Sonntag, 11. Mai 2025

Die Weisheit tanzt

Predigt am Sonntag Jubilate, 11. Mai 2025, über Sprüche 8,22-36

Die Weisheit spricht: Gott erschuf mich am Anfang seiner Wege, vor seinen Taten, weit davor. Von Ewigkeit her wurde ich eingesetzt, von Anfang an, zur Urzeit der Erde. Vor der Urflut wurde ich geboren, bevor die Quellen Wasser hervorbrachten. Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren. Als er die Erde noch nicht gemacht hatte und das Land und die Erdschollen auf dem Festland; als er den Himmel festigte, war ich da, als er den Horizont auf der Oberfläche der Urflut markierte; als er die Wolken oben zusammenballte und die Quellen in der Tiefe füllte; als er dem Meer seine Grenze setzte und das Wasser seinen Befehl nicht überschritt; als er die Grundlage der Erde bestimmte, war ich als Liebling an seiner Seite. Täglich war ich eine Freude, tanzte vor ihm die ganze Zeit über, tanzte auf dem Festland seiner Welt, und die Menschenkinder waren meine Freude.
Nun, Kinder, hört auf mich! Denn selig sind, die sich an meine Wege halten. Hört die Warnung und seid weise und schlagt sie nicht in den Wind. Selig der Mensch, der auf mich hört, täglich an meiner Tür wacht und die Pfosten meiner Tore bewacht. Denn wer mich findet, findet Leben und Gefallen bei Gott. Wer mich verfehlt, verletzt sein Leben. Alle, die mir feind sind, lieben den Tod.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Mensch, sa helle, un wenn’s auch duster is,” sang die Harfen-Agnes, eine braunschweiger Bänkelsängerin, die sich bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ihrer Gitarre und ihren Liedern ihr Geld verdiente, wie das die Straßenmusiker heute auch noch tun.
„Mensch, sa helle, un wenn’s auch duster is,” das ist ein guter Rat für’s Leben. „Helle sein” bedeutet, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und dabei achtzugeben, genau hinzusehen und abzuwägen, damit man nicht über’s Ohr gehauen wird, aber auch nicht unter die Räder gerät. „Helle sein” kann jede:r, dafür braucht man keine höhere Bildung (die Harfen-Agnes nicht hatte: sie konnte weder lesen noch schreiben). „Helle sein” ist eine Haltung im und zum Leben: nicht einfach glauben, was andere behaupten, sondern sich ein eigenes Urteil erlauben und zutrauen.
Als Lebenseinstellung kommt das „Helle Sein” der Weisheit nah, von der wir vorhin in der Lesung hörten. Man könnte das Lied der Weisheit ganz gut mit dem Vers der Harfen-Agnes zusammenfassen: „Mensch, sa helle!”

I

Aber was ist Weisheit eigentlich genau? In ihrem Lied stellt sie sich als die vor, die vor aller Zeit bei der Erschaffung der Welt mitwirkte, Gottes Liebling war und Gott mit ihrem Tanz erfreute. Ob Gott bei der anstrengenden Schöpfungsarbeit - es mussten gigantische Wasser- und Landmassen bewegt und riesige Bergmassive eingesetzt werden - Ablenkung und Unterhaltung nötig hatte?
Sich Gott wie einen Baumeister vorzustellen, der Meere ausbaggert, Berge auftürmt, und den Menschen aus einem Klumpen Lehn knetet, macht aus der Schöpfungsgeschichte ein Zerrbild. Die Rede von der Schöpfung will nicht die allzu menschliche Frage beantworten, wie Gott das All und alles, was dazugehört, erschuf.
Dass die Weisheit tanzt, während Gott die Welt erschafft, will vielmehr zeigen: Schöpfung ist ein kreativer Vorgang. So ist auch eine Tänzerin kreativ, ein Musiker, eine Künstlerin. Und dass die Weisheit bei der Schöpfung mitwirkt, soll deutlich machen, dass unsere Existenz nicht beliebig ist. Dass unsere Welt und das Leben auf ihr nicht allein das Ergebnis einer Kette von unglaublichen Zufällen ist, sondern dass Gott diese Welt, dass Gott uns gewollt und ins Leben gerufen hat.
Darum tanzt nicht der Verstand bei Gottes Schöpfung, sondern die Weisheit. Obwohl wir heute mit dem Verstand die Geheimnisse der Natur, der Entstehung des Lebens und der Welt erkunden. Bei der Frage, wie das All und alles entstanden ist, spielt Weisheit für uns keine Rolle. Diese Frage hat mit Wissen zu tun, nicht mit Weisheit.
Für das Wissen haben wir den Verstand, mit dessen Hilfe wir die Gesetze entdecken, denen die Natur unterworfen ist. Mit dem wir Theorien entwickeln und Beobachtungen erklären, die ein normaler Mensch niemals machen können wird. Dafür werden gigantische Maschinen benötigt wie Teilchenbeschleuniger, die ein einzelner gar nicht bedienen kann, und ausgefeilte Teleskope, die im Weltall in eine Zeit zurückblicken, die wir mit unserer Vorstellungskraft nicht mehr erfassen können: 13 Milliarden Jahre.

II 

In der Bibel tanzt die Weisheit, nicht der Verstand die Welt ins Sein. Offensichtlich hat sich seit den Tagen der Bibel etwas verschoben: Die Weisheit spielt heute keine Rolle, das Wissen umso mehr. Wie kommt das, und was bedeutet es?
Wir modernen Menschen konzentrieren uns auf unseren Kopf. Dort sitzt der Verstand, in unserem Gehirn - die Bibel verortete das Denken noch im Herzen, nicht im Kopf. Unser Verstand ist neugierig und wissensdurstig: „Wieso, weshalb, warum?” fragt der Verstand. Wir nehmen Dinge auseinander, um zu verstehen, wie sie funktionieren - und können sie anschließend oft nicht wieder zusammensetzen.
Mit dem Auseinandernehmen, der Analyse, gewinnt der Verstand seine Erkenntnisse: Er zerlegt Wecker, Fahrräder, Motoren; seziert Frösche und Mäuse; löst Sätze und Gedanken in ihre Bestandteile auf, um das Prinzip zu finden, das ihnen zugrunde liegt. Der Verstand ist analytisch: Er zerstört, um zu verstehen.
Die Weisheit sitzt nicht im Kopf, obwohl es sich bei ihr ja auch um ein Denken handelt, sondern im Herzen, wie schon die Bibel meinte. Man erwirbt sie nicht durch zerlegendes Forschen, obwohl ihr auch ein Bildungsweg vorausgeht: Die Herzensbildung. Die funktioniert ein wenig anders als unsere schulische Bildung und passiert eher nebenbei, ohne dass wir es bemerken.

III 

Man kann Weisheit nicht büffeln oder pauken, denn erlerntes Wissen trägt nur wenig zur Weisheit bei. Weisheit erwirbt man, indem man sich auf etwas einlässt, es an sich herankommen und sich davon berühren lässt. Dazu gehört auch eine Neugier - eine Neugier nicht nach Wissen, sondern nach Erfahrung. Wenn der Verstand auf analytischem Wege lernt, indem er auseinandernimmt, was ihn interessiert, erwirbt man Weisheit, indem man auf das hört, das beobachtet, was man kennen lernen will, es heil lässt und es am Leben lässt.
Die Weisheit fragt auch - aber nicht: „Wieso, weshalb, warum?” Die Weisheit interessiert sich für Hinter- und Untergründe, die „Tiefe” oder „Urflut”, wie es im Lied der Weisheit heißt. Die Weisheit fragt den Verstand: „Was machst du mit deinem Wissen? Du hast die Materie untersucht und ihre kleinsten Bausteine, die Atome, gefunden. Du hast entdeckt, dass man sogar die Atome noch spalten kann und dabei gelernt, ungeheure Energien zu entfesseln - zum Guten und zum Bösen.”
Der Verstand antwortet: „Ich will die Welt beherrschen. Wenn ich weiß, wie sie geworden ist, kann ich dieses Wissen nutzen, um über andere zu bestimmen, um Reichtümer zu erwerben und die Welt so zu gestalten, wie es mir gefällt. Eines Tages werde ich zu den Sternen reisen können. Dann entdecke ich neue Welten und Wesen, die ich erobern und beherrschen kann. Dann werde ich auf die Erde keine Rücksicht mehr nehmen müssen. Ich muss nie mehr aufräumen, nichts mehr reparieren, ich kann alles ausbeuten und verbrauchen und die Erde wie einen Apfelgriebsch zurücklassen.”

IV 

Was den Verstand antreibt, ist der Wunsch nach Herrschaft: „Wissen ist Macht” - Macht über die Natur, Macht über die Mitmenschen. Oft verkleidet sich dieser Wunsch in das Gewand der Nächstenliebe: Man forscht, um Krankheiten zu bekämpfen, den Hunger in der Welt zu besiegen. Aber die Ergebnisse der Forschung, obschon mit Steuermitteln bezahlt, kommen den Kranken nicht kostenlos zugute. Die Pflanzen, die auf höhere Erträge optimiert werden, die Dünge- und Pflanzenschutzmittel sollen in erster Linie Gewinne bringen. Die Menschen in den Ländern des Südens können sie sich gar nicht leisten.
Der Hunger in der Welt wird nicht dadurch besiegt, dass man immer ertragreichere Pflanzen züchtet, sondern indem man das Problem der Verteilung löst. Und ob ein Leben gut und sinnvoll ist, hängt nicht am Besitz oder Luxus, an Maschinen und Geräten, die das Leben bequemer machen, sondern es hängt davon ab, wie man sein Leben gestaltet.
Das ist das Feld der Weisheit. Wie sie am Anfang spielerisch-tänzerisch als Gottes Liebling die Welt gestaltete, will sie mit uns unser Leben gestalten. Nicht: Es optimieren, damit wir möglichst schön sind, möglichst viel leisten, möglichst viel verdienen und besitzen. Die Weisheit leitet uns an, zu fragen, was wir wirklich wollen, was uns wirklich wichtig ist, was uns wirklich glücklich macht. Und sie lehrt uns zu sehen, wo das Glück zu finden ist, und dass wir es längst besitzen.

„Die Menschenkinder waren meine Freude”, singt die Weisheit. Die Weisheit ist auf Beziehung aus, und was die Weisheit lehren kann, ist, in Beziehung mit unsren Mitmenschen, in Beziehung zur Natur und unseren Mitgeschöpfen, in Beziehung zu Gott zu leben. Dazu lässt sich die Weisheit ein auf das, mit dem sie in Beziehung treten möchte. Sie nimmt es wahr als Subjekt, von dem sie etwas lernen kann.
Der Verstand geht auf Abstand, löst die Beziehung auf und macht aus dem Gegenüber ein Objekt, das er auseinandernimmt, um zu verstehen, wie es funktioniert. Etwas überspitzt könnte man mit der Weisheit sagen: Der Verstand liebt den Tod. Aber es geht der Weisheit nicht darum, den Verstand zu verteufeln, oder uns vor die Wahl zu stellen: Er oder ich. Wir müssen forschen und fragen - wo wäre die Menschheit, wenn sie es nicht getan hätte?
Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau hat den Kopf als ein Instrument zum Bohren bezeichnet. Wir können nicht anders, wir müssen immer weiter bohren. Müssen wie ein Maulwurf einen Gang nach dem nächsten graben. Doch damit wir nicht blind werden wie Maulwürfe, bringt die Weisheit immer wieder Licht ins Dunkel, indem sie fragt, wohin wir mit unserer Bohrerei wollen, und wohin uns das führen wird.

VI 

„Mensch, sa helle, un wenn’s auch duster is.” Die Weisheit lädt uns ein, zu suchen, was dem Leben dient - unserem Leben, dem unserer Mitmenschen, und dem Leben auf unserer Erde. Wenn wir uns verrennen, wenn wir die Erde zerstören, auf der wir leben, erinnert sie uns daran, dass sie Gottes Schöpfung ist, voller Wunder und Schönheit, die von der Weisheit ins Dasein getanzt wurde.