Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 19.10.2025, über Jakobus 2,14-26
Liebe Schwestern und Brüder,
woran erkennt man eigentlich, dass jemand ein:e Christ:in ist?
Hier im Dom braucht man diese Frage nicht zu stellen.
Wer sonntags den Gottesdienst besucht,
ist mit ziemlicher Sicherheit gläubig.
Das könnte ein Erkennungsmerkmal sein:
Wer zum Gottesdienst in eine Kirche geht,
ist wahrscheinlich ein:e Christ:in.
Aber warum sollte man überhaupt wissen wollen,
ob jemand gläubig ist oder nicht?
Ist, was ich glaube, nicht Privatsache?
Und möchte man sich wirklich Fremden als Gläubige:r zu erkennen geben?
Hier im Dom ist das kein Problem,
hier sind wir sozusagen unter uns.
Aber draußen, im Alltag möchte man nicht unbedingt
als Christ:in erkannt und angesprochen werden.
Christ:innen sind in unserer Gesellschaft nicht mehr in der Mehrheit.
Sie sind längst eine Minderheit geworden,
wenn auch immerhin noch eine qualifizierte Minderheit.
Minderheiten fallen auf, weil sie anders sind.
Rote Haare zu haben, ist in Irland nichts Besonderes;
bei uns gibt es manchen Anlass zu Spott.
Wer dick ist, wird andere niemals als dick bezeichnen.
Aber in einer Gesellschaft, in der Dicksein als Makel gilt,
muss man abschätzige Blicke und Kommentare ertragen.
Als Christ:in muss man damit rechnen,
außerhalb der Kirche für seinen Glauben verspottet
oder zumindest nicht ernst genommen zu werden.
Da behält man ihn doch lieber für sich.
I
„Zeige mir deinen Glauben” - der Jakobusbrief fordert dazu auf,
sich als Christ:in zu „outen”.
Aber ihm geht es nicht darum,
sich mit seinem Glauben in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Ihm geht es um die „Seligkeit”, er fragt:
„Kann denn der Glaube [allein] selig machen?”
Was soll „Seligkeit” bedeuten?
Im griechischen Original heißt es:
„Kann der Glaube [allein] retten?”
Gerettet wird man aus einer Gefahr für Leib und Leben.
Wenn man gerettet werden muss, steht das Leben auf dem Spiel.
Und darum geht es beim Glauben: Um das Leben.
Glaube ist kein Hobby, das man eine zeitlang pflegt
und wieder fallen lässt, wenn man keine Lust mehr dazu hat.
Glaube ist auch keine Mode, die man mitmacht, solange sie „in” ist,
und ablegt, wenn etwas anderes angesagt ist.
Der Glaube nimmt uns in Anspruch, mit Haut und Haar.
In seinem Anspruch ist er existentiell:
Es geht dem Glauben um Alles oder Nichts, um Leben und Tod -
mit weniger gibt er sich nicht zufrieden.
Und darum ist es wichtig, dass man den Glauben erkennen kann.
Für uns ist es wichtig.
Denn wenn der Glaube existentiell, lebenswichtig,
für unser Leben wichtig ist,
dann müssen wir selbst erkennen und wissen können,
ob wir glauben oder nicht.
II
„Na, ich werde doch wohl noch wissen,
ob ich glaube oder nicht!,” werden Sie vielleicht denken -
und das denkt sich der imaginäre Gesprächspartner auch,
von dem es im Jakobusbrief heißt:
„Es könnte jemand sagen: Du hast Glauben, und ich habe Werke”.
Dieser „Jemand” ist der Meinung,
den Glauben erkenne man daran,
dass man einem Glaubenssatz zustimmen kann.
Wie z.B. dem Satz: „Gott ist einer.”
„Das glauben die Dämonen auch,”
antwortet der Jakobusbrief.
Dämonen - das sind die Geister, die stets verneinen.
Sie sind das Gegenteil dessen, was man glaubt.
Sie sind die Verneinung des Glaubens.
Das will sagen:
Ein Glaubenssatz allein kann im Zweifel oft nicht helfen.
Wenn man glaubt, dass Gott existiert, bedeutet das nicht,
dass man sich an diesem Glauben immer festhalten kann
und dass er zu jeder Zeit trägt.
Darum schreibt Paulus:
„Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist,
und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat,
so wirst du gerettet” (Röm 10,9).
Das Lippenbekenntnis allein genügt nicht;
man muss auch mit dem Herzen dabei sein.
Aber dass man von Herzen glaubt,
gerade das kann man nicht „machen”.
Jede:r hat wohl mindestens einmal gezweifelt,
ob Gott wirklich existiert, ob Gott wirklich allmächtig ist,
ob er es wirklich gut mit uns meint,
wenn er doch so viel Böses, so viel Leid in der Welt zulässt;
hat sich gefragt, ob die biblischen Verheißungen wirklich wahr sind,
und ob sie auch für mich gelten.
Und jede:r musste wohl auch schon einmal die Erfahrung machen,
dass man Trost im Glauben suchte und nicht fand.
Die alten Worte des Glaubens, die sonst Halt gaben,
waren in diesem Moment keine Hilfe.
III
Darum ist es wichtig, dass man den Glauben „sehen” kann.
Dass es etwas Objektives gibt,
woran man erkennt, dass man gläubig ist,
weil das im Zweifel Halt geben kann.
Martin Luther schrieb in Krisen des Glaubens, die auch er kannte,
mit Kreide auf den Tisch: „Ich bin getauft.”
Wenn er den Glauben nicht in sich spürte,
gab ihm die objektive Tatsache seiner Taufe den Halt, der ihm fehlte:
Durch seine Taufe war auch er ein Kind Gottes,
galt auch ihm Gottes Liebe, galten auch ihm Gottes Verheißungen.
Für den Jakobusbrief sind diese Tatsachen,
an denen sich der Glaube festhalten kann,
wenn er sich selbst nicht mehr spürt, die Werke.
Aber waren die „Werke” nicht eines der Dinge,
gegen die Martin Luther Widerspruch erhob?
Kämpfte er nicht heftig und unerbittlich gegen die Lehre,
sich durch eigene Leistungen das Heil „verdienen” zu können,
ja, es sich erkaufen zu können,
indem man gutes Geld für einen Ablasszettel gab?
Martin Luther wandte sich gegen die Werke, die man tut,
um dafür etwas zu bekommen -
das ist, als würde man mit Gott einen „Deal” eingehen wollen.
Aber Gott macht keine Geschäfte mit uns.
Gottes Wohlwollen, Gottes Liebe
können und müssen wir uns nicht erkaufen.
Wir bekommen sie geschenkt, gratis, sola gratia -
weil Gott uns liebt.
Der Jakobusbrief spricht von Werken,
die eine Folge des Glaubens sind:
Der Glaube bewegt mich dazu, sie zu tun.
Darum kann man im Umkehrschluss an diesen Werken erkennen,
dass man gläubig sein muss.
IV
Womit wir wieder beim Gottesdienst wären.
Denn dass man in die Kirche geht,
dass man betet, eine Kollekte gibt,
würde man nicht tun, wenn man nicht glauben würde.
Und trotzdem können eine:n solche Werke nicht retten.
Denn in die Kirche geht man auch,
wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist.
Man kann den Gottesdienst komplett an sich vorbei rauschen lassen,
ohne etwas zu empfinden, ohne etwas daraus „mitzunehmen”.
Die Werke, von denen der Jakobusbrief spricht,
können auch keine alltäglichen Dinge sein -
gute Taten, die man für andere tut.
Denn die kann man auch ohne Glauben tun.
Und - zum Glück, muss man sagen -
tun auch Menschen, die nicht gläubig sind, ihren Mitmenschen Gutes.
Also geht es bei den „Werken”, die der Jakobusbrief meint,
um etwas Besonderes, wozu man durch den Glauben gedrängt wird:
Es sind die Dinge, die wir in dem Versuch tun,
Gott und unsere Nächsten so zu lieben wie uns selbst.
Jesus hat uns gelehrt, wer unsere Nächste, unser Nächster ist:
Nicht die, die wir uns aussuchen; nicht unser:e Freund:in,
oder ein Mitglied unserer Familie.
Unsere Nächsten sind die Menschen, die uns Gott -
manchmal buchstäblich - vor die Füße legt,
wie Jesus es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschreibt.
Sich solchen Menschen zuzuwenden,
die man gar nicht kennt, die man nicht mag,
denen man aus dem Weg geht, mit denen man nichts zu tun haben will,
dazu kann eine:n nur der Glaube bewegen.
Und darum erkennt man,
wenn man sich dazu genötigt sieht,
sich für Arme einzusetzen, für Fremde;
wenn man sich Menschen zuwendet,
mit denen niemand etwas zu tun haben will,
Leute einlädt, die man an den Rand gedrängt hat;
wenn man sich für die Rechte Fremder einsetzt
und die Wahrheit sagt, auch wenn sie unbequem ist,
dass man glaubt.
V
Bleibt noch eine letzte Frage zu beantworten:
Wie können mich diese Werke trösten,
wie können sie mich meines Glaubens vergewissern,
wenn ich Zweifel habe,
wenn mich der Glaube nicht trägt,
wenn ich nicht glauben kann?
Für die Antwort auf diese Frage müssen wir die Musik zu Hilfe nehmen.
Manchmal erlebt man dabei, dass man von etwas ergriffen wird,
wenn man Musik hört, selbst singt oder musiziert.
Das kann auch bei einem Theaterstück geschehen. Einem Kunstwerk.
Einem Roman oder einem Gedicht. Einem Spielfilm.
Da zieht es einem plötzlich das Herz zusammen,
und dann wird es ganz weit.
Es ist Liebe, was man da empfindet.
Sie erfüllt eine:n, lässt eine:n ein besserer Mensch sein wollen,
lässt eine:n wieder an die Menschheit glauben.
Das kann einem auch widerfahren,
wenn man versucht, Gott und seine Nächsten
so zu lieben wie sich selbst.
Auch da kann es geschehen,
dass es einem das Herz zusammenzieht,
und dann wird es ganz weit.
Es ist Gottes Liebe, die man da empfindet.
Denn in diesem Moment ist uns Christus begegnet.
Christus, der gesagt hat:
„Was ihr einer oder einem von diesen
meinen geringsten Schwestern und Brüdern getan habt,
das habt ihr mir getan” (Mt 25,40).
„So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird,
nicht durch Glauben allein.”