Sonntag, 19. Januar 2025

jemand, mit der man gern befreundet wäre

Predigt am 2. Sonntag nach Epiphanias, 19.1.2025, über Römer 12,9-16


Liebe Schwestern und Brüder,


„Wo man hobelt, fallen Späne.

Leichen schwimmen in der Seine.

An dem Unterleib der Kähne

sammelt sich ein zäher Dreck.


An die Strähnen von den Mähnen

von den Löwen und Hyänen

klammert sich viel Ungeziefer.

Im Gefieder von den Hähnen

nisten Läuse; auch bei Schwänen.

(Menschen gar nicht zu erwähnen,

denn bei denen geht’s viel tiefer.)


Nicht umsonst gibt’s Quarantäne.


Allen graust es, wenn ich gähne.

Ewig rein bleibt nur die Träne

und das Wasser der Fontäne.


Kinder, putzt euch eure Zähne!!”


Mit „Ernster Rat an Kinder” überschreibt Joachim Ringelnatz dieses Gedicht,

eine Persiflage auf die vielen Ratschläge, die ein Kind zu hören bekommt.

„Ratschläge sind auch Schläge”, heißt es,

weil sie von der Warte des Überlegeneren, Erfahreneren, Klügeren erteilt werden

und man sie schlucken soll die wie sprichwörtliche Pille, 

die bitter schmecken muss, damit sie wirkt.


Als Kind gewöhnt man sich an, die Ohren auf Durchzug zu schalten,

wenn man Ratschläge erteilt bekommt.

Das ist fahrlässig, denn Eltern und andere Erwachsene

erteilen ihren Rat ja nicht ohne Grund: Sie machen sich Sorgen.

Sie sehen eine Gefahr, von der das Kind nichts ahnt -

nichts ahnen kann, weil es die Erfahrung noch nicht gemacht hat.


Auch die Eltern waren mal Kinder.

Da haben sie auf die Ratschläge ihrer Eltern genauso reagiert

wie ihre Kinder: die Ohren auf Durchzug geschaltet.

Und anschließend die Erfahrungen machen müssen,

vor denen ihre Eltern sie bewahren wollten.


Wenn Ratschläge nichts nützen,

weil jede:r selbst seine und ihre Erfahrungen machen will, machen muss,

warum lässt man sie dann nicht einfach bleiben?


Die Sorge um die Kinder hatte ich schon erwähnt,

die Eltern zu Ratschlägen bewegt.

Manchen geht es vielleicht ums Rechthaben: „Ich hab’s dir ja gesagt!”,

heißt es triumphierend oder vorwurfsvoll, 

wenn man dem Ratschlag nicht gefolgt ist.

Manche können vielleicht nicht anders,

als ihr Wissen und ihre Erfahrung auch ungebeten weiterzugeben.


Vielleicht ist es auch einfach die Liebe zu ihren Kindern,

die Eltern zu Ratschlägen bewegt.

Sie wissen doch um das Dilemma, dass ihre Ratschläge nichts nützen.

Eltern können ihre Kinder nicht davor bewahren, 

ihre eigenen Erfahrungen zu machen - 

sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen.

Aber weil sie ihre Kinder lieben, würden Eltern ihnen Schmerzen und Leid,

die zu so vielen Erfahrungen dazu gehören, so gern ersparen.


Wie ist es mit den Ratschlägen, die Paulus gibt?

Erinnern Sie sich noch, was er der Gemeinde in Rom geraten hat,

vorhin, in der Epistel?

Oder haben Sie, wie ich, aus alter Gewohnheit auf Durchzug geschaltet?

Paulus’ Ratschläge reimen sich nicht so schön wie bei Ringelnatz.

Sie sind auch nicht so ungewöhnlich, dass man aufhorchen würde.

Es sind die Art von Ermahnungen, 

die man von einem wie Paulus erwarten würde.


Was bewegt Paulus dazu, der Gemeinde in Rom Ratschläge zu erteilen?

Es ist eine Gemeinde, die er noch nicht kennt -

er möchte sie unbedingt besuchen,

und der Brief, den er dieser Gemeinde schreibt, soll ihm dort Türen öffnen.

Ist es da klug, der Gemeinde mit Ratschlägen zu kommen?


Möglicherweise folgt er nur einer Gewohnheit.

Fast alle Briefe des Neuen Testaments enden mit Ermahnungen.

Offenbar war es üblich. Vielleicht wurde es erwartet,

dass der Absender am Ende ein paar gute Ratschläge für die Gemeinde hat - 

und Paulus möchte mit seinem Bewerbungsschreiben nicht enttäuschen.


Wenn das so gewesen sein sollte,

müssten seine Ermahnungen ziemlich allgemein gehalten sein - 

er kannte die Gemeinde in Rom ja noch nicht. Und so scheint es auch: 

Da ist nichts, was auf eine besondere Situation schließen ließe.

Paulus schreibt, was man als Christ eben so schreibt.


Aber eins wird deutlich, wenn man sich seine Ratschläge ansieht:

Zusammengenommen zeichnen sie das Bild eines Menschen,

der, befolgte er oder sie diese Ratschläge, richtig nett wäre, 

überaus sympathisch; mit dem, mit der wäre man gern befreundet:


- Jemand, der Gutes gut und Böses böse nennt,

  sich für das Gute und gegen das Böse einsetzt.

- Jemand, die freundlich zu allen ist, respektvoll, aufgeschlossen;

  die keinen Dünkel kennt. 

- Jemand, die sieht, wo etwas zu tun ist, wo ihre Hilfe benötigt wird,

  und dann gern mit anpackt.

- Jemand, der begeisterungsfähig ist und andere begeistern kann. 

- Jemand, die auf wohltuende Weise fromm ist,

  ihren Glauben lebt, ohne sich damit zu brüsten oder andere auszugrenzen,

- Jemand, der die Hoffnung nicht aufgibt, anderen Mut macht mit seiner Zuversicht.

- Jemand, der sich von Kummer, von Sorge und Leid nicht klein kriegen lässt.

- Jemand, die regelmäßig betet, nicht nur für sich selbst, auch für andere.

- Jemand, die Bedürftigen hilft durch Spenden und durch die Tat.

- Jemand, der eine offene Tür und ein Bett für Gäste hat.

- Jemand, die nachsichtig gegenüber ihren Gegnern ist, 

  die Fehler verzeiht, nicht nachtritt oder nachtragend ist.

- Jemand, der zu feiern versteht und Feste ausrichten kann,

  und der mit Trauernden die Leere, Verzweiflung und Trostlosigkeit aushält.

- Jemand, dem es nichts ausmacht, sich zu bücken, 

  sich zurückzunehmen, sich klein zu machen.

- Und schließlich jemand, die um ihre eigenen Grenzen weiss 

  und humorvoll damit umgeht.


Eine beeindruckende, eine einschüchternde Liste.

Bei dem einen oder anderen denkt man sich:

Das tue ich auch, das kann, das bin ich auch.

Aber alles zusammen - wohl niemand wird von sich behaupten,

dass er oder sie die ganze Liste erfüllt.

Es wäre eine Überforderung, wollte man versuchen, das alles zu beherzigen;

dann hätte man nichts anderes mehr zu tun.


Ich denke auch nicht, dass Paulus der Meinung ist,

wir alle sollten dieser „Jemand” sein, jede und jeder einzelne von uns.

Im Zusammenhang mit dieser Liste von Ratschlägen

spricht Paulus von Gaben, die es in der Gemeinde gibt,

und dass sie unterschiedlich verteilt sind:

Niemand hat alle Gaben, und niemand hat keine.


Es könnte also sein, dass hier keine Forderungen aufgestellt werden,

wie man als Christenmensch zu leben und zu sein hat.

Sondern dass Paulus hier Eigenschaften aufzählt,

die man unter uns finden kann, wie jede und jeder von uns Gaben hat.


Wenn die Eigenschaften, die in dieser Liste aufgezählt werden,

unter uns verteilt sind, dann existiert dieser Jemand;

dann ist das nicht nur ein unerfüllbares Ideal.

Sie ahnen sicher schon, wer dieser Jemand ist:


Die Gemeinde ist dieser Jemand.

In der Gemeinde finden sich alle diese Gaben vereint,

wird in der Summe all das verwirklicht, was Paulus aufzählt.

Damit ist die Gemeinde diejenige, die richtig nett ist, sehr sympathisch; 

jemand, mit der man gern befreundet wäre.


Das scheint mir Paulus’ Ziel zu sein:

Die Gemeinde zu einem Ort zu machen, an dem man sich gern aufhält,

weil einem hier Mitmenschlichkeit und Freundlichkeit begegnen;

weil man hier willkommen ist und willkommen geheißen wird;

weil man hier dazugehören darf und dabei so bleiben darf, wie man ist.

Mit einem Wort: Weil man hier Liebe erfährt.


Alle die Ratschläge, die Paulus gibt, alle seine Ermahnungen

kann man auch als Facetten der Liebe verstehen,

die er an den Anfang seiner Liste stellt.

Wenn man von dieser Liebe beseelt ist,

braucht man sich nicht anzustrengen, freundlich zu sein,

hilfsbereit, einfühlsam, mitleidend, nachsichtig.

Das alles bringt die Liebe aus sich hervor.


Die Liebe ist die einzige Kraft, die einzige Energie,

die sich nicht aufbraucht, wenn man sie verschenkt, sondern immer mehr wird.

Sie speist sich aus einer unerschöpflichen Quelle:

Aus Gott, der die Liebe ist.

Gottes Liebe ist die Fülle, die uns erfüllt.

Diese Fülle fließt von uns auf andere über.

Durch uns alle gemeinsam wird die Gemeinde zu einem sympathischen Ort,

an dem sich alle zuhause fühlen können, jede und jeder willkommen ist.