Sonntag, 16. März 2025

hinsehen

Predigt am 2. Sonntag der Passionszeit, Reminiszere, 16.3.2025, über Johannes 3,14-21

Liebe Schwestern und Brüder,

Mose erhöhte die Schlange in der Wüste - wer die Geschichte nicht kennt, auf die Jesus anspielt, der, dem muss dieser Satz sonderbar vorkommen. Deshalb eine kurze Erinnerung: Das Volk Israel, das unter Moses Führung aus Ägypten geflohen war, musste sehr lange durch die Wüste wandern. Auf dieser Wanderung versorgte Gott das Volk mit Manna, das sie jeden Tag einsammelten. Immer wieder einmal hatte das Volk die Wüste und das eintönige Essen satt. Es machte dann seinem Ärger mit drastischen Worten Mose gegenüber Luft: „Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist weder Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise“ (4.Mose 21,4-9). Doch diesmal waren sie zu weit gegangen. Oder es war dieses Murren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: „Da,“ so heißt es, „sandte Gott feurige Schlangen, die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben.

Auf den ersten Blick scheint es, als ließe Gott sein Volk sterben, weil es undankbar ist. Gott - gekränkt von Undankbarkeit, genervt vom Murren? Manche Eltern werden ihren Kindern gegenüber laut und ausfallend, wenn die mit ihrem Gequengel nicht aufhören: Ich mag das nicht. Mir ist langweilig. Wann sind wir endlich da. Aber sie verstehen auch, dass Kinder noch nicht so viel Geduld haben, sich schnell langweilen, nicht so lange still sitzen können. Darum tut es ihnen hinterher leid, wenn sie ihr Kind angeblafft haben. Was wäre Gott für ein Vater, wenn er Undankbarkeit und Gequengel mit dem Tod bestrafte?

Die feurigen Schlangen führen eindrücklich vor Augen, was Worte anrichten können. „Lügen haben kurze Beine“, heißt es. Manchmal haben sie gar keine: Wenn man sie gern hört, wenn sie die eigenen Ansichten bestätigen, schlängeln sie sich mühelos durch unsere Ohren in Herz und Hirn. Andererseits können Kritik oder Herabwürdigungen, wenn man sie immer wieder hört, wie Feuer brennen, können Lebensfreude nehmen, sogar töten, z.B. „Du bist zu fett“, oder „Du taugst nichts, aus dir wird nie etwas werden.“ Auch ständiges Murren und Meckern schafft ein Klima, das krank machen kann. In unserem reichen, gut funktionierendem, freien Land wird auf hohem Niveau gejammert. Es gibt so viel Unzufriedenheit, die in Hass umgeschlagen ist - Hass auf Fremde und Andersdenkende, anders Leben- und Liebende. Hass, der diese Anderen mit Worten kränken und verletzen will und der damit den Weg dafür bereitet, diese Anderen auch mit Taten auszugrenzen und wegzuschaffen.

Worte verletzen, brennen und beißen wie feurige Schlangen. Wie wird man diese Schlangen wieder los? Nun, zuerst durch die Einsicht, dass man Unrecht getan hat: „Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben.“ Das Volk Israel bittet Gott durch Mose um Hilfe gegen die feurigen Schlangen. Und Gott zeigt Mose, wie das Volk gegen den Biss der Schlangen immun wird: Es soll auf eine bronzene Schlange blicken, die Mose an einem Stab hochhält. Das ist mit der „Erhöhung der Schlange“ gemeint. Die Rettung für das Volk besteht darin, dass es sich ansieht, was es krank gemacht und getötet hat. Die Schlange ist das Symbol für die giftigen Kommentare, den beißenden Spott, das vergiftete Lob, die brennende Scham, die Worte auslösen können. Die Israeliten sollen sich ansehen, was sie getan haben und was sie lassen müssen, wenn sie leben wollen.

Ebenso,“ sagt Jesus, „muss der Menschensohn erhöht werden.“ Eine zynische Formulierung, wenn sie nicht von Jesus selbst käme. Denn mit der Erhöhung ist zunächst das Kreuz gemeint, an das Jesus geschlagen wird. Das ihn den verächtlichen Blicken und dem Spott preisgibt. Und wie die Schlange an Moses Stab symbolisiert, was wir einander mit Worten antun, so symbolisiert das Kreuz, was Menschen einander an Leid und Qualen antun. Das Kreuz erinnert uns an die Bosheit, die Gemeinheit, die Unmenschlichkeit, zu denen jede und jeder von uns fähig ist und die jede jeder schon von uns schon einmal verübt hat. 

Man müsste vor Scham über die eigene Schuld vergehen, wenn man sich das Leiden dieses Unschuldigen, dieses Friedfertigen und Liebevollen am Kreuz vergegenwärtigt: „Ach das hat unsre Sünd und Missetat verschuldet, was du an unsrer Statt, was du für uns erduldet. Ach unsre Sünde bringt dich an das Kreuz hinan; o unbeflecktes Lamm, was hast du sonst getan?“ dichtet Adam Thebesius (EG 87).

Doch dazu müsste man wagen, hochzublicken auf das Kreuz, das einem die Bösartigkeit der Welt und die eigene Bosheit vor Augen stellt. Wie soll man diesen Anblick aushalten? Darum meiden böse Taten das Licht, das sie aufdeckt. Nicht nur, um in der Heimlichkeit das Böse zu tun, das man im Licht und vor aller Augen gar nicht tun könnte - jede Art von Lüge und Betrug, die üble Nachrede, das Ränkespiel. Sondern auch, weil man sich dann ansehen müsste, was man getan hat. Auch in denen, die keinen Gott über sich wissen, die niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig sind, gibt es das Bewusstsein, dass ihr böses Tun Unrecht ist - sonst täten sie es nicht heimlich.

Wie also kommt man zu der Erkenntnis, die Adam Thebesius formuliert: „Ach das hat unsre Sünd und Missetat verschuldet?“ Und woher gewinnt man den Mut und die Kraft, die eigenen Taten anzusehen und zu seiner Verantwortung zu stehen? Jesus sagt: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er sie richte, sondern dass sie durch ihn gerettet werde.“ Jesus ist nicht gekommen, um unsere Schuld aufzudecken, uns bloßzustellen und zu verurteilen. Sondern um alle Schuld auf sich zu nehmen und sie dadurch zu vergeben. Die Schuld, die wir uns ansehen, wurde uns nicht angerechnet - darum können wir sie ansehen und verantworten, darum kann sie ans Licht kommen.

Damit wir die Vergebung unserer Schuld erfahren, muss Jesus erhöht werden. Diesmal ist nicht die Erhöhung ans Kreuz gemeint, sondern die Auferstehung, die Erhöhung „zur Rechten Gottes“. Mit der Auferstehung ist der Tod vernichtet, ist auch alle Schuld getilgt. Jesus setzt sie außer Kraft, sodass sie ihre Macht über uns verliert: Wir sind nicht identisch mit dem, was wir getan haben, und wir sind nicht gezwungen, es zu wiederholen.

Wer das für sich annehmen kann, kann zum Kreuz hinauf sehen und das Leben gewinnen. Das Leben, in dem wir immer wieder schuldig werden und es jedes Mal neu und anders versuchen dürfen. Wir dürfen schuldig werden. Versuch und Irrtum ist die Art, wie wir leben und lernen. Darum müssen wir uns nicht verstecken und auch nicht das, was wir tun. Wir können unsere Fehler in aller Öffentlichkeit begehen, unsere Erfolge öffentlich feiern. Kein strenger, eifersüchtiger und gekränkter Richter blickt vom Himmel auf uns herab, der unerbittlich jeden kleinsten Lapsus penibel bemerkt und mit uns abrechnet. Sondern Gott, der wie eine liebevolle Mutter, ein liebevoller Vater wünscht, dass wir glücklich sind, der um unsere Schwächen weiß - und uns trotzdem, oder gerade deshalb, unendlich liebt. Wer in diesem Bewusstsein lebt, wird „die Wahrheit tun“, d.h. immer wieder und immer mehr versuchen so zu leben, wie Gott es sich für uns wünscht: In Ehrfurcht vor Gott und seiner Schöpfung; in Liebe zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst. Von dieser Ehrfurcht, dieser Liebe erfüllt, ist man nicht unfehlbar, handelt man nicht immer richtig. Doch im Licht der Auferstehung Jesu „wird offenbar, dass alle unsere Werke in Gott getan sind.