Predigt am 2. Sonntag nach dem Christfest, 5.1.2025, über 1.Johannes 5,11-13
Das ist der Beweis: Gott gab uns ewiges Leben,
und dieses Leben besteht in seinem Sohn.
Wer den Sohn hat, hat das Leben.
Wer den Sohn nicht hat, hat das Leben nicht.
Das habe ich geschrieben, damit ihr,
die ihr an den Namen des Sohnes Gottes glaubt, wisst,
dass ihr ewiges Leben besitzt.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?“,
soll Friedrich der Große seinen Soldaten hinterher gerufen haben,
die lieber flohen, als sich in einer aussichtslosen Schlacht totschießen zu lassen.
Wollt ihr ewig leben?
Das war für die Soldaten damals keine Frage.
Ihnen ging es nur ums Überleben - ein Kampf, den viele von ihnen
damals auch außerhalb des Schlachtfeldes führen mussten.
Wenn das Leben selbst auf dem Spiel steht,
kommt niemand auf die Idee, über das ewige Leben nachzudenken.
Es ist eine rein theoretische Frage.
Wir wissen, dass wir nicht ewig leben können.
Man stellt sich solche Fragen nur,
wenn man Zeit und Lust hat, über alles mögliche nachzudenken,
auch über Unrealistisches oder Unmögliches.
Jetzt z.B. wäre Zeit dazu.
Darum frage ich Sie und mich: Wollen wir ewig leben?
Ewig leben - das klingt erst einmal verlockend:
Keine Angst mehr vor dem Tod haben zu müssen
wäre schön und erstrebenswert.
Endlos Zeit haben für alle Hobbies;
alles ausprobieren, alle Pläne und Ideen verwirklichen können;
alle Orte besuchen, die man immer schon mal kennenlernen wollte;
alle Serien im Fernsehen sehen können, alle Bücher lesen,
alle Musikstücke hören oder selber spielen,
alles tun, was man immer schon mal tun wollte.
Sich nicht entscheiden müssen, ob man lieber das eine tut oder das andere,
weil man beides tun kann, nacheinander.
Aber dann fällt mir der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier” ein,
in dem Bill Murray den selben Tag in einer Endlosschleife erleben muss,
immer und immer wieder.
Bei den vielen Wiederholungen desselben Tages lernt er u.a. Klavier spielen,
und er lernt alle Bewohner:innen der Kleinstadt Punxsutawney
quasi persönlich kennen, einschließlich ihrer Macken und täglichen Routinen.
Aber er kommt aus dieser Schleife nicht mehr heraus.
Jeden Morgen wacht er zur selben Melodie des Radioweckers auf.
„Ewig”, das sind ja nicht bloß ein paar Jahre oder Jahrzehnte mehr -
„ewig” hat kein Ende, ist eine unendliche Anzahl von Jahren.
Irgendwann hat man alles getan, was man tun wollte.
Irgendwann hat man alles gesehen, erlebt, was man sehen und erleben wollte.
Irgendwann ist es genug.
Aber „ewig” kennt kein „genug”.
Wenn man es so betrachtet, ist „ewig” nichts Verlockendes, sondern ein Fluch.
Aber kommen wir noch einmal darauf zurück,
was „ewig” für uns zu einer guten Idee gemacht hat:
Das waren alles Dinge, die wir gern tun oder tun würden,
schöne Dinge, Dinge, auf die wir neugierig sind.
Niemand wünschte sich, ewig zur Arbeit zu gehen,
ewig einen Stein einen Berg hinauf zu rollen wie Sisyphus,
ewig krank oder bettlägerig sein.
Was wir uns ewig wünschen,
sind die erfüllten und erfüllenden Momente im Leben,
von denen wir mit Faust sagen würden: „Verweile doch, du bist so schön!”
Wenn man es so versteht, beschreibt „ewiges Leben” keine unendliche Zeit,
sondern ein Leben, das lebenswert ist, weil es schön ist,
weil es das eigentliche, das wahre Leben ist.
Für Johannes ist dieses wahre Leben eine Person: Jesus Christus:
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben”, sagt Jesus von sich (Joh 14,6),
und: „Ich bin das Brot des Lebens” (Joh 6,35).
Jesus ist der, der lebendiges Wasser gibt, von dem man nie wieder durstig wird,
weil es in einem selbst zu einer Quelle wird (Joh 4,10.14).
Darum schreibt Johannes:
„Dieses Leben besteht in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben.”
Auf der einen Seite steht das Leben, das für uns wahres, erfülltes Leben ist.
Auf der anderen Seite steht Gottes Sohn, der selbst das wahre, das ewige Leben ist.
Sind das zwei Seiten einer Medaille,
oder schließen sich unser wahres Leben und Christus, das ewige Leben, gegenseitig aus?
Was für uns wahres Leben ist, sind Dinge, die wir schön finden,
die wir uns erträumen, die wir gern tun würden.
Was ich schön oder erstrebenswert finde, muss es für Sie nicht sein.
Es ist sogar höchst wahrscheinlich,
dass unsere Ansichten davon, was „wahres” Leben ist,
was wir als schön und erfüllend empfinden,
sich sehr voneinander unterscheiden;
dass wir dabei kaum auf einen gemeinsamen Nenner kämen.
Uns allen gemeinsam ist, dass das, was wir als „wahres Leben” ansehen,
etwas ist, was uns als Einzelne betrifft,
auf jede und jeden von uns allein bezogen ist -
auch dann, wenn es dafür einen anderen Menschen braucht.
Bei dem, was wir als wahres Leben empfinden, geht es nur um uns.
Christus dagegen ging es überhaupt nicht um sich.
Ihm ging es um die Liebe, und die ist immer eine Sache von zweien.
Christus hat Gott als Liebe verkündigt und hat so gelebt,
dass er Beziehungen gestiftet oder ermöglicht hat:
Er wandte sich Menschen zu,
die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden waren
oder nicht dazugehören durften.
Er scharte einen Kreis von Jüngerinnen und Jüngern um sich,
die er lehrte, als Gemeinschaft zu leben und miteinander auszukommen.
Nach seiner Auferstehung gründeten sich Gemeinden;
bis heute ist das die Form, in der wir unseren christlichen Glauben leben.
Das wahre Leben, das Christus ist, ist die Gemeinschaft;
darum wird die Gemeinde auch der „Leib Christi” genannt.
Und darum kann Johannes sagen, dass wir das ewige Leben besitzen:
Wir besitzen es, weil wir zur Gemeinde Jesu Christi gehören.
Wir hier zusammen: das ist das wahre, das ewige Leben.
Nun geht es nicht darum, wer hier neben wem sitzt,
ob wir unsere Sitznachbarin, unseren Banknachbarn kennen oder mögen -
das wären alles wieder Kriterien, bei denen es sich nur um uns dreht.
Es geht vielmehr darum, dass wir eine Gemeinde sind,
und als Gemeinde der Leib Christi.
Das bedeutet: hier kann man Christus begegnen,
weil wir ihn gemeinsam und gegenseitig füreinander verkörpern.
Christus begegnet uns in der Liebe, die uns als Gemeinde verbindet.
Nicht, dass wir uns alle lieb hätten, alle mögen würden oder mögen müssten.
Sondern indem die Liebe die Richtschnur ist, die unser Miteinander bestimmt.
So, wie Christus Gottes Liebe ausbreitete und lebte,
bemühen wir uns um Liebe zueinander und zu unseren Mitmenschen,
um Nächstenliebe.
Das gelingt uns nicht so vollkommen, wie Christus diese Liebe gelebt hat.
Das kann es nicht, und das muss es auch nicht.
Das, was für uns wahres Leben ist, und das wahre Leben, das Christus ist,
stehen in einer gewissen Spannung zueinander,
so wie die Selbstliebe und die Nächstenliebe in einer Spannung zueinander stehen.
Nächstenliebe geht nicht ohne Selbstliebe -
ich kann nicht für andere da sein, für andere sorgen,
wenn ich nicht zuvor für mich gesorgt habe.
Wer erschöpft ist - wie soll der anderen helfen können?
Wer todmüde ist - wie soll die anderen zuhören können?
Wer sich selbst hasst - wie soll der andere davon überzeugen, dass sie liebenswert sind?
Und Selbstliebe geht nicht ohne Nächstenliebe.
Wir Menschen sind gesellige Lebewesen.
Wir können eine zeitlang allein sein,
aber wir brauchen einander, wir brauchen ein Gegenüber.
Das muss auch Bill Murray in „Täglich grüßt das Murmeltier” feststellen.
Nachdem er alles ausprobiert, alles nur erdenkliche für sich getan hat,
ohne der Schleife der Wiederholungen des selben Tages entkommen zu können,
fängt er an, nett zu anderen zu sein, ihnen Gutes zu tun, ihnen zu helfen.
Eines Tages kommt ein Tag, an dem er überhaupt nichts mehr für sich will,
sondern einfach genießt, was er für andere und mit anderen tun kann.
Der folgende Morgen ist ein neuer Tag;
Bill Murray ist aus der unendlichen Schleife des ewig selben Tages befreit.
Der Film vermittelt die Moral, dass man kein zynisches Ekel,
sondern freundlich zu seinen Mitmenschen sein soll.
Johannes hat keine solche Moral im Sinn.
Seine Feststellung, dass wir das ewige Leben besitzen,
hebt keinen moralischen Zeigefinger,
wir müssten nun zu unseren Mitmenschen freundlich und hilfsbereit sein.
Vielmehr stellt er fest, dass wir Jesus da begegnen,
wo die Liebe unser Handeln bestimmt,
und dass in der Liebe das wahre, das ewige Leben besteht.
Denn „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt,
der bleibt in Gott, und Gott in ihm” (1.Joh 3,16).