Sonntag, 22. Juni 2025

Religion

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2025, über Johannes 5,39-47:

Jesus spricht: Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, durch sie ewiges Leben zu haben. Und jene sind es, die über mich Zeugnis ablegen. Aber zu mir wollt ihr nicht kommen, damit ihr Leben habt.
Von Menschen nehme ich keine Ehre an. Vielmehr weiß ich, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, aber ihr habt mich nicht angenommen. Käme ein anderer in seinem eigenen Namen, den würdet ihr annehmen. Wie vermögt ihr zu glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, aber die Ehre vom einzigen Gott nicht sucht? Glaubt nicht, dass ich euch beim Vater verklagen werde. Euer Ankläger ist Mose, auf den ihr Eure Hoffnung gesetzt habt. Hättet ihr Mose geglaubt, hättet ihr auch mir geglaubt, denn von mir hat er geschrieben. Da ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

Liebe Schwestern und Brüder,

glaubst du noch - oder hast du schon Religion? „Die Verschlossenheit der Welt gegen Gott gründet in ihrer vermeintlichen Sicherheit, und diese hat ihre höchste und verführerischste Gestalt in der Religion,” schreibt Rudolf Bultmann in seinem Kommentar zum Johannesevangelium. „Die Verschlossenheit der Welt gegen Gott gründet in ihrer vermeintlichen Sicherheit, und diese hat ihre höchste und verführerischste Gestalt in der Religion” - eine steile These, mit der Bultmann den heutigen Predigttext in einem einzigen Satz zusammenfasst. Kaum zu verstehen, wie alle steilen Thesen. Bemühen wir uns, sie zu verstehen, wird uns das auch den Predigttext aufschließen. Lassen Sie es uns versuchen:

Rudolf Bultmann schreibt diese steile These als Kommentar zum ersten Satz des Predigttextes: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, durch sie ewiges Leben zu haben.” Warum ist dieses Forschen in den Schriften ein Zeichen von Religion, und warum wiegt die Religion in falscher Sicherheit? Wir tun doch gerade genau dasselbe: Wir forschen in der Schrift und sehen uns den Text genau an. Offenbar kommt es auf das Wie an: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, durch sie ewiges Leben zu haben.” Jesus unterstellt, seine Gegner hätten in der Schrift schon etwas gefunden, bevor sie zu suchen begannen: Das ewige Leben.

Das ewige Leben, das sie in der Schrift finden, ist nicht das Ticket ins Paradiens. Auch sind es keine himmlischen Geheimnisse, die nur bei intensivem Bibelstudium offenbart werden. Es handelt sich dabei auch nicht um etwas Zukünftiges, das erst nach Tod und Auferstehung eintritt. „Ewig” im Sinne der Bibel ist allein Gott. „Ewiges Leben” ist damit das Leben, das Gott gibt: Ein Leben in der Verbindung mit Gott, ein erfülltes, sinnvolles Leben.

Dieses Leben meinen seine Gegner bereits dadurch zu haben, dass sie in der Schrift forschen. Sie finden es nicht durch ihr Bemühen um Verstehen, wie wir es gerade versuchen. Sie „haben” es als Folge der Tätigkeit des Forschens an sich. Überspitzt gesagt: Wer in der Bibel liest, hat ewiges Leben - ganz gleich, was man liest und ob man etwas findet und versteht. Nicht das Ergebnis zählt, sondern allein die Tätigkeit an sich. Wenn aber die Tätigkeit unabhängig vom Ergebnis zählt, wenn es gar nicht auf ein Ergebnis ankommt, dann hat dieses Tun keinen wirklichen Sinn. Es ist l’art pour l’art, Tun um des Tuns willen.

Es ist das, was eine Künstlerin tut: l’art pour l’art, Kunst allein um der Kunst willen, ohne einem anderen Zweck zu dienen als der eigenen Wahrheit. Eine Wahrheit, die die Künstlerin in sich selbst findet, aus sich selbst heraus schöpft. So finden die Gegner Jesu in der Bibel die Wahrheit, die sie selbst hineingelegt haben. Findet man in der Bibel aber nur das wieder, was man schon kennt, ist sie nicht Wort Gottes.

Wenn man die Bibel als „Wort Gottes” bezeichnet, meint man damit, dass Gott durch die Worte der Bibel zu uns spricht. Das bedeutet nicht, dass diese Worte der Bibel dadurch heilig, unfehlbar, geistgewirkt seien. Sondern dass sie uns gegeben sind, um in ihnen Gottes Stimme zu finden. Wenn man aber schon weiß, was man finden wird - wie soll man da die Stimme Gottes vernehmen?

Jesus kritisiert an seinen Gegnern, dass sie den Text der Bibel nicht als ein Gegenüber ansehen, als ein Subjekt, das ihnen gegenübertritt und sie in ihrer Sicherheit erschüttert. Sie vereinnahmen den Text für sich, machen ihn zu einem Objekt, in dem sie ihre eigene Wahrheit bestätigt finden.

Diesen Umgang der Gegner Jesu mit der Schrift bezeichnet Rudolf Bultmann als „Religion” und meint das nicht in einem positiven Sinn. Was kennzeichnet „Religion”? Zum einen das Tun um seiner selbst willen. Zum anderen der Umgang mit der Schrift als einem Objekt, das eigenen Zwecken dient, nicht einem Subjekt, das mich herausfordert und hinterfragt.

Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, Zeitgenossen Rudolf Bultmanns, haben „Religion” ähnlich kritisch gesehen und ebenso negativ beurteilt wie er. Für alle drei und, so scheint es, auch für Jesus steht „Religion” im Gegensatz zum Glauben. Warum besteht da ein Gegensatz? Sind Glaube und Religion nicht ein und dasselbe?

Religion „hat” man, sie ist etwas Oberflächliches, wie eine Meinung oder Ansicht - die „hat” man auch. Vorlieben hat man, Interessen oder Abneigungen. Zu diesem Oberflächlichen gehört vieles von dem, was uns an der Religion wichtig ist - die Bibelübersetzung, die wir benutzen, die Bräuche und Traditionen, die wir pflegen, vom unverrückbaren Gottesdiensttermin Sonntag, 10:00 Uhr bis zu der Art, wie wir das Abendmahl feiern - mit dem uns lieb und wichtig gewordenen gemeinsamen Kelch.

Glauben dagegen kann man nicht „haben”. Er fliegt einem zu, überkommt eine, wie die Liebe. Der Glaube forscht in der Schrift, weil er verstehen will, was er glaubt, weil er wissen will, was Gott zu sagen hat - zu mir und meinem Leben, zu der Situation, in der sich die Welt befindet. Der Glaube weiß nicht, was ihn dabei erwartet. Er kann es nicht wissen, auch wenn er die betreffende Bibelstelle 1.000 mal berührt hat. Weil es nicht der Glaubende ist, der liest, sondern weil die Bibel zum Glaubenden spricht - und diesmal hört der Glaubende vielleicht zum ersten Mal, was sie ihm zu sagen hat.

Darum kann Jesus sagen: „Hättet ihr Mose geglaubt, hättet ihr mir geglaubt.” Seine Gegner, unterstellt Jesus, lesen in den Mosebüchern, um zu finden, was sie schon kennen. Das ist nicht Glaube, sondern Religion. Mose zu glauben würde bedeuten, zu lesen, als stünde Mose selbst einem gegenüber - Mose, der mit Gott wie mit einem Freund redete und dessen Gesicht von seinen Begegnungen mit Gott so glänzte, dass die Israeliten es nicht ertragen konnten. Also nicht der Kumpel Mose, sondern Mose, die Autorität, der Fremde - und manchmal auch Befremdliche, ganz Andere.

Aber wie liest man so in der Bibel? Wie glaubt man, wenn der Glaube doch ein Zu-Fall ist, ein Geschenk, das einem zugefallen ist? Indem man alle Sicherheiten, alles vermeintliche Wissen, alle Religion aufgibt und sich allein auf Gottes Zusage verlässt. Das ist ein Drahtseilakt ohne sichtbares Netz, ohne spürbares Halteseil, in dem Vertrauen darauf, dass da doch ein Netz und ein Seil sind und dass man nicht fallen wird, weil Gott eine:n hält.

Jesus verwendet das Beispiel der Ehre, um diesen Verzicht auf alle Sicherheiten zu beschreiben. Jeder Mensch braucht Ehre, das heißt: Anerkennung. Sie ist lebenswichtig, weil sie Sicherheit gibt im Miteinander einer Gruppe, einer Gemeinde, einer Gesellschaft. Wer anerkannt ist, gehört dazu, darf mitreden, wird gesehen und gehört. Wer solche Aberkennung erfährt, fühlt sich sicher. Traut sich was, hat Lebensmut und Lebensfreude. Darum treten unsichere Menschen - pubertierende Jugendliche, Menschen mit wenig Selbstvertrauen - immern in Rudeln auf: Sie fühlen sich stark, wenn sie sich gegenseitig Anerkennung verschaffen. Solche Rudel sind aber nicht in der Lage, etwas ihnen Fremdes wirklich zu sehen. Im Gegenteil: Das Fremde, das Andere verunsichert, darum muss es bekämpft werden.

Auch wir ziehen die Sicherheit der Gruppe, der Gemeinde, der Religion einer ungesicherten Existenz vor. Darum muss der Glaube, wenn er Gott, dem ganz Anderen, begegnen will, alle vermeintliche Sicherheit fahren lassen. Auch die, die man sich mühsam in der Praxis seines Glaubens erarbeitet hat. Erst, wenn man nicht mehr auf solche oberflächlichen Sicherheiten vertraut, sondern alles auf eine Karte setzt: auf Gott, erst dann kann man Gott wirklich begegnen, und das heißt: glauben.

„Die Verschlossenheit der Welt gegen Gott gründet in ihrer vermeintlichen Sicherheit, und diese hat ihre höchste und verführerischste Gestalt in der Religion” Es fällt mir schwer, Rudolf Bultmann in seiner Ablehnung der Religion zuzustimmen. Ich feiere gern am Sonntag um 10:00 Uhr Gottesdienst, als Erinnerung an und Ausblick auf die Auferstehung. Und kann auch an einem Samstag Abend oder an irgendeinem Wochentag Gottesdienst feiern. Ich feiere gern das Abendmahl mit dem gemeinsamen Kelch, weil der Kelch das sichtbare Zeichen der Gemeinschaft mit Christus und aller Gläubigen untereinander ist, und schließe freudig jeden und jede mit ein, die lieber aus dem Einzelkelch trinkt.

Aber vieles spricht dafür, sich Jesu Warnung zu Herzen zu nehmen: Weil man seine Religion praktiziert, ist man nicht automatisch im Besitz des Heils. Nicht, weil man sich das Heil verdienen könnte oder müsste. Sondern weil man sich darüber irren kann, woher das Heil kommt: Nicht aus dem Beharren auf Traditionen, sondern von Christus selbst; nicht aus der Zugehörigkeit zu den richtigen Leuten, sondern weil wir Gott gehören. Darum ist es wichtig, sich immer wieder mal zu fragen: Glaubst du noch - oder hast du schon Religion?