
ob wir unsere Sitznachbarin, unseren Banknachbarn kennen oder mögen -
das wären alles wieder Kriterien, bei denen es sich nur um uns dreht.
Es geht vielmehr darum, dass wir eine Gemeinde sind,
und als Gemeinde der Leib Christi.
Das bedeutet: hier kann man Christus begegnen,
weil wir ihn gemeinsam und gegenseitig füreinander verkörpern.

Christus begegnet uns in der Liebe, die uns als Gemeinde verbindet.
Nicht, dass wir uns alle lieb hätten, alle mögen würden oder mögen müssten.
Sondern indem die Liebe die Richtschnur ist, die unser Miteinander bestimmt.
So, wie Christus Gottes Liebe ausbreitete und lebte,
bemühen wir uns um Liebe zueinander und zu unseren Mitmenschen,
um Nächstenliebe.
Das gelingt uns nicht so vollkommen, wie Christus diese Liebe gelebt hat.
Das kann es nicht, und das muss es auch nicht.
Das, was für uns wahres Leben ist, und das wahre Leben, das Christus ist,
stehen in einer gewissen Spannung zueinander,
so wie die Selbstliebe und die Nächstenliebe in einer Spannung zueinander stehen.

Nächstenliebe geht nicht ohne Selbstliebe -
ich kann nicht für andere da sein, für andere sorgen,
wenn ich nicht zuvor für mich gesorgt habe.
Wer erschöpft ist - wie soll der anderen helfen können?
Wer todmüde ist - wie soll die anderen zuhören können?
Wer sich selbst hasst - wie soll der andere davon überzeugen, dass sie liebenswert sind?

Und Selbstliebe geht nicht ohne Nächstenliebe.
Wir Menschen sind gesellige Lebewesen.
Wir können eine zeitlang allein sein,
aber wir brauchen einander, wir brauchen ein Gegenüber.
Das muss auch Bill Murray in „Täglich grüßt das Murmeltier” feststellen.
Nachdem er alles ausprobiert, alles nur erdenkliche für sich getan hat,
ohne der Schleife der Wiederholungen des selben Tages entkommen zu können,
fängt er an, nett zu anderen zu sein, ihnen Gutes zu tun, ihnen zu helfen.
Eines Tages kommt ein Tag, an dem er überhaupt nichts mehr für sich will,
sondern einfach genießt, was er für andere und mit anderen tun kann.
Der folgende Morgen ist ein neuer Tag;
Bill Murray ist aus der unendlichen Schleife des ewig selben Tages befreit.

Der Film vermittelt die Moral, dass man kein zynisches Ekel,
sondern freundlich zu seinen Mitmenschen sein soll.
Johannes hat keine solche Moral im Sinn.
Seine Feststellung, dass wir das ewige Leben besitzen,
hebt keinen moralischen Zeigefinger,
wir müssten nun zu unseren Mitmenschen freundlich und hilfsbereit sein.
Vielmehr stellt er fest, dass wir Jesus da begegnen,
wo die Liebe unser Handeln bestimmt,
und dass in der Liebe das wahre, das ewige Leben besteht.
Denn „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt,
der bleibt in Gott, und Gott in ihm”
(1.Joh 3,16).

Mittwoch, 1. Januar 2025

einfach drauflos

Predigt am Neujahrstag, 1.1.2025, über Josua 1,1-9


Liebe Schwestern und Brüder,

ein Freund von mir las von jedem Gerät, das er sich kaufte,
immer zuerst die Gebrauchsanleitung von vorn bis hinten durch,
bevor er das Gerät auspackte und in Betrieb nahm.
Mich machte das immer ganz kirre; ich konnte es nicht erwarten,
das neue Gerät auszupacken und anzuschalten.
Ich ging davon aus, dass sich mit dem Gebrauch ergeben würde,
wie das Gerät funktionierte, und dass die wichtigsten Knöpfe
letztlich überall die gleiche Funktion hatten.
Ganz falsch lag ich damit nicht.
Aber die Zeit, die ich durch das schnelle Auspacken und Anschalten
gewonnen hatte, verlor ich später wieder,
weil das Gerät oft nicht machte, was es sollte -
während mein Freund es so souverän handhabte,
als habe er nie etwas anderes getan.

Mein Freund und ich sind Beispiele dafür,
wie man an Neues, Unbekanntes herangeht.
Die einen springen einfach hinein, lassen sich überraschen.
Die anderen machen sich vorher schlau
und wissen anschließend genau, was sie tun, wenn sie loslegen.
Wenn man Verantwortung trägt, wenn es dabei um etwas geht,
ist die zweite Herangehensweise sicherlich die bessere.
Die erste bringt dafür schneller Ergebnisse -
wenn auch nicht immer die gewünschten oder erwarteten …

Für das Leben müsste es manchmal auch eine Gebrauchsanleitung geben.
Wie geht das bloß mit den Männern und den Fraun, fragt man sich als Jugendliche:r;
wie geht das bloß mit dem Kinderkriegen und -erziehen,
fragt man sich als werdende Mutter oder Vater.
Wie geht das mit dem Ruhestand, fragen sich die einen,
wenn sie kurz davor stehen; die anderen lassen ihn auf sich zukommen,
genießen ihn - oder wissen nicht, wohin mit sich,
weil sie sich vorher keine Gedanken darüber gemacht haben,
was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen.
Hätten sie doch bloß vorher die Gebrauchsanleitung gelesen!

Doch für die wichtigen, die einschneidenden Abschnitte des Lebens
gibt es leider keine Gebrauchsanleitung.
Es gibt jede Menge Ratgeber für alle Lebenslagen.
Aber wenn es ernst wird, muss jede:r selbst sehen,
wie er oder sie zurechtkommt.
Das ist wie nach der Ausbildung oder dem Studium:
Theoretisch weiß man, wie es geht.
Aber wenn man zum ersten Mal allein verantwortlich ist,
scheint alles vergessen, was man einmal gelernt hat.

Auch Josua steht vor einem großen Schritt,
einem doppelten sogar.
Da ist einmal der Schritt über den Jordan in das Land Israel -
„one small step for a man - one giant leap for mankind” -
„ein kleiner Schritt für einen Menschen,
ein gigantischer Sprung für die Menschheit” -,
wie Neil Armstrong bei seinem ersten Schritt auf dem Mond sagte.
Die Auswirkungen des Schrittes Josuas über den Jordan
spüren wir bis heute, und sie beschäftigen die ganze Menschheit -
oder doch einen großen Teil von ihr.

Der andere große Schritt, den Josua tut:
Er übernimmt die Leitungsverantwortung von Mose.
Eine Verantwortung, vor der ihm sicher mulmig ist.
Josua hat während der Wanderung durch die Wüste erlebt,
wie unzufrieden, wir nörgelig, wie wütend das Volk werden konnte,
wenn es nicht seinen Willen bekam.

Dann ist da ja auch noch Gott, dem er für das Volk Israel verantwortlich ist.
Und Josua muss dem Volk Israel Gottes manchmal unbequemen,
manchmal entgegengesetzten Willen übermitteln -
eine sehr undankbare Aufgabe.

Immerhin gibt Gott ihm eine Gebrauchsanleitung an die Hand:
Die Torah, den ersten und wichtigsten Teil der hebräischen Bibel, die fünf Bücher Mose.
Wer schon einmal einen Blick in die Torah geworfen hat,
wird sich erinnern: Eine Anleitung, wie Josua das Volk Israel leiten soll,
ist das nicht. Man erfährt auch nicht, wie man als Ausländer
in einem fremden Land Fuß fasst.
Einem Land, das nicht unbewohnt ist wie der Mond,
sondern in dem bereits Menschen leben, die alles andere als erfreut sind
über diese ausländischen Flüchtlinge, die sich unter ihnen breit machen!

Nun könnte man mit Jesus sagen,
die Torah ist zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen,
von ganzer Seele, von ganzem Verstand und mit all deiner Kraft
und deine:n Nächste:n wie dich selbst”
(Markus 12,30f).
Dieses Doppelgebot ist eine Richtschnur, die immer und überall gilt,
in allen Lebenslagen - was braucht es mehr!?
Doch mit dieser Richtschnur geht es einem wie dem oder der,
die das erste Mal allein verantwortlich ist:
Man hat das Gefühl, dass man etwas Wesentliches nicht weiß,
das man jetzt wissen müsste, um die Aufgabe zu erfüllen.

Die Torah ist nicht wirklich eine Anleitung für die Schritte, die Josua jetzt zu gehen hat,
wie sie auch uns keine Anleitung bietet für unsere kleinen und großen Schritte im Leben -
dem Verlieben, dem Vater- oder Muttersein, dem Ruhestand.
Was nützt es Josua, dass er die Torah so genau studiert,
und das auch noch ausdauernd, Tag und Nacht?

Im Grunde braucht Josua keine Anleitung.
Denn für die beiden großen Schritte, die er jetzt gehen muss,
trägt nicht er die Verantwortung, sondern Gott:
„Wie ich mit Mose gewesen bin, werde ich mit dir sein”, verspricht er ihm.
Gott hat Mose den Weg aus der Knechtschaft in Ägypten geführt,
als Wolkensäule am Tag und als Feuersäule bei Nacht.
Gott hat ihm immer wieder aus der Patsche geholfen,
wenn das Volk murrte, weil es nichts zu essen, nichts zu trinken hatte.
Im Grunde hat Gott alles getan; Mose war nur der Vermittler
zwischen Gott und seinem Volk Israel.

Auch Josua verspricht Gott, dass er ihm die Verantwortung abnimmt:
„Fürchte dich nicht und erschrecke nicht;
denn der Herr, dein Gott, ist mit dir, wohin du auch gehst.”

Dieses Versprechen, das Gott Josua gab, gibt er auch uns.
Gott ist für uns da, Gott zeigt uns, wo es langgeht,
und Gott hilft uns aus der Patsche, wenn wir nicht weiter wissen.
Für die kleinen und großen Schritte im Leben
braucht es keine Gebrauchsanleitung, aber es braucht die Torah, es braucht das Wort Gottes.
Und zwar nicht in homöopathischen Dosen,
einmal am Anfang des Lebens als Taufspruch,
dann als Konfirmations- und dann wieder als Trauspruch.
Sondern täglich, am besten sogar mehrmals täglich,
vor oder nach den Mahlzeiten zum Beispiel.

Es braucht Gottes Wort, damit man das Vertrauen gewinnt
und das Vertrauen behält, dass Gott so für uns da ist, wie er für Mose und Josua da war.
Selbst das Volk Israel, das die Wunder sah, die Gott tat,
verlor das Vertrauen bei der Wanderung durch die Wüste.
Damit wir die Durststrecken unseres Lebens bestehen,
brauchen wir das Vertrauen auf das Wort, das uns zusagt:
„Der Herr, dein Gott, ist mit dir, wohin du auch gehst.”

Auch im kommenden Jahr wird Gott uns begleiten,
uns beistehen bei den kleinen und großen Schritten,
die wir zu gehen haben.
Er nimmt uns die Verantwortung für das Gelingen ab,
sodass wir unbedarft und fröhlich drauflos spazieren,
sodass wir auch Fehler machen dürfen.
Alles, was wir zu tun haben, ist,
uns immer wieder und regelmäßig Gottes Wort vor Augen zu stellen.
So lernen wir, mit Gottes Beistand zu rechnen und
auf Gottes Zusage zu vertrauen:
„Der Herr, dein Gott, ist mit dir, wohin du auch gehst.”