Sonntag, 23. Juni 2024

alles auf eine Karte gesetzt

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 23.6.2024, über 1.Samuel 24,1-20:

David hielt sich in den Bergfestungen von En-Gedi vor König Saul versteckt.
Da wurde Saul gemeldet: David ist in der Wüste En-Gedi.
Daraufhin verpflichtete Saul 3.000 junge Männer aus ganz Israel
und zog aus, David und seine Männer ausfindig zu machen.
Als Saul an einen steinernen Pferch am Weg kam, war da eine Höhle.
In die ging Saul hinein, um sich zu erleichtern.
David und seine Männer aber hielten sich im hinteren Teil der Höhle auf.
Die Männer sagten zu David: Heute ist der Tag, von dem Gott sagte:
Ich liefere dir deinen Feind aus. Nun tu mit ihm, was dir am besten erscheint.
David erhob sich und schnitt vorsichtig einen Zipfel von Sauls Hemd ab.
Danach klopfte sein Herz, weil er einen Zipfel von Sauls Hemd abgeschnitten hatte.
Dann sagte er zu seinen Männern: Gott behüte, dass ich so etwas tue
und erhebe meine Hand gegen meinen Herrn, den Gesalbten Gottes.
Denn er ist doch der Gesalbte Gottes!
Und er befahl seinen Männern, wegzutreten
und ließ nicht zu, dass sie sich gegen Saul erhoben.

Saul verließ die Höhle und ging seines Weges.
Kurz darauf stand David auf, trat aus der Höhle und rief Saul hinterher:
Mein Herr König!
Als Saul sich umdrehte,
neigte David sein Gesicht zur Erde und warf sich vor ihm nieder.
Dann sprach er zu Saul:
Warum hörst du auf die Leute, die behaupten: David plant Unheil gegen dich!
Siehe da, heute siehst du mit eigenen Augen,
dass Gott dich in dieser Höhle mir ausgeliefert hat.
Man riet mir, dich totzuschlagen; das hättest du verdient.
Aber ich sagte: Ich werde meine Hand nicht gegen meinen Herrn erheben,
denn er ist der Gesalbte Gottes.
Sieh her, mein Vater! Sieh doch den Zipfel deines Hemdes in meiner Hand!
Sieh, ich schnitt diesen Zipfel von deinem Hemd ab, ohne dich zu töten.
Sehe und erkenne, dass ich weder Böses im Sinn habe,
noch mich gegen dich auflehne, noch habe ich mich an dir vergangen.
Du aber stellst meiner Seele nach, sie mir zu nehmen.
Gott möge richten zwischen mir und dir,
Gott möge mich an dir rächen, aber meine Hand wird nicht gegen dich sein.
Wie das alte Sprichwort sagt:
„Verbrechen geschehen durch Verbrecher”,
aber meine Hand wird nicht gegen dich sein.
Wem jagt der König Israels nach? Wen verfolgst du?
Einen toten Hund, einen einzigen Floh.
Aber Gott soll Richter sein, und richten zwischen mir und dir.
Er wird die Beweise sichern und meinen Prozess führen
und mir aus deiner Hand zum Recht verhelfen.

Nachdem David diese Worte zu Saul gesprochen hatte, sagte Saul:
Ist das die Stimme meines Sohnes David? Und Saul begann laut zu weinen.
Er sprach zu David: Du bist gerechter als ich.
Denn du hast mir Gutes erwieseń, ich aber habe es dir mit Bösem vergolten.
Du hast mir gerade berichtet, was du mir Gutes tatest,  als Gott mich dir auslieferte.
Du hast mich nicht umgebracht.
Wer trifft auf seinen Feind und sorgt, dass es ihm gut geht?
Vergelt’s Gott für das Gute, das du heute für mich getan hast!


Liebe Schwestern und Brüder,

diese Geschichte von David und Saul ist so spannend wie einer der Italo-Western von Sergio Leone, die regelmäßig im Fernsehen wiederholt werden: „Spiel mir das Lied vom Tod”, „Zwei glorreiche Halunken” oder „Für eine Handvoll Dollar”. Auch hier geht es um Leben und Tod, auch hier steht für einen Augenblick auf Messers Schneide, ob die Sache für den Guten böse oder gut ausgeht.

Die Landschaft dieser Italo-Western, die überwiegend in Spanien gedreht wurden, liefert die Kulisse für unsere Geschichte: So können wir uns die Wüste En-Gedi und die Berge vorstellen, in denen sie spielt. Und wie in Sergio Leones Western gibt es auch hier, trotz aller Spannung und trotz allen Ernstes, eine Spur von Humor: Es ist eine anrüchige Geschichte, im wahrsten Sinne des Wortes.

König Saul war in eine äußerst missliche Lage geraten. Als er dringend mal musste, betrat er ausgerechnet die Höhle, in der sich David mit seinen Kumpanen versteckt hielt. Er ging allein hinein, natürlich, und war dadurch völlig ungeschützt. Man kann sich kaum eine unglücklichere Situation vorstellen als die, in der Saul sich befand. Zum Glück wusste er es da noch nicht.

Aber auch David saß in der Klemme. Nie schwebte er in größerer Gefahr, entdeckt zu werden, als in diesem Moment in der Höhle. Ein Mucks, und es wäre mit ihm vorbei gewesen. Saul hätte sofort um Hilfe gerufen. Draußen warteten 3.000 Bewaffnete, die seit Monaten nach ihm gejagt hatten; er wäre niemals entkommen.

David war früher einmal von Saul als Musiktherapeut engagiert worden. Durch sein Harfenspiel und seinen Gesang sollte er die Schwermut vertreiben, die ihn oft befiel. Saul wusste nicht, dass er sich mit David seinen Rivalen ins Haus geholt hatte. Der Prophet Samuel, der Saul zum König gesalbt hatte, wodurch er der Messias wurde, der Gesalbte Gottes, hatte inzwischen David zu seinem Nachfolger gemacht. Auch David war ein Gesalbter Gottes; er war es nur noch nicht offiziell.

Im Laufe der Zeit wurde Saul misstrauisch. Er spürte, dass David sein Rivale war. Irgendwann wurde es ihm zur Gewissheit. Er entschloss sich, David aus dem Weg zu räumen. David musste den Palast fluchtartig verlassen. Sein Freund, Sauls Sohn Jonathan, hatte ihm vor den Plänen seines Vaters gewarnt und ihm bei seiner Flucht geholfen. David wurde Anführer einer Gruppe von Banditen. Er beraubte und tötete die Philister, die mit den Israeliten im selben Land wohnten. Dadurch machte er sich einen Namen und baute seine Beliebtheit im Volk aus. Zugleich war er selbst ein Gejagter, immer auf der Flucht, damit Saul und seine Soldaten ihn nicht erwischten.

Saul verfolgte David erbarmungslos. Wo David mit seiner Bande zuschlug, schickte er Soldaten hin, aber sie kamen immer zu spät. Er hatte auch Späher beauftragt, nach ihm zu fahnden. Die neueste Nachricht war vielversprechend: David hatte sich in die Wüste En-Gedi zurückgezogen. Jetzt hatte er ihn. Dort saß er in der Falle.

David sah Saul von den Bergen aus  mit seinem riesigen Heer heranrücken. Ein Kampf war aussichtslos. Hundert Soldaten Sauls gegen einen von seinen Männern. David konnte nur hoffen, dass Saul ihn nicht entdeckte. So versteckte er sich mit seiner Bande in einer Höhle.

Nun, in dieser Höhle in der Wüste En-Gedi, war König Saul David ausgeliefert, ohne es zu ahnen. Für David war es die Gelegenheit, seinen Verfolger auszuschalten und den Thron an sich zu reißen. Die 3.000 Mann draußen hätten ihn als neuen König akzeptiert, wenn er mit dem Kopf Sauls in der Hand vor die Höhle getreten wäre.

Aber David hatte offenbar Skrupel, Saul zu töten. Die Anrede, die sie füreinander haben, „mein Vater” - „mein Sohn” beweist, dass sie sich einmal sehr nahe gestanden hatten. Von dieser Nähe war noch etwas da. David brachte es nicht über sich, Saul hinterrücks zu ermorden.

So war auch David in gewisser Weise seinen Männern ausgeliefert. Sie akzeptierten ihn nur so lange als Anführer, wie er sich als stark und überlegen erwies. Sobald er Schwäche zeigte, würde ein anderer seinen Platz einnehmen. 
Sie spüren, dass David zögert und zwingen ihm zum Handeln: „Heute ist der Tag, von dem Gott sagte: Ich liefere dir deinen Feind aus. Nun tu mit ihm, was dir am besten erscheint”.

Man kann sich ihre finsteren Mienen, ihre kalten, erbarmungslosen Augen vorstellen, wie sie David mustern. Es kann keinen Zweifel geben, was sie von ihm erwarten. David bleibt nichts anderes übrig, als sein Messer zu zücken und sich von hinten an Saul heranzuschleihen.

Doch er sticht nicht zu. Mit scharfer Klinge, klopfendem Herzen und Schweißperlen auf seiner Stirn schneidet er einen Streifen von Sauls Hemd ab. Damit kehrt er zu seinen Männern zurück. David hat die Mutprobe bestanden. Er hat sich als Anführer bewährt, auch wenn seine Bande mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein kann.

David hat nun ein Faustpfand in der Hand, mit dem er einen sicheren Abzug für sich und seine Männer aushandeln will: Das Stück Stoff, das er von Sauls Hemd abschnitt. Nun kommt es zum eigentlichen Showdown: David tritt aus der Höhle und ruft seinen Feind beim Namen.

Im Western würden nun beide Gegner einander umkreisen, sich unablässig in die Augen starren, die Hand über dem Griff des Colts, bis einer von beiden es nicht mehr aushält, seinen Colt zieht - aber da hat der andere schon abgedrückt.

David macht das Gegenteil: Er blickt Saul nicht an, sondern wirft sich zu Boden, liefert sich ihm aus. Saul wird von dieser Begegnung kalt erwischt und ist erst einmal sprachlos - die Gelegenheit für David, seine Sache vorzubringen.

Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Hatte er sich eben noch demütig gezeigt, wirken seine Worte jetzt wie Ohrfeigen. Aber so sicher er sich ist, im Recht zu sein, David pokert hoch. Wenn Saul ihn wirklich tot sehen will, dann hat jetzt seine Stunde geschlagen.

Aber auch Saul kann David nicht töten. Auch ihn übermannt die Erinnerung an bessere Tage, ihm kommen sogar die Tränen. Und er gesteht David gegenüber ein, im Unrecht zu sein und ihm Unrecht getan zu haben.

Wie kommt es zu dieser Wendung der Geschichte? Wie konnte David dieses Risiko eingehen, sich mit seinem Stückchen Stoff in der Hand Saul bedingungslos auszuliefern, und warum ergreift Saul nicht die Gelegenheit, seinen Rivalen endlich ein für allemal auszuschalten?

Im Western wäre jetzt von Fairness die Rede. Wie David vor seinen Männern das Gesicht wahren musste, um weiter ihr Anführer bleiben zu können, so ist Saul vor seinen 3.000 Soldaten Fairness David gegenüber schuldig. David im Zweikampf zu töten, das wäre fair gewesen. Aber wenn er ihn jetzt, wo er wehrlos vor ihm steht, erschlägt, hat er seinen Anspruch, König zu sein, verspielt. So wäre es im Western.


In der Bibel heißt es nicht Fairness, sondern Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bedeutet nicht so sehr,  dass alle das gleiche bekommen. Gerechtigkeit bedeutet, einen Vorteil nicht auszunutzen, den man seinem Gegner gegenüber hat. Auf diese Gerechtigkeit verlässt sich David, als er sich Saul ausliefert, und er wird nicht enttäuscht. Weil David sich Saul gegenüber fair verhiellt, kann er darauf vertrauen, auch von ihm fair behandelt zu werden.


Dieses Vertrauen auf faires Verhalten wäre heute leichtsinnig. In unserem Alltag ist Fairness selten, sonst müsste sie nicht immer wieder eingefordert werden. Dass es Leute gibt, die sich unfair verhalten,  ist nun einmal leider der Lauf der Welt: Es gibt gute Menschen, die fair spielen, handeln oder kämpfen, und es gibt böse, die es nicht tun. Aber seit längerer Zeit hat eine beunruhigende Entwicklung dazu geführt, dass Fairness nicht mehr als erstrebenswert gilt. Wer fair ist, ist dumm, und wer nicht jede Chance ausnutzt, die sich ihm bietet, und seinen Erfolg mit allen Mitteln und ohne Skrupel sucht, ist ein Verlierer und hat es nicht besser verdient.

Wie kommt es, dass David sich darauf verlassen kann, dass Saul sich fair verhalten wird? Wie kommt es, dass Saul sich an die ungeschriebene Regel der Fairness hält?

Es ist die Ehrfurcht, der Respekt vor Gott, die Saul empfindet und die David bei ihm voraussetzen kann. Wer anerkennt, dass Gott über einem steht, wird sich fair verhalten. Nicht aus Angst, dass Gott straft, wenn man es nicht tut. Sondern weil das Gottes Wille ist: Gerechtigkeit.

In den Western Sergio Leones ist immer sofort klar, wer der Gute ist: Es ist der, der fair kämpft und sich für Gerechtigkeit einsetzt. Mit dem bösen, dem finsteren Fiesling, hat man keine Sympathie.

Es ist diese Sympathie für die Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach Fairness, die Gott in uns wecken will. Damit Menschen sich darauf verlassen können, dass wir ihre Notlage nicht ausnutzen, und damit auch wir ein faires Verhalten erwarten können. Nur so ist Zusammenleben möglich, ohne dass ein Mensch dem anderen zum Wolf wird, ohne dass das Leben ein einziger Kampf ums Überleben ist.

Übrigens steckt in „Fairness” das Wort „fair”, schön. Ein Leben, in dem es gerecht zugeht, in dem man sich auf faires Verhalten verlassen kann ist einfach viel schöner als eines, in dem jede und jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist.