Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 28.9.2025 über 1.Petrus 5,5c-11:
Liebe Schwestern und Brüder,
ein Kind möchte eine Kerze anzünden.
Es hat so oft zugesehen, wie die Eltern es machen;
jetzt möchte es das auch mal probieren.
„Du bist noch zu klein“, sagt die Mutter, „lass mich das machen“.
Aber das Kind quengelt und drängelt,
und schließlich gibt die Mutter nach
und reicht dem Kind die Streichholzschachtel.
Das Kind reißt ein Streichholz an.
Nichts passiert.
Nach vielen Versuchen fängt das Streichholz glücklich Feuer.
Stolz hält es das Kind in der Hand,
glücklich betrachtet es die Flamme,
triumphierend blickt es hinüber zur Mutter,
während sich die Flamme immer weiter nach unten frisst.
Das Kind hat ganz vergessen,
wo das Streichholz endet und die Finger anfangen.
Autsch! Da hat es sich verbrannt!
Es lässt das Streichholz fallen und fängt vor Schreck an zu weinen.
„Siehste!“, sagt die Mutter.
„Hättest du auf mich gehört, wäre das nicht passiert.“
I
„Siehste!“ - mit diesem Ausruf der Eltern wachsen viele Kinder auf.
„Siehste!“, das klingt mal triumphierend,
als würde der Schaden, der Schmerz, der Fehler bestätigen,
wie recht die Eltern hatten.
Manchmal klingt es fast mitleidig, „siehste?“,
und dabei wird das Kind schon in den Arm genommen und getröstet.
Und manchmal richtig ärgerlich: „Siehste!!!“ -
vor allem, wenn etwas kaputt gegangen ist.
Viele von uns haben das „Siehste!” erlebt,
und das wohl mehr als einmal.
Früher gab es meist noch einen Klaps dazu,
zur Verstärkung des Lerneffektes.
Denn lernen sollte man etwas daraus:
Dass es besser gewesen wäre, auf die Eltern zu hören.
Und dass man nun hoffentlich in Zukunft hört,
wenn die Eltern warnen oder verbieten.
„Beugt euch unter die starke Hand Gottes“
- auch der Predigttext ermahnt dazu,
auf den zu hören, der den besseren Überblick hat,
der die Konsequenzen absehen kann,
der weiß, was für uns gut ist und was schädlich.
Wussten es unsere Eltern,
was gut für uns war und was nicht?
Wussten oder wissen wir es als Eltern,
was gut für unsere Kinder ist und was nicht?
Jedenfalls ist die wichtigste Lebensphase, die Pubertät,
davon geprägt, dass sich das Kind gegen seine Eltern auflehnt.
Dass es nicht glaubt, dass seine Eltern wirklich wissen,
was für das Kind gut ist und was nicht.
Das Kind lehnt sich auf, auch gegen das „Siehste!“.
Es will selber sehen.
Und wenn es wehtut, dann tut es halt weh.
Als Mutter, als Vater steht man machtlos daneben.
Sieht hilflos mit an, wie das eigene Kind auf die Nase fällt
und kann es doch nicht davor bewahren.
II
Irgendwann ist die Pubertät zuende.
Aus dem Kind ist eine Erwachsene geworden, ein Erwachsener.
Es ist nicht so sehr das Ende der Pubertät,
das einen zum Erwachsenen macht:
Man wird in dem Augenblick erwachsen,
in dem einem bewusst geworden ist,
wie hart und unerbittlich das Leben sein kann.
In dem einem bewusst wird, dass für viele Menschen niemand da ist,
der ihnen aufhilft und sie tröstet, wenn sie hingefallen sind
– selbst wenn er dabei „Siehste!“ sagt.
Dass es vielmehr zum Leben gehört,
schmerzhafte, schlimme Erfahrungen zu machen:
„Ihr wisst, dass eure Geschwister in der Welt dasselbe erleiden“.
Wenn wir das wissen, dann sind wir erwachsen.
Dieses Wissen ist nichts, worauf man stolz wäre.
Manchmal, da wünscht man sich sehnsüchtig,
man würde nicht wissen, wie die Welt wirklich ist,
was an teuflischen Gräueln und Verbrechen,
an Gemeinheiten und Hinterlist geschah und geschieht.
Manchmal sehnt man sich die heile Welt der Kindheit zurück
- und weiß doch, dass sie für immer verloren ist.
Wenn man dann selbst Kinder hat, sagt man: „Siehste!“,
wenn sie sich verbrennen oder weh tun.
Und wünscht sich doch inständig,
sie mögen noch nicht so bald sehen,
was die Menschen einander Schlimmes antun;
mancher Anblick, manche Erfahrung
möge ihnen erspart bleiben.
III
Wenn man erkannt hat, wie die Welt wirklich ist,
ist man erwachsen geworden.
Manchmal kommt diese Erkenntnis so mächtig,
so gewaltig über einen, dass man sich verkriechen möchte.
Man will sich schützen gegen diese feindliche Welt,
gegen die Gemeinheit der Mitmenschen.
Mit Lebensversicherungen und Rechtsschutz,
mit Geländewagen und Alarmanlagen,
mit Selbstverteidigungskursen und Survival-Training
versucht man, sich abzusichern,
Stärke zu gewinnen und Stärke zu zeigen,
damit niemand auch nur auf den Gedanken kommen kann:
mit der, mit dem kann man's ja machen.
Diese Stärke muss sich auch in der Körperhaltung widerspiegeln:
Kein Entgegenkommen zeigen
– das könnte als Schwäche ausgelegt werden -.
Keine Freundlichkeit
- die könnte man ausnutzen.
Mit Zynismus, Arroganz und Kälte hält man sich über Wasser
und die anderen vom Leibe,
und nur im engsten Kreis lässt man die Rüstung fallen.
Aber manche können selbst das nicht mehr.
Manche können nicht einmal in der eigenen Familie sein, wie sie sind,
ihre Gefühle zeigen, ihre Angst, ihre Verletzlichkeit.
IV
„Beugt euch unter die starke Hand Gottes,
damit er euch zur rechten Zeit erhöht.“
Wer erwachsen geworden ist,
wer die Illusionen der Kindheit über die Welt verloren hat,
der beugt sein Haupt nicht mehr.
Denn sich beugen hieße: sich verletzlich machen.
Sich beugen hieße: sich klein machen
und den anderen, vor dem man sich beugt, groß sein lassen.
Sich beugen hieße: vertrauen.
Denn wer sich beugt, hat nicht mehr unter Kontrolle,
was der andere gerade tut, was er im Schilde führt.
„Beugt euch unter die starke Hand Gottes,
damit er euch zur rechten Zeit erhöht.“
Warum sollte man sich vor Gott beugen,
wenn Gott doch nichts ändern kann an der Welt?
Der heillose Zustand unserer Welt ist wohl
das stärkste Argument gegen die Allmacht Gottes.
Aber verstehen wir „Allmacht“ wirklich richtig,
wenn wir von Gott erwarten, dass er mit der Faust dreinschlägt,
Verbrecher umbringt, Naturkatastrophen verhindert,
schief Gegangenes gerade biegt,
Mitmenschen treu und redlich macht?
Und wollten wir wirklich, dass Gott auch in unser Leben
so eingreift, dass er verändert, was in seinen Augen falsch ist
- was wir aber vielleicht ganz nett und richtig finden?
Wenn Gott von außen in die Welt, in unser Leben eingriffe,
wären wir immer noch Kinder.
Wohlgemerkt, wir sind Gottes Kinder – so,
wie wir zeitlebens Kinder unserer Eltern bleiben
und unsere Kinder zeitlebens unsere Kinder bleiben,
auch wenn sie längst erwachsen sind und selbst Kinder haben.
Wenn Gott von außen in die Welt und in unser Leben eingriffe,
würden wir niemals erwachsen werden.
Wir würden niemals ein Streichholz anreißen,
denn Streichhölzer kann man auch zum Zündeln benutzen.
Worin besteht aber dann die Macht Gottes?
„Der Gott aller Gnade hat euch berufen
zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus.”
Gott ist der „Gott aller Gnade“.
Gnade heißt auf Griechisch: cháris,
und damit wird all das bezeichnet, was Freude erregt.
Gott ist einer, der unsere Freude erregen will,
der uns gut tun will, der will, dass wir glücklich sind.
Nicht nur wir hier im Dom,
alle Menschen sollen glücklich sein.
Gottes Macht besteht darin,
dass seine Sache zur unseren wird.
Gott verwickelt uns in sein Geschäft des Glücks für alle Menschen.
Glück, wie Sie wissen, erreicht man nicht mit Gewalt.
Glück kann man nicht machen.
Glück fällt einem zu. Es ist ein Geschenk.
Es kommt alles darauf an, die Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass Menschen glücklich werden,
dass ihnen das Glück zufallen kann.
Mit dem Glück ist es so:
Je mehr ich mich um das Glück anderer bemühe,
desto glücklicher bin ich, und desto mehr fällt mir zu.
V
Wenn man erkannt hat, wie die Welt wirklich ist,
ist man erwachsen geworden.
Dann weiß man Bescheid, kennt sich aus mit der Welt,
mit den Menschen.
Und sagt denen, die das noch nicht wissen,
denen, die immer noch an das Gute im Menschen glauben,
die immer noch Hoffnung haben auf eine bessere Welt:
„Siehste!“
Oder man hört nicht auf zu träumen.
Hört nicht auf, an den Menschen zu glauben,
von dem Gott bei der Schöpfung sagte:
„Siehe, es war sehr gut“.
Hört nicht auf, an diese Welt zu glauben,
die Gott gut geschaffen hat.
Lässt die Rüstung fallen, beugt sich hinab,
damit Gottes Wille wahr werden,
Gottes Plan gelingen kann:
Cháris, Glück und Freude, für alle Menschen.
Das ist ein viel größerer Beweis von Gottes Macht:
wenn Menschen gut sein wollen,
obwohl sie davon keinen Vorteil haben.
Wenn Menschen bei der Wahrheit bleiben,
obwohl sie dann einen Fehler eingestehen müssen.
Wenn Menschen umkehren,
weil sie erkannten, dass sie Unrecht taten.
Dass Gott uns so anrühren und bewegen kann,
dass uns das Schicksal anderer Menschen nicht gleichgültig ist,
sodass wir ihnen helfen möchten
und ihnen das gleiche Glück gönnen, das wir genießen:
ist ein viel größerer Beweis von Gottes Macht,
ein viel größeres Wunder als alle brennenden Dornbüsche,
geteilten Meere, geheilten Gelähmten
und vom Glauben versetzten Berge zusammen.
Denn das größte Wunder ist es doch,
wenn ein Mensch den andern sieht
und seinen alten Weg verlässt.
So kommt es, das Glück:
Durch Menschen, die glauben
und sich in ihrem Glauben nicht beirren lassen
von dem Leid, das auch ihnen widerfährt.
Die den alten Worten der Bibel vertrauen,
den Hoffnungen und Träumen von einer neuen,
einer gerechten und friedlichen Welt,
auf Gerechtigkeit für alle Menschen.
Wer auf diese neue Welt Gottes hofft,
wird leiden, wie unsere Geschwister in der Welt,
wird Fehler machen, sich irren.
Gott aber wird nicht „Siehste!“ sagen.
Denn „der Gott aller Gnade, der uns berufen hat
zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus,
wird uns vollenden, stark machen,
uns Kraft verleihen und uns ein festes Fundament geben.
Sein ist die Macht in Ewigkeit.” Amen.