Sonntag, 29. Juni 2025

Gottes Fülle

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juni 2025, über Jesaja 55,1-5

Auf, alle, die ihr durstig seid, kommt zum Wasser!
Und wer kein Geld hat: kommt, kauft und esst,
kommt und kauft ohne Geld; Wein und Milch sind kostenlos.
Warum zahlt ihr Geld für das, was kein Brot ist,
und müht euch ab für das, was nicht satt macht?
Hört doch auf mich, und ihr werdet Gutes essen und euch am Fett laben.
Achtet auf das, was ich sage, und kommt zu mir. Hört, und ihr werdet aufleben.
Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen:
die bleibende Verbundenheit mit David.
Sieh da, als Zeugen für die Völker setzte ich ihn ein,
als Anführer und Befehlshaber der Völker.
Sieh da, du wirst ein Volk rufen, das du nicht kennst,
und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen
wegen des Herrn, deines Gottes, des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

Liebe Schwestern und Brüder,

nach einer langen, beschwerlichen Wanderung verschwitzt in eine Gastwirtschaft einkehren und als erstes ein kühles Skiwasser trinken - was für eine Wohltat! Das Glas ist leer getrunken, bevor die Bedienung sich umgedreht hat; man bestellt gleich ein zweites hinterher. Wenn man den Durst auf so angenehme Weise löschen kann, ist er gar nicht so schlimm, ist Durst fast ein Genuss.

Schlimm wird Durst erst, wenn man vergaß, sich Geld für die Gastwirtschaft einzustecken. Oder wenn man nicht genug zu Trinken dabei hatte, und unterwegs keine Gelegenheit, die Flasche nachzufüllen. Dann kann Durst quälend sein. Zum Glück braucht man auch dann keine Angst zu haben, dass man verdurstet: Irgendwo findet sich immer ein Wasserhahn.

In anderen Teilen der Welt ist es schwer oder sogar unmöglich, an sauberes Trinkwasser zu kommen. Dort kann Durst tatsächlich lebensbedrohlich werden. Hunger und Durst - für Menschen in der sogenannten „Dritten Welt” stellen sie ernste Gefahren dar, während sie für uns eher Unannehmlichkeiten sind.

Trotzdem wecken Hunger und Durst auch bei uns elementare Ängste. Sie stehen deshalb nicht nur dafür, dass Wasser und Nahrung fehlen. Im übertragenen Sinn gebraucht, zeigen sie an, dass etwas Lebenswichtiges, etwas zum Leben Wichtiges fehlt.

Bloß - was? Das lässt sich nicht so genau sagen. Vielleicht so? „Das kann doch nicht alles gewesen sein, da muss doch noch Leben ins Leben”, wie Wolf Biermann singt. Aber wie viel ist Alles, und was fehlt einem noch, wenn man schon alles hat? Und was ist das Leben mehr als „Leben”, was muss außer dem Leben im Leben noch passieren?

Für manche wäre viel gewonnen, wenn sie nicht täglich eine Stunde mit zwei Kanistern durch glühende Hitze zum Fluss laufen müssten, um Wasser zum Trinken und für die Küche zu holen. Und anschließend zwei schwere Kanister zurück schleppen, voll mit ziemlich fragwürdigem - um nicht zu sagen: untrinkbaren - Flusswasser.

Was könnten Menschen aus ihrem Leben machen, müssten sie nicht stundenlang anstehen um etwas Getreide oder Reis, das ihnen die Staaten des reichen Nordens als Almosen geben, weil in ihrem Land Krieg herrscht. Krieg, der geregelte Arbeit, Landwirtschaft, Handel und Verkehr unmöglich macht.

Es ist kein donnerndes Leben, aber immerhin ein Leben, wenn man nicht jeden Tag viele Stunden dafür verwenden muss, etwas zu Essen und zu Trinken zu bekommen, nicht täglich Angst um sein Leben haben muss.

Und vielleicht ist es ein erfülltes Leben, wenn man etwas lernen oder anderen etwas beibringen kann. Wenn man Arbeit hat, von der man sich eine Wohnung und einen Urlaub leisten kann und auch im Alter noch genug zum Leben hat.

Vielleicht ist es ein erfülltes Leben, wenn das, was man tut, Freude macht und man dafür vielleicht sogar Dank und Anerkennung erfährt. Wenn man nicht allein ist, sondern jemanden hat zum Reden und Anlehnen, zum Lieben und geliebt Werden. Wenn man, wie am Freitag Abend in der „Nacht der Chöre” hier im Dom, mit anderen gemeinsam musizieren und mit seiner Musik vielen hundert Menschen eine Freude machen kann.

Oder ist das zu klein, zu bescheiden gedacht? Nach „donnerndem Leben” klingt es jedenfalls nicht. Es bleibt ein leiser Zweifel: Sollte das alles gewesen sein? Als gäbe es einen unausgesprochenen Auftrag, etwas aus sich und seinem Leben zu machen. Etwas zu hinterlassen, wodurch man in Erinnerung bleibt. Oder wenigstens zu erhalten, was einem hinterlassen wurde.

Das Leben - ein Zeitraum, den man gestalten kann, ja, muss. Entsprechend minderwertig fühlt sich, wer nichts leisten, nichts aus seinem Leben machen kann wegen einer schweren Krankheit, wegen eines Handicaps, oder weil die Gelegenheit dazu nicht kommen wollte.

Wenn man nach der Logik von Ursache und Wirkung lebt, in Gewinnen und Verlusten rechnet und Geld als Maßstab für den Wert einer Sache ansieht, kurz: Wenn man ein moderner, aufgeklärter Mensch ist, muss man das wohl so sehen: Dass wir unsere Lebenszeit auskaufen müssen, sie nicht vergeuden dürfen, sondern etwas leisten, etwas schaffen, etwas werden, etwas aus uns machen müssen.

Die Bibel denkt anders über das Leben. Sie sieht es nicht als Verfügungsmasse, die wir zu gestalten hätten, sondern spricht von unserem Leben als einer Gabe und von Gott als dem Geber und Schöpfer des Lebens.

Er schenkt uns das Leben, ohne uns damit einen Auftrag zu geben und ohne von uns etwas dafür zu erwarten. Und er gibt die Erfüllung des Lebens gleich mit dazu: Unser Leben ist erfüllt von Gottes Nähe und Gottes Liebe.

Den unstillbaren Durst, den man manchmal spürt und den weder Alkohol löscht noch die Fülle an Dingen, die man kaufen und besitzen kann - diesen unstillbaren Durst stillt die Fülle Gottes. Man entdeckt und erlebt diese Fülle, wenn man das Leben als Gabe, als Geschenk anzunehmen und zu begreifen lernt.

Dann ist nichts zu klein oder zu unbedeutend, um schön zu sein und uns zu erfreuen. Jede Blüte, jedes Abendrot, jede Melodie, jede freundliche Geste, jeder Schluck Wasser und jeder Bissen Brot sind Geschenke, wenn man sie wert schätzen kann. In ihrer erstaunlichen Fülle, die wir jeden Tag erleben, erfüllen sie uns und unser Leben, lassen sie uns an der Fülle Gottes Anteil haben.

König David ist der Gewährsmann, der Zeuge dieser Fülle. Mit ihm hat Gott ein dauerhaftes Bündnis geschlossen. Durch die Generationen hinweg gilt dieser Bund. Für manche galt und gilt David dadurch als der Stammvater des messianischen Herrschers. Sie erwarten, dass Gott mehr tut, als dem Leben seinen Lauf zu lassen. Sie rechnen mit einem Plan, der am Ende alle widergöttlichen Mächte vernichtet. Der Friede, den die Bibel ersehnt und verheißt, muss ihrer Meinung nach mit Gewalt errungen werden.

Doch wurde der Bund nicht mit David allein geschlossen. Er schließt das ganze Volk Gottes mit ein, auch uns. David ist Gewährsmann, ist Zeuge dieses Bundes, weil er als Hirtenjunge zum König gesalbt wurde; weil er die Schwermut König Sauls mit seinen Liedern linderte; weil er Psalmen dichtete, in denen er die Fülle Gottes, die Welt als Schöpfung und das Leben als Gabe Gottes besang.

Auch wir werden zu Zeuginnen und Zeugen für Gottes Bund, wenn wir unser Leben als Geschenk annehmen. Unser Beispiel wird Schule machen. Andere werden an uns sehen, dass man das Leben nicht als eine unlösbare Aufgabe ansehen muss, damit etwas zu erreichen oder zu schaffen, sondern als Gabe verstehen kann.

Menschen, die wir nicht kennen, und Menschen, die uns nicht kennen, werden durch uns die Fülle des Lebens entdecken und die Schönheit, die in dieser Fülle liegt. Sie werden Erfüllung finden wie wir, ohne neidisch sein zu müssen, ohne Hass, und ohne Gewalt.

Unser Leben ist erfüllt - wir müssen diese Fülle nicht erst bewirken. Die Fülle wird auch nicht größer durch Dinge, die wir kaufen, durch das, was wir tun oder uns leisten. Denn unser Leben wird von Gottes Fülle erfüllt - und die ist größer als das Weltall; mehr geht nicht.

Wir dürfen darum einfach leben und jeden Tag als Geschenk annehmen mit seiner Fülle an Schönheit, an Freundlichkeit und Güte, die Gott uns schenkt. So werden wir zu Zeuginnen und Zeugen für Gott, breiten seine Liebe, seine Schönheit und seinen Frieden aus in der Welt.