Predigt am Sonntag Kantate, 18. Mai 2025, über die Kantate „Der Herr ist mein getreuer Hirt” von Johann Sebastian Bach, BWV 112
Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Hält mich in seiner Hute,
Darin mir gar nichts mangeln wird
Irgend an einem Gute,
Er weidet mich ohn Unterlass,
Darauf wächst das wohlschmeckend Gras
Seines heilsamen Wortes.
Zum reinen Wasser er mich weist,
Das mich erquicken tue.
Das ist sein fronheiliger Geist,
Der macht mich wohlgemute.
Er führet mich auf rechter Straß
Seiner Geboten ohn Ablass
Von wegen seines Namens willen.
Und ob ich wandelt im finstern Tal,
Fürcht ich kein Ungelücke
In Verfolgung, Leiden, Trübsal
Und dieser Welte Tücke,
Denn du bist bei mir stetiglich,
Dein Stab und Stecken trösten mich,
Auf dein Wort ich mich lasse.
Du bereitest für mir einen Tisch
Vor mein' Feinden allenthalben,
Machst mein Herze unverzagt und frisch,
Mein Haupt tust du mir salben
Mit deinem Geist, der Freuden Öl,
Und schenkest voll ein meiner Seel
Deiner geistlichen Freuden.
Gutes und die Barmherzigkeit
Folgen mir nach im Leben,
Und ich werd bleiben allezeit
Im Haus des Herren eben,
Auf Erd in christlicher Gemein
Und nach dem Tod da werd ich sein
Bei Christo meinem Herren.
Liebe Schwestern und Brüder,
46 Bücher hat die Bibel; in meiner Luther-Übersetzung von 1984 nehmen sie 1.625 Seiten ein - eine gewaltige Menge Text. Die ganze Bibel ist Gottes Wort, und doch sind es wenige Texte, die uns beschäftigen, uns wichtig sind, uns begleiten: Die Weihnachtsgeschichte z.B., die Bergpredigt, das „Hohelied der Liebe” aus dem 1.Korintherbrief - und natürlich der 23. Psalm.
Warum gerade diese Texte? Weil sie besonders schön sind. Wenn wir hören „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …”, dann ist Weihnachten. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei …” - besser kann man die Liebe nicht beschreiben. „Der Herr ist mein Hirte …” - da entsteht sofort ein Gefühl von Geborgenheit. Diese Texte sprechen Dinge an, die uns ganz besonders wichtig sind; sie sprechen Gefühle an, die lebenswichtig sind: Liebe, Geborgensein, dazugehören, gesehen werden. Sie sind uns wichtig, und darum sind sie schön.
Schön sind diese Texte auch, weil sie unseren Glauben auf den Punkt bringen. Wie der Satz des Pythagoras oder die binomischen Formeln die Mathematik aufschließen können und darin unverzichtbar sind, so schließt der 23. Psalm den Glauben auf. Kein Wunder, dass Wolfgang Musculus ihn zu einem Choral umgedichtet hat. Damit konnte er seine reformatorische Theologie an die Frau und an den Mann bringen. In der Reformation wurde die neue evangelische Lehre vor allem durch Lieder verbreitet, die oft auf bekannte Melodien, auf „Gassenhauer” gedichtet worden waren.
Wolfgang Musculus hieß eigentlich Mäuslein. Wie sein Freund Philipp Schwarzerd, der seinen ländlich klingenden Namen gräzisierte und sich Melanchthon nannte, übersetzte er das deutsche Mäuslein ins gehobene Lateinische. Musculus war Benediktinermönch gewesen, hatte 1518 mit 21 Jahren Luthers Schriften kennengelernt und seinen Mitbrüdern im Kloster die evangelische Lehre verkündigt. Als man ihn zum Prior des Klosters machen wollte, ging er nach Straßbourg, verheiratete sich und wurde Pastor in Augsburg, wo 1531 seine Nachdichtung des 23. Psalms entstand.
Was ist das Evangelische an seiner Psalmübertragung? Auf den ersten Blick scheint es, als ob er den 23. Psalm nur paraphrasiert, also mit etwas anderen Worten nachdichtet. Aber in jede Strophe des Liedes sind eigene Gedanken eingeflochten, die den Psalm evangelisch auslegen. Die Bilder des Psalmes beschreiben die Lebenswelt der Menschen in Israel - die grüne Weide und das frische Wasser, das duftende Öl auf dem Haar, der volle Becher und der reich gedeckte Tisch. Es sind Bilder, die auch uns modernen Menschen sofort einleuchten und sicher bei uns die gleichen Assoziationen wecken wie bei den Sängern des Psalms damals. Musculus deutet diese Alltagsbilder als Allegorien des Glaubens und vermittelt dadurch seine protestantische Lehre.
Das wohlschmeckende Gras macht nämlich nicht körperlich satt. Es ist das Wort Gottes, von dem Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes geht” (Matthäus 4,4). Die größte Errungenschaft der Reformation war es, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen und damit das Wort Gottes den Gläubigen unmittelbar zugängig zu machen. Damit wurden sie zu eigenem Denken und Urteilen befähigt und ermutigt. Heute, wo die Flut von Wörtern, die täglich auf uns einstürzen, das Wort Gottes zudeckt, wird diese Errungenschaft kaum noch wahrgenommen und geschätzt.
Weil es um diese reformatorische Errungenschaft geht, beginnt Bachs Vertonung des Chorals nicht als Pastorale, die das Hirtenleben verklärt. Sondern als vom Chor gesungenes Bekenntnis zu dem Herrn, der uns sein Wort gegeben hat.
Auch in der zweiten Strophe deutet Musculus das Gegenständliche ins Geistliche: Bei ihm ist das Wasser nicht frisch, wie es im Psalm heißt, sondern rein, weil es sich beim Wasser um den Heiligen Geist handelt. Auch das eine wichtige Entdeckung der Reformation: Der Heilige Geist wird nicht von der Kirche verwaltet, und er befähigt nicht nur den Klerus, der sich durch seine Weihe von den Gläubigen komplett unterscheidet. Sondern die Taufe schenkt jedem Menschen in gleicher Weise den Geist, der in ihnen den Glauben weckt und sie zum allgemeinen Priestertum beruft. Der Geist Gottes macht alle Menschen gleich - gleich unmittelbar zu Gott, ohne dass sie eines weiteren Vermittlers bedürfen. Dass der Geist die Gläubigen „ohn Ablass” führt, mag nicht nur bedeuten, dass er es unablässig tut, und dass von Gottes Gebot nichts abgelassen wird. Es mag auch auf den päpstlichen Ablass anspielen, der den Anstoß zur Reformation gegeben hatte.
Johann Sebastian Bach übernahm 200 Jahre später Musculus’ Choral unverändert als Text seiner Kantate - auch der Arien und des Rezitativs, was eher ungewöhnlich ist. Zwei Jahrhunderte nach der Reformation ist die reformatorische Entdeckung des Wortes und des Geistes Gottes kein Aufreger mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Deshalb legt Bach den Schwerpunkt darauf, die Bildsprache des Psalms musikalisch umzusetzen. Aber trotzdem komponiert Bach für die zweite Strophe kein Forellenquintett. Es bleibt ihm bewusst, dass das Wasser ein Bild für Gottes Geist ist. Und so plätschert die Arie des Alt nicht dahin, sondern vermittelt das Ergriffensein vom Geist Gottes.
Das Wort Gottes wird von Musculus in der dritten Strophe wieder aufgenommen als Tröster in Verfolgung, Leiden und Trübsal. Er vergleicht es mit dem Stecken, den der Hirt nicht dazu benutzt, um die Schafe zu schlagen, sondern um sie damit vor wilden Hunden und Wölfen zu beschützen und mit der gebogenen Spitze, die später die Bischofsstäbe zieren sollte, aus dem Schlamassel zu ziehen. Das Wort Gottes als Stecken und Stab ist eine Stütze und ein Richtscheit, an dem man sich orientiert.
Der Bass malt die Trübsal in einem Arioso so aus, dass wir sie nachempfinden bzw. mit unseren Erfahrungen daran anknüpfen können. Deutlich klingt in der Melodie das Wandern an. Die Wanderung - ein Bild für das Leben. Dass der gute Hirte auf diesem manchmal beschwerlichen Weg an unserer Seite geht und uns tröstet, und dass man sich auf sein Wort verlassen kann, diese Zusage hat die Form eines Rezitativs: Hier spricht nicht ein Mensch von seiner Erfahrung, hier wird Gottes Wort zitiert, auf dass man sich darauf verlasse.
In der vierten Strophe begegnet wieder der Geist, diesmal als Quelle der Freude und Erfüllung. Das hatten Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg oder Hildegard von Bingen schon vor der Reformation erfahren. Aber in der Reformation ist die Gabe des Geistes nicht die unio mystica, die innige, innerliche Vereinigung mit Gott, sondern die Freiheit: Der Geist befreit die Gläubigen aus geistlicher Unmündigkeit zur Freiheit der Kinder Gottes, die über ihren Glauben selbst urteilen, selbst entscheiden. Dieses Gefühl der Freiheit hat, wenn man es zum ersten Mal erlebt, durchaus etwas Ekstatisches. Auch das ist uns im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen; dabei garantiert der Geist, der uns allen gleichermaßen geschenkt ist, nach wie vor unser Bürgerrecht als Christen - nicht nur in der Kirche, auch in der Gesellschaft.
Das Duett von Sopran und Tenor lässt die geistliche Freude spürbar werden. Es weckt Freude in uns, die zum Tanzen animiert - zumindest innerlich. Es ist wichtig, sich nicht nur still zu freuen, sondern dieser Freude Gestalt zu geben durch Gesang oder Bewegung.
In der letzten Strophe schließlich offenbart Musculus, wer der Herr ist, von dem der 23. Psalm spricht: Es ist Christus, der uns als unser Herr von der Herrschaft der weltlichen und geistlichen Herren befreit. Nicht, indem er als Herr an ihre Stelle tritt. Sondern indem er uns die Freiheit der Kinder Gottes schenkt.
Weil Christus nicht im stillen Kämmerlein, sondern in der Gemeinde zu finden ist, singt wieder der Chor. Und auch das ist ein Bekenntnis: Dass der gute Hirte uns nicht nur im Leben begleitet. Jenseits des Todes wartet neues Leben auf uns. Ein Leben, in dem wir nicht mehr ungegenständlich glauben. Wie der 23. Psalm von realen Erfahrungen spricht, werden wir dann Christus begegnen - und all denen, die uns vorangegangen sind.
Die zentralen und uns lieb gewordenen Texte der Bibel, zu denen der 23. Psalm gehört, sind schön, sagte ich, weil sie für uns lebenswichtige Gefühle ansprechen und die wichtigen Inhalte unseres Glaubens bezeichnen. Nachdem wir die Kantate gehört haben, muss man ergänzen: Sie sind schön, weil sie wahr sind. Diese Wahrheit vermittelt uns die Musik. Denn dass der 23. Psalm von einer Wahrheit spricht, erkennt man nur im Glauben. Wenn aber der Glaube fehlt - oder wenn er abhanden gekommen ist, weil Verfolgen, Leiden, Trübsal und dieser Welt Tücke zu schwer für uns sind, weil Traurigkeit oder Zweifel keinen Platz für den Glauben lassen - dann tritt Bachs Musik für die Wahrheit des Psalms ein. Wo wir nichts mehr begreifen können, da ergreift sie uns, nimmt uns an der Hand und führt uns wie ein verlorenes Schaf dem Hirten entgegen.
Wenn die Wahrheit des Psalms uns überzeugt, finden wir in Bachs Musik auch eine Gleichgesinnte, die uns darin bestärkt, auf dem Weg des Glaubens weiter zu gehen. Dann bringen wir die Schönheit des 23. Psalms auf eine vierte Weise zum Leuchten: Durch unser Leben: Indem wir seinen Worten vertrauen und so ihre Wahrheit bewähren.