Samstag, 13. September 2025

Zuneigung

Predigt am Vorabend des 13.n.Trinitatis, 13.9.2025, über Markus 3,31-35:

Die Mutter und die Geschwister Jesu kommen
und stehen vor dem Haus, in dem er sich aufhielt.
Sie schickten jemanden zu ihm, dass sie ihn sprechen wollten.
Um ihn herum saß eine große Menge, und man sagte ihm:
Hey, deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draußen
und fragen nach dir.
Er antwortet ihnen:
Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?
Und er blickte die, die um ihn im Kreis saßen,
der Reihe nach an und sagt:
Hier sind meine Mutter und meine Geschwister.
Denn wer den Willen Gottes tut,
der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.


Liebe Schwestern und Brüder,

- ach nein, das stimmt nicht.
Ich habe ja gar keinen Bruder.
Ich habe auch nur zwei Schwestern,
und die sind heute nicht hier.

Wie komme ich dazu, Sie als meine Schwestern und Brüder anzusehen
und Sie so anzusprechen: Liebe Schwestern, liebe Brüder?
Wir haben keine gemeinsamen Eltern, dass wir Geschwister,
kein gemeinsames Elternteil, dass wir Stiefgeschwister wären.
Wir sind auch nicht miteinander verwandt,
nicht einmal um drei Ecken.
Wie kann ich Sie dann als meine Geschwister ansehen?

Ich könnte es natürlich gar nicht so meinen.
„Liebe Schwestern und Brüder”, das ist eben so eine Floskel,
die man in der Kirche benutzt.
Wie man „Sehr geehrte Damen und Herren” sagt,
wenn man eine Rede im Bundestag hält,
ohne dass man der Meinung sein muss,
dass die so Angesprochenen
tatsächlich aller Ehren wert seien.
Im Gegenteil: es gehört sich,
dass man auch den politischen Gegner
bei einer solchen Rede
mit „Sehr geehrte Damen und Herren” anspricht.

Das wäre ganz schön verlogen,
wenn ich Sie „Schwestern und Brüder” nenne,
aber in Wirklichkeit gar nicht denke,
dass Sie meine Schwestern und Brüder sind.
Es gehört sich nicht für einen Pastor,
es gehört nicht in einen Gottesdienst:
Etwas zu sagen, was man gar nicht so meint.
Da gäbe es eine andere Möglichkeit:
Ich könnte Sie mit „liebe Gemeinde” anreden.
Das ist neutral, das kann man nicht anders verstehen.
Wobei man sich natürlich trotzdem fragen kann,
ob ich Sie als Gemeinde wirklich lieb habe
oder ob das auch nur so dahingesagt ist.

Gehen wir davon aus, dass ich meine, was ich sage,
wenn ich Sie mit „Liebe Schwestern und Brüder” anspreche.
Ich muss eine ganze Reihe von Voraussetzungen machen,
damit ich Sie so ansehen und anreden kann.
Und Sie teilen diese Voraussetzungen,
wenn Sie sich diese Anrede gefallen lassen.
Denn Sie könnten natürlich auch denken:
Was redet der da? Der ist doch nicht mein Bruder!

Indem Sie mir erlauben, Sie so anzusprechen,
gehen wir von gemeinsamen Voraussetzungen aus,
über die wir uns vorher nicht verständigt haben,
weil sie für uns selbstverständlich sind.
Trotzdem kann es nicht schaden,
sich darüber Gedanken zu machen,
welche Voraussetzungen das sind,
und ob man wirklich bereit ist, sie zu teilen.

Bevor wir jedoch über die Voraussetzungen nachdenken,
könnten Sie zunächst einmal fragen,
wie ich überhaupt dazu komme,
Sie als meine Schwestern und Brüder anzusehen,
wenn wir doch gar keine leiblichen Geschwister sind?
Die Antwort liegt natürlich auf der Hand;
wir haben sie gerade im Predigttext gehört.
Jesus hat es aufgebracht,
dass wir uns als Geschwister ansehen und anreden.

Er spricht von seinen Zuhörerinnen und Zuhörern
als seinen Geschwistern.
Und das sind auch wir.
Wenn wir das Evangelium hören, geschieht es,
dass wir uns angesprochen fühlen.
Schon allein durchs Zuhören gerät man in den Kreis derer,
die Jesus als seine Schwestern und Brüder bezeichnet.
Wir sitzen im Geist um Jesus herum,
während er uns der Reihe nach anblickt,
uns seine Schwestern und Brüder nennt.

Das ist seine Antwort an die,
die im Auftrag seiner leiblichen Familie gekommen sind,
um ihn nach draußen zu holen:
Weg von denen, die ihm zuhören,
hin zu denen, die wenige Verse vorher im Markusevangelium
von Jesus sagten: „Der spinnt!”

Dort heißt es:
Jesus ging in ein Haus.
Und wieder kam eine Menge zusammen,
sodass sie nicht einmal Brot essen konnten.
Als das seine Familie hörte,
kamen sie heraus, um ihn mitzunehmen.
Sie sagten: „Er spinnt!”

Jesus nimmt das seiner Familie ziemlich übel.
Er sagt den Leuten im Haus,
dass jede Sünde vergeben wird,
nur nicht die Lästerung gegen den Heiligen Geist.
Das ist zunächst auf die Pharisäer gemünzt,
die ihm unterstellten, er sei vom Teufel besessen,
mit dessen Hilfe er die Dämonen austreiben würde.

Aber ob man von jemandem sagt,
er sei vom Teufel besessen, oder „der spinnt”,
macht keinen großen Unterschied.
Seine Familie stellt sich damit auf die Seite der Lästerer.
Sie nehmen nicht ernst, was Jesus sagt und tut.
Sie halten ihn für übergeschnappt, für verrückt
und wollen ihn aus dem Verkehr ziehen.

Die erste Voraussetzung ist also,
dass wir Jesus ernst nehmen.
Mit anderen Worten: an Jesus glauben.
Wir halten das, was er sagt und tut, nicht für verrückt.
Wir glauben, dass es wahr ist,
und nehmen es uns zu Herzen.
Darum gehören wir in den Kreis seiner Zuhörerinnen und Zuhörer.
Wenn Jesus sie als seine Schwestern und Brüder anspricht,
sind auch wir gemeint.

Damit kommen wir zur zweiten Voraussetzung,
die mit der ersten zusammenhängt:
Jesus nennt die seine Schwestern und Brüder,
die den Willen Gottes tun.
Hier macht nun Jesus seinerseits eine Voraussetzung:
Das, was er sagt, ist Gottes Wille.
Für uns ist das selbstverständlich,
wir denken gar nicht darüber nach,
weil Jesus für uns der Sohn Gottes ist.
Aber seine Gegner sehen das anders.

Darum hängt die zweite Voraussetzung,
dass wir Jesu Geschwister sind,
mit der ersten Voraussetzung zusammen:
Dass wir Jesus anerkennen.
Anerkennen als den, der er zu sein behauptet:
Gottes Sohn, der den Willen des Vaters
sozusagen aus erster Hand kennt und tut.

Wenn wir Geschwister Jesu sein wollen,
müssen auch wir Gottes Willen tun.
Jesus fasst den Willen Gottes im „Höchsten Gebot” zusammen:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft,
und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst” (Markus 12,29-31)
Im Grunde sind es drei Gebote,
die durch die Liebe zusammengehalten werden:
Die Liebe zu Gott,
die Liebe zum Mitmenschen
und die Liebe zu sich selbst.

Die Liebe taucht auch in der Anrede auf:
„Liebe Schwestern und Brüder.”
Was kann damit gemeint sein?
Ich kann Sie unmöglich alle lieb haben.
Ganz abgesehen davon,
dass man nicht jeden Menschen mag
und sich nicht dazu zwingen kann,
jeden Menschen gern zu haben.

Die Liebe, von der hier die Rede ist,
kann man wohl am besten mit dem Wort „Zuneigung” zusammenfassen:
Zuneigung zu Gott, zum Mitmenschen und zu sich selbst.
Dabei steht nicht das Gefühl im Vordergrund,
das man bei der „Zuneigung” empfindet.
Sondern die Bewegung:
die Bewegung auf jemanden zu.
Auf Gott zu, auf den Mitmenschen, und auf mich selbst.

Wer sich Gott zuneigt,
bewegt sich in Richtung auf Gott hin.
Da man nicht sagen kann, wo genau Gott ist,
ist das eine Wendung nach innen.

Wer sich dem Mitmenschen zuneigt,
wendet sich anderen zu,
sieht sie an, sieht, wer sie sind und wie es ihnen geht
und empfindet dabei Respekt und Mitgefühl.

Und wer sich selbst zuneigt,
achtet auf seine Empfindungen und nimmt sie ernst:
Ob man müde ist oder hungrig,
ob man eine Pause braucht oder eine Umarmung.

So neigt sich Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu:
Er blickt jede und jeden in der Runde an,
als er sie als seine Schwestern und Brüder anspricht.
Sein Blick: Das ist seine Hinwendung, seine Zuneigung.

Als Gottes Sohn kann Jesus uns alle lieben,
jede und jeden von uns.
Als Gottes Sohn hat Jesus uns gern, so, wie wir sind;
er muss sich nicht dazu zwingen
und will uns nicht anders haben.

Als Gottes Sohn lehrt er uns,
Gott als „Vater” und „Mutter” anzusprechen,
weil wir alle Gottes Kinder sind.
Und als Gottes Kinder sind wir Geschwister Jesu,
seine Schwestern und Brüder.

Wenn ich Sie also „Schwestern und Brüder” nenne,
meine ich das auch so: Wir sind Geschwister.
Geschwister, weil wir alle an Jesus glauben -
und damit die erste Voraussetzung erfüllen.
Und weil wir Gottes Willen tun wollen -
die zweite Voraussetzung.

Und wir sind Geschwister,
weil wir alle Kinder Gottes sind.
Jede und jeder Einzelne von uns so geliebt,
wie nur Gott seine Menschenkinder lieben kann.