Predigt am 3. Sonntag nach Epiphanias, 26.1.2025, über Johannes 4,5-14
Liebe Schwestern und Brüder,
am Brunnen vor dem Tore steht manchmal ein Lindenbaum.
Im Schatten seines Laubes ist es kühl.
In der Hitze des Mittags lädt er ein zur Rast.
Sachte bewegen sich seine Blätter, ein feines, leises Flüstern.
Es erzählt davon, wie jemand an einem Brunnen
der Liebe seines Lebens begegnete (Gen 24).
Wie jemand in größter Not und Verzweiflung mit dem Brunnen
zugleich den lebendigen Gott fand, der mich sieht (Gen 16).
Wie eine Frau aus Sychar am Jakobsbrunnen einen rätselhaften Mann trifft:
Jesus kam in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar,
nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte.
Es war aber dort Jakobs Brunnen.
Weil nun Jesus müde war von der Reise,
setzte er sich an den Brunnen; es war um die Mittagszeit.
Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen.
Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken!
Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen.
Da spricht die samaritische Frau zu ihm:
Wie, du, ein Jude, erbittest etwas zu trinken von mir,
einer samaritischen Frau?
Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. –
Jesus antwortete und sprach zu ihr:
Wenn du erkenntest die Gabe Gottes
und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!,
du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.
Spricht zu ihm die Frau:
Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest,
und der Brunnen ist tief;
woher hast du denn lebendiges Wasser?
Bist du etwa mehr als unser Vater Jakob,
der uns diesen Brunnen gegeben hat?
Und er hat daraus getrunken und seine Söhne und sein Vieh.
Jesus antwortete und sprach zu ihr:
Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten;
wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe,
den wird in Ewigkeit nicht dürsten,
sondern das Wasser, das ich ihm geben werde,
das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden,
das in das ewige Leben quillt.
In der Mittagshitze sitzt er am Brunnen, ein Fremder,
und bittet um etwas zu trinken.
Die Frau aus Sychar hat keine Angst vor Fremden,
und auch keine Angst vor Männern.
Sie ist „so eine”, wie sich später herausstellt.
Trotzdem wundert sie sich über den Fremden.
Sie ist es gewohnt, dass solche wie er sich lieber auf die Zunge bissen,
als eine wie sie um etwas zu bitten.
Der Fremde hat offenbar auch keine Angst vor ihr.
Das weckt ihre Neugier.
Statt seiner Bitte nachzukommen, fragt sie nach:
„Wie, du erbittest etwas zu trinken von mir?”
Ihre Nachfrage zeugt von Selbstbewusstsein.
Er, der Fremde, der Feind, soll sich erklären.
Er soll spüren, dass sie keine Angst vor ihm hat.
Dass er hier der Fremde ist, der hier nichts verloren hat,
dessen Herkunft hier nichts gilt,
so, wie sie in den Augen seinesgleichen nichts gilt.
Hier hat sie zu fragen, und er hat zu antworten.
Sie bekommt ihre Antwort.
Doch der Fremde gibt sich unbeeindruckt.
Seine Antwort bedeutet der Frau,
dass sie keine Ahnung hat, mit wem sie es zu tun hat:
„Wenn du erkennen würdest,
wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!”
Der Fremde fordert sie auf, genauer hinzusehen.
Darauf zu achten, wer da eigentlich vor ihr sitzt.
Nicht nur nach dem Augenschein zu urteilen,
nach dem sie ihn als Fremden, als Feind einsortiert.
Nicht nur das Naheliegende, die Oberfläche wahrzunehmen,
sondern zu erkennen.
Das Erkennen ist nicht nur ein Sehen.
Alle Sinne sind daran beteiligt, auch Herz und Verstand.
Daraus entsteht ein zweiter Blick,
der hinter die Fassade, unter die Oberfläche schaut.
Mit dem zweiten Blick würde die Frau aus Sychar entdecken,
wie viel der Bittsteller ihr zu bieten hätte:
„Du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.”
Die Begegnung mit diesem Fremden gibt zu erkennen,
dass es jenseits des Offensichtlichen, das vor Augen steht,
noch eine andere Wirklichkeit gibt.
Doch man erkennt sie nicht, wenn man nicht einen Hinweis,
einen Fingerzeig bekommt.
Der Fingerzeig schließt die Erkenntnis auf,
ermöglicht den zweiten Blick.
Dieser Fingerzeig liegt in der Antwort Jesu:
„Du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.”
Die Frau ist verblüfft. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet -
die konnte sie nicht erwarten.
Dadurch erkennt sie, dass der Fremde anders ist.
Aber wie anders? Das will sie herausfinden.
Sie hat verstanden, dass er nicht von dem Wasser spricht,
um das er sie gerade gebeten hat.
Sie sieht, dass er nichts zum Schöpfen bei sich hat.
Der Fremde spricht von lebendigem Wasser.
Er meint, dass er mehr und besseres zu bieten hätte
als das, was der Brunnen Jakobs hergibt.
Also stellt sie sich, als würde sie seine Antwort wörtlich nehmen:
„Bist du etwa mehr als unser Vater Jakob?”
Jakob, der später Israel genannt wurde,
hatte diesen Brunnen gegraben.
Und er war auch ihrer beider Stammvater - nur,
dass die Juden sich für etwas Besseres hielten als die Samariter,
auf die sie herab sahen und mit denen sie sich nicht abgaben.
In ihrer Entgegnung findet sich nicht nur das Selbstvertrauen,
mit dem sich die Frau aus Sychar
mit dem Fremden auf eine Ebene stellt.
Es steckt auch ein Hoffnungsschimmer darin:
Vielleicht ist dieser Fremde wirklich etwas Besonderes:
Er hat keine Vorurteile, keine Berührungsängste,
er ist weder feindselig noch überheblich.
Mit ihm könnte ein anderes Verhältnis möglich werden
zwischen Juden und Samaritern.
Der Fremde scheint ihren Gedanken aufzunehmen:
„Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten.”
Der alte Jakobsbrunnen hat ausgedient.
Neues, lebendiges Wasser muss her.
Es muss, es wird sich etwas ändern.
Beziehungen können neu werden -
auch die zwischen alten Feinden.
Doch der Fremde hat anderes im Sinn:
„Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe,
den wird in Ewigkeit nicht dürsten.”
Wie schade. Der Fremde kommt nicht, um Frieden zu stiften,
ein neues Verhältnis zwischen alten Feinden.
Das Wasser, das er geben will, ist nicht nur frisch und neu.
Es kann auch etwas ganz anderes als das Trinkwasser:
Es stillt den Durst für immer.
Wie Jesus kein Wasser bei sich hat und nichts,
womit er welches schöpfen könnte,
so ist auch der Durst, den er stillt, nicht der alltägliche Durst,
den man in der Hitze des Tages empfindet.
Es gibt noch einen anderen Durst: Den Durst nach Leben.
Die Frau aus Sychar scheint ihn zu kennen.
Sie hat, wie sich herausstellt, diesen Durst nach Leben
in vielen Beziehungen zu stillen versucht,
ohne die Erfüllung der Sehnsucht zu finden, die sie in sich spürt.
Nicht nur der Körper empfindet Durst, auch die Seele.
Den Durst der Seele kann normales Wasser nicht stillen.
Dafür braucht es das lebendige Wasser, das Jesus gibt.
Es kommt nicht aus einem Brunnen,
zu dem man jeden Tag wieder gehen müsste, um es zu schöpfen.
Es kommt aus einer Quelle, die sich in einem selbst auftut;
aus der sprudelt es unerschöpflich.
Lebendiges Wasser ist anders.
Anders auch als die Quellen, mit denen wir normalerweise
den Durst nach Leben zu löschen versuchen.
Lebendiges Wasser entspringt nicht aus Wohlstand oder Konsum,
aus der Vielzahl an Waren oder der Fülle an Besitz.
Es entspringt nicht aus dem Stillen eines Verlangens,
wie es die Sucht nach Alkohol oder Zigaretten verspricht.
Lebendiges Wasser hat seinen Ursprung in Gott.
Gott ist die Fülle, darum kann diese Quelle nie versiegen.
Wenn wir dieses lebendige Wasser erhalten,
entsteht in uns eine Quelle, die den Durst nach Leben
dauerhaft löschen kann.
Sie ist ja verbunden mit dem Geber des Lebens
und quillt in das ewige Leben.
Dieses lebendige Wasser ist das Wasser der Taufe.
Mit der Taufe werden wir zu Kindern Gottes.
Sie hebt alle Unterschiede auf zwischen Juden und Samaritern,
Frauen und Männern, Reichen und Armen, Freien und Unterdrückten.
Sie erfüllt alle ausnahmslos mit Gottes Fülle,
so überschwänglich, dass sie davon überfließen.
Die Taufe ist der Fingerzeig, der uns den zweiten Blick öffnet.
Mit diesem zweiten Blick erkennen wir.
Erkennen wir, dass wir Gottes Liebe in uns tragen
unzerstörbar, unverlierbar, unverletzlich.
Sie ist die Quelle, aus der wir unseren Durst nach Leben löschen.
Eine Quelle, die überquillt, sodass wir diese Liebe weitergeben,
aus dieser Liebe leben können.
Die Frau aus Sychar weiß das alles noch nicht.
Aber sie hat erkannt, dass dieser Fremde
ihren Durst nach Leben stillen kann.
Nach der Begegnung mit ihm geht sie in die Stadt
und lädt alle ein: „Kommt und seht einen Menschen,
ob er nicht der Christus ist.”
Am Brunnen vor dem Tore steht manchmal ein Lindenbaum.
Im Schatten seines Laubes ist es kühl.
In der Hitze des Mittags lädt er ein zur Rast.
Sachte bewegen sich seine Blätter, ein feines, leises Flüstern.
In seinem Schatten träumt man.
Man träumt davon, den Durst nach Leben löschen zu können.
So träumte einst auch Jakob (Gen 28).
Er sah im Traum eine Leiter, die reichte bis in den Himmel.
Die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
Und er hörte Gottes Stimme, die ihm sagte:
„Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.
Ich will dich nicht verlassen,
bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.”