Sonntag, 2. März 2025

sich irritieren lassen

Predigt am Sonntag vor der Passionszeit Estomihi, 2.3.25, über Lukas 10,38-42

Liebe Schwestern und Brüder,

meine Großmutter hieß tatsächlich Martha:

Martha Stottmeister, geb. Kriege.

An ihrem Geburtstag lud Oma Martha die Verwandten zum Mittagessen ein.

Wenn es an der Tür klingelte, kam sie aus der Küche geeilt,

wischte sich die Hände an der Schürze trocken 

und führte die Gäste ins Wohnzimmer.

Danach ging sie zurück in die Küche.

Im Wohnzimmer unterhielten sich die Erwachsenen,

und wir Kinder spielten möglichst leise - jedenfalls anfangs.

Dann trug Martha die Suppe auf, alle setzten sich an den Tisch und aßen.

Martha räumte ab und brachte das Hauptgericht;

dabei half ihr meine Mutter oder eine der Tanten.

Während alle noch aßen, sprang Martha schon wieder auf,

um den Nachtisch vorzubereiten.

Wenn der Nachtisch abgeräumt war

und es sich alle satt und zufrieden

auf Sofa und Sesseln bequem machten,

verschwand Martha in der Küche, um abzuwaschen.

Nach dem Abwasch deckte sie den Tisch fürs Kaffetrinken ein,

und dann war es schon wieder Zeit,

die Sahne zu schlagen, den Kuchen anzuschneiden und Kaffee zu kochen.

„Herr, fragst du nicht danach,

dass mich meine Schwester lässt allein dienen?

Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!”

Meiner Oma wäre es nie eingefallen, um Hilfe zu bitten.

Und keiner von uns - außer ihre Töchter -

fühlte sich verpflichtet, ihr zur Hand zu gehen.

Wir empfanden es als selbstverständlich,

dass sie uns bekochte und bediente,

und meine Oma offenbar auch.

Auch meine Mutter stand an ihrem Geburtstag in der Küche,

um das Essen für ihre Gäste vorzubereiten.

An unseren Geburtstagen und dem unseres Vaters sowieso,

ebenso an allen Feiertagen.

Meine Mutter hatte nie frei, wenn wir frei hatten.

Und wie ihre Mutter wäre sie nie auf den Gedanken gekommen,

ihren Mann oder uns Kinder um Hilfe zu bitten.

Offenbar braucht Martha für ihren Einwand Mut -

und eine Irritation, die sie überhaupt in die Lage versetzt,

das scheinbar Selbstverständliche infrage zu stellen.

Denn wenn man es gewohnt ist und als seine Pflicht ansieht,

dass man das Essen vorbereitet 

und zwischen Küche und Esstisch hin und her eilt,

während alle anderen gemütlich sitzen und sich unterhalten,

weil das die Mutter und die Großmutter schon so machten,

kommt man gar nicht auf die Idee,

dass es auch anders gehen könnte.

Dass Frauen den Haushalt führten,

die Kinder und ihren Ehemann versorgten,

galt über Jahrhunderte quasi als gottgewollt.

Immer wieder gab es Ausnahmen: Die Marias,

die sich nicht so verhielten, wie es von ihnen erwartet wurde.

Die Marias brachten Frauen und Männer nicht dazu,

über ihre Lage, ihre Rollen zu sprechen und nachzudenken.

Wenn jemand sich nicht so verhielt, 

wie man es erwartete und wie es sich gehörte, 

war er oder sie ein Störenfried, den man missbilligte, 

der sich unterordnen, sich wieder einfügen musste.

Das änderte sich erst in der Neuzeit.

Inzwischen haben wir zumindest theoretisch gelernt,

dass - bis auf das Kinderkriegen und das Stillen -

die Familien- und Hausarbeit 

von beiden Geschlechtern verrichtet werden kann.

Ja, dass das Geschlecht dabei überhaupt keine Rolle spielt.

Nach dem Tod meiner Oma erzählte mir meine Mutter,

dass Martha davon geträumt hatte, Lehrerin zu werden.

Sie war eine sehr gute Schülerin gewesen, wissbegierig und intelligent.

Aber für ein Mädchen aus dem Dorf

war eine solche Laufbahn nicht vorgesehen.

Als erstrebenswert galt es, einen möglichst reichen Bauern zu heiraten,

einen Sohn zur Welt zu bringen, der den Hof einst übernehmen würde,

und Töchter, die im Haus und auf dem Hof mithalfen.

„Maria hat das bessere Teil erwählt.

Das soll nicht von ihr genommen werden.”

1983 kam der Film Yentl in die Kinos.

Darin spielt Barbara Streisand die Tochter eines Rabbis,

die von ihrem Vater zuhause im Talmud unterrichtet wird.

Nach dem Tod ihres Vaters möchte sie gern weiter lernen,

das aber ist nur den Männern vorbehalten.

Also kleidet und verhält sie sich wie ein Mann,

um mit den anderen jungen Männern in die Schul gehen zu können

und den Talmud zu studieren.

Als Mann kann Yentl studieren.

Warum kam 1983, als die Emanzipation fast schon kein Thema mehr war,

dieser Film in die Kinos?

Warum wird dieses Thema einer Frau,

die als Frau nicht tun kann, was Männer tun dürfen,

die in ihrer Rolle und ihren Pflichten gefangen ist,

immer wieder in Filmen behandelt, bis heute? 

Frauen müssen sich heute nicht mehr als Männer kleiden und sich verstellen,

um studieren zu dürfen.

Aber nach wie vor wird aus dem kleinen Unterschied abgeleitet,

dass Männer und Frauen verschiedene Aufgaben haben.

Und es gibt viele, die das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen möchten,

nicht nur in den Vereinigten Staaten.

Die Marias und Yentls stellen althergebrachte Rollen,

Traditionen und Institutionen infrage.

Nicht, weil sie sie zerstören wollen.

Sondern weil sie darunter leiden.

Denn sie verhindern, dass sie ihr eigenes Leben leben,

ihren Neigungen, ihren Fähigkeiten, ihrem Herzen folgen.

Indem sie sich anders verhalten, als man es von ihnen erwartet,

zeigen sie uns, dass Veränderung möglich ist

und nicht alles bleiben muss, wie es ist.

Ihr Beispiel lehrt uns, dass auch wir die Rollen nicht ausfüllen müssen,

in die wir hineingewachsen sind,

die Erwartungen nicht erfüllen müssen, die damit verbunden sind.

Die Irritation, die von ihnen ausgeht,

lässt uns unsere Möglichkeiten und Spielräume erkennen.

Maria ist die Irritation, die Martha überhaupt auf die Idee bringt,

sich bei Jesus zu beklagen und um Hilfe zu bitten.

Maria, die sich nicht so verhält, wie es ihrer Rolle als Frau entspricht.

Sie nimmt die Rolle eines der Jünger ein.

Weil Maria aus der Rolle fällt, bringt sie Martha zum Nachdenken.

„Maria hat das bessere Teil erwählt.

Das soll nicht von ihr genommen werden.”

Das bessere Teil - das bedeutet nicht,

dass Maria sich vor dem Küchendienst drücken will.

Während Martha schwitzt, weil sie in der Küche für zwei schuftet,

leidet auch Maria.

Das sieht man ihr nur nicht an.

Die Geschichte erzählt davon,

dass Maria Jesus zu Füßen sitzt und ihm zuhört.

Es wird aber nicht berichtet, worüber Jesus spricht.

Das könnten ihr hinterher die Jüngern erzählen,

dazu müsste sie nicht Martha in der Küche allein lassen.

Es kommt wohl nicht darauf an, was Jesus sagt.

Sondern darauf, dass es Jesus ist, der es sagt.

Jesus steht bevor, hinaufzugehen nach Jerusalem. 

Dort wird alles vollendet werden, 

was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.

Maria weiß, wohin Jesu Weg ihn führt,

und sie weiß, wie er enden wird.

Darum will sie jetzt bei ihm sein, nicht in der Küche.

Maria spürt, wie wertvoll und einmalig dieser Augenblick ist

und will ihn um nichts in der Welt verpassen.

Wir verpassen so viele einmalige, unwiederbringliche Gelegenheiten,

wenn wir tun, was angeblich unsere Pflicht ist, was man von uns erwartet,

statt das zu tun, was unser Herz uns gebietet.

Meine Oma wollte an ihrem Geburtstag ihren Gästen eine Freude machen.

Sie war so glücklich über den Besuch, und das zeigte sie,

indem sie ihre Gäste verwöhnte.

Doch dadurch hatten ihre Gäste nichts von ihr,

und sie nichts von ihren Gästen.

Meine Oma konnte damals nicht anders handeln,

weil sie es nicht anders kannte.

Es wird trotzdem ein schöner Geburtstag gewesen sein,

weil es allen geschmeckt und alle sich wohlgefühlt hatten.

Aber meine Oma wird beim Abschied eine leise Wehmut gespürt haben,

weil sie so wenig Zeit mit uns verbringen konnte.

Wir leben so, als hätten wir unendlich viel Zeit.

Und so ist es auch.

Als Kind spürt man noch, wie lange eine einzige Stunde dauern kann.

Zugleich ist unsere Zeit begrenzt.

Zum Glück wissen wir nicht um diese Grenze.

Wir leben mit dem Gefühl,

dass wir morgen erledigen werden,

was wir heute nicht besorgen können.

Dadurch beschäftigen wir uns mit oberflächlichen Dingen

und versäumen das Wesentliche: 

die Zeit, die wir miteinander haben.

Martha sollte den Herd ausschalten,

sich die Schürze abbinden

und sich zu Jesus und Maria setzen.

Später gehen sie vielleicht gemeinsam in die Küche

und kochen das Essen zuende.

Oder sie nehmen sich etwas Brot und Wein,

wie wir das gleich tun werden,

und feiern diesen einzigartigen, unwiederbringlichen Moment,

den sie miteinander haben.