Sonntag, 12. Oktober 2025

der rote Faden

Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, 12.10.2025, über Josua 2,1-21


Liebe Schwestern und Brüder,


jedes Kind bekommt unmittelbar nach der Geburt

im Krankenhaus ein Plastikarmband ums winzige Handgelenk gebunden.

Nicht nur zum Schutz vor Verwechslung dient das Armband.

Es zeigt, wie sehr sich alle darum bemühen,

dass es der neuen Erdenbürgerin, dem neuen Erdenbürger an nichts fehlt.

Nicht auszudenken, wenn ihr, wenn ihm etwas passieren würde!


Das kleine Plaste-Armband ist ein Zeichen der Wertschätzung,

wie es sonst ein silberner oder goldener Armreif wäre.

Eltern bewahren es als Erinnerung auf,

als wäre es solch ein wertvoller Armreif.

Und wertvoll ist es ja auch,

weil es ihrem allergrößten Schatz gehört hat: ihrem Kind.


Am eigenen Kind oder Enkelkind erkennt man, -

wenn man es nicht die ganze Zeit schon wüsste -,

wie kostbar und wertvoll ein Menschenleben ist.

 

Im Alltag vergleichen wir die Preise.

Wir überlegen, was etwas wert ist und was man dafür geben würde.

Bei einem Menschenleben tut man das nicht.


Doch obwohl unsere Kinder unsere größten Schätze sind;

obwohl wir uns einig sind,

dass man den Wert eines Menschenlebens nicht beziffern kann,

nehmen wir es hin, dass Menschenleben nicht zählen,

wenn es um „höhere Interessen” geht.

Wir nehmen es hin, dass täglich Menschen sterben,

deren Tod man leicht hätte verhindern können.


Im Krieg wird mit dem Wort „Kollateralschaden" vertuscht,

wenn man in Kauf nimmt, Unbeteiligte zu töten.

Denen, die Kriege führen, ist es gleichgültig, wenn Menschen sterben,

die unfreiwillig oder zufällig am Ort der Kampfhandlungen sind.

Kriege werden nicht wie früher auf einem Schlachtfeld ausgefochten,

das abseits bewohnter Gegenden liegt,

sondern mitten unter die Bewohner der Städte und Dörfer getragen,

bewusst, und mit voller Absicht.


Aber nicht nur im Krieg zählt ein Menschenleben nichts.

Auch im Straßenverkehr.

2024 wurden 2.770 Menschen bei Unfällen getötet und 365.000 verletzt,
davon ein Sechstel schwer.

Viele dieser Unfälle wären vermeidbar gewesen:

Überhöhte oder nicht angepasste Geschwindigkeit

war die häufigste Ursache tödlicher Verkehrsunfälle.

Menschen müssen sterben, damit "freie Bürger" rasen können.


Wie passt das zusammen, die Vorsicht, ja fast Angst,

mit der man mit einem Neugeborenen umgeht,

damit ihm bloß nichts passiert,

und die Gleichgültigkeit, mit der man den Tod anderer Menschen hinnimmt?


Liegt es daran, dass man sie nicht kennt, nichts über sie weiß?

Liegt es daran, dass sie kein Plaste-Armband ums Handgelenk tragen,

das sie als schützenswert, als unermesslich wertvoll kennzeichnet?


Oder liegt es daran, dass wir bei Menschenleben einen Unterschied machen,

dass es da Abstufungen gibt:

Unsere Familie und unsere Verwandten sind unersetzlich;

die Menschen, die wir kennen und mögen, sind uns teuer;

die Mitbürgerinnen und Mitbürger unserer Stadt, unseres Landes sind schützenswert,

und alle anderen sind uns gleichgültig?


Es gab auch für solche Abstufung des Wertes einmal ein Zeichen:

Ein gelber, sechszackiger Stern,

den man sichtbar auf seiner Kleidung tragen musste

und der das eigene Leben als wertlos kennzeichnete.


Anderswo brauchte man kein extra Zeichen.

Da genügte z.B. die Hautfarbe,

um eine:n als minderwertig zu kennzeichnen,

als wertloses oder zumindest nicht gleichwertiges Leben.

Und so ist es bis heute.


Auch in der Geschichte von Rahab gibt es ein Zeichen.

Ein Zeichen, mit dem Schützenswertes gekennzeichnet wird:

das rote Seil, das Rahab aus ihrem Fenster hängen lässt.

Es soll sie und ihre Familie vor dem Tod bewahren,

wenn die Israeliten die Stadt erobern.


Jericho liegt heute im Westjordanland, im Palästinensergebiet.

Die Parallele der Geschichte,

die vor unausdenklich langer Zeit spielt,

zu der heutigen Situation in Palästina ist beklemmend.


Und sobald man diese Parallele gesehen hat,

muss man eigentlich aufhören zu sprechen.

Denn in diesem Konflikt gibt es keine richtige Seite.

Auf beiden Seiten gibt es Täter und Opfer.

Auf beiden Seiten gibt es schlimme Verbrechen

und Taten der Mitmenschlichkeit.

Auf beiden Seiten unendlicher Hass und unendliches Leid,

der Wunsch nach Vergeltung und die Sehnsucht nach Frieden.


Denn auf beiden Seiten stehen Menschen,

nicht Feinde, nicht Israelis, nicht Palästinenser, sondern: Menschen.

Menschen, die Geschwister sein könnten, Freundinnen und Freunde -

und es vielleicht sogar sind.

Menschen, die die gleichen Hoffnungen und Träume haben,

die gleichen Ängste und Alpträume.


Nicht nur Israelis und Palästinenser.

Auch Russen und Ukrainer, Armenier und Aserbaidschaner,

Serben und Kosowaren:

Sie alle sind Menschen, nicht Feinde.


Ein russischer Junge ist vor seiner ersten Verabredung

genauso aufgeregt wie ein amerikanischer;

ein chinesisches Mädchen ebenso verzweifelt über den Pickel,

der auf ihrer Nase sprießt, wie ein japanisches.


Rahab erkennt die beiden Kundschafter als das, was sie sind:

Menschen - und: feindliche Agenten.

Sie liefert sie trotzdem nicht aus, sondern versteckt sie bei sich.

Damit bringt sie sich selbst in Lebensgefahr.

Warum tut sie das?


Ich denke, es hat damit zu tun, dass Rahab eine Prostituierte ist.

Als Prostituierte steht sie am Rand der Gesellschaft.

Sie wohnt nicht im Stadtzentrum, sondern an der Mauer.


Die Menschen am Rand der Gesellschaft erfahren am eigenen Leib,

wie es ist, wenn man Unterschiede macht.

Dadurch, dass man ihnen den Respekt verweigert.

Dadurch, dass man auf sie herabblickt.

Dadurch, dass sie nicht die selben Rechte und Möglichkeiten bekommen

wie die Menschen in der sogenannten Mitte der Gesellschaft.


Aufgrund der Erfahrungen, die sie machen musste,

hat Rahab gelernt, zu unterscheiden

zwischen dem, was ein Mensch vorgibt zu sein

und dem, was ein Mensch ist.


Sie kann unterscheiden zwischen der Uniform

und dem Menschen, der in ihr steckt.

Sie kann unter der Uniform den Menschen erkennen.

Und sie kann erkennen, dass dieser Mensch nicht anders ist als sie:


Er hat genauso Angst vor dem Tod wie ihre Leute.

Er ist genauso schutz- und liebesbedürftig

wie die Menschen in ihrer Umgebung.

Man kann mit ihm reden.

Und man kann mit ihm einen Vertrag schließen.


1954 hat die Haager Konferenz beschlossen,

Das Zeichen für "Schützenswertes Kulturgut": Ein blaues, auf der Spitze stehendes rechtwinkliges Dreieck über einer blauen Raute auf weißem Grund.
Quelle: Wikipedia

Gebäude, die eine große kulturelle Bedeutung haben -

wie z.B. das Residenzensemble in Schwerin,

oder unser schöner Dom -

durch ein außen angebrachtes Zeichen

als schützenswertes Kulturgut zu kennzeichnen,

damit diese Gebäude im Krieg nicht zerstört werden.

Sie kennen dieses blau-weiße Schild, haben es schon oft gesehen.


Es funktioniert nicht.

Es hat noch nie funktioniert,

wie man an den Ruinen und Trümmern sehen kann,

die die unzähligen Kriege seit 1954 hinterlassen haben.


Aber zumindest erinnert dieses Zeichen daran,

dass es Dinge gibt, die man beschützen muss,

weil sie unwiederbringlich verloren gehen,

wenn man sie zerstört.


Wieviel mehr gilt das für uns Menschen,

die wir diese Gebäude errichtet haben!

Rahabs rotes Seil erinnert uns daran,

dass jedes Menschenleben einzigartig und unendlich wertvoll ist

und darum niemals verletzt werden darf.


Möge es sich als roter Faden durch unser Leben ziehen

und uns helfen, statt des Feindes den Menschen zu sehen

und keinen Unterschied zu machen

zwischen den Nahen und den Fernen,

den Fremden und den Freunden.

Wir sind alle gleich, wir Brüder und Schwestern,

Kinder des einen Vaters aller Menschen.