Sonntag, 17. April 2011

konservieren

Predigt am 6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum, 17. April 2011 über Markus 14,3-9:

Jesus war in Betanien im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.


Liebe Gemeinde,

I
essen Sie gern Konserven?
Wobei, heute müsste man wohl fragen: Essen Sie gern Tiefkühlkost? Die Konservenfabriken, die Braunschweig bekannt gemacht haben und vielen Menschen Arbeit „in der Konserve” gaben, sind längst geschlossen. Nur die „Brunsviga” erinnert noch an alte, längst vergangene Zeiten.

Die Konserve, mehr noch als heute die Tiefkühlkost, steht für Dauer, für Haltbarkeit.
Viele wagemutige Expeditionen wären ohne Konserven nicht denkbar gewesen, und auch die Astronauten kommen nicht ohne sie aus - auch wenn sie keine Blechdosen mit ins All nehmen.

Die Konserve steht für Dauer, deshalb hat man immer ein paar Dosen Erbsen und Möhren, ein paar Gläser Rotkohl und Sauerkraut auf Vorrat, ein paar Pizzen und Fischstäbchen im Gefrierfach. Im Notfall, oder wenn man keine Zeit oder keine Lust zum Kochen hat, wärmt man eben schnell eine Konserve auf.

Aber wirklich lecker ist das nicht. An ein selbst gemachtes Essen mit frischen Zutaten reicht die Konserve nicht heran.
Mit zum ersten, was Astronauten nach ihrer Landung tun, gehört der Biss in einen Apfel.

Und trotzdem konservieren wir gern, um nicht zu sagen: zwanghaft. Wer einen Garten hat, kocht ein - grüne Bohnen, Birnen, Süß- und Sauerkirschen; kocht Marmelade. Friert Himbeeren ein. Warum macht man sich eigentlich die viele Arbeit, wenn es die Sachen so günstig im Supermarkt zu kaufen gibt?
Neben dem Selbstgemachten, das ich so würzen kann, wie es mir am besten schmeckt, und von dem ich weiß, was drin ist, liegt der Reiz des Konservierens auch am Festhalten. Ein Festhalten dessen, was man an Arbeit in seinen Garten gesteckt hat.
Ein Festhalten auch der Sonne, des Duftes, der Schönheit der Früchte, des Genusses, den der Aufenthalt im Garten bereitet hat. All das möchte man konservieren, und wenn man so ein Glas Selbstgemachtes öffnet, ist die Erinnerung an den Sommer für einen Moment wieder da.

Wir konservieren gern, manchmal fast zwanghaft. Nicht nur Obst und Gemüse: Wir möchten auch die schönen Momente unseres Lebens, die flüchtigen Augenblicke festhalten. Keine Taufe, kein Geburtstag, keine Hochzeit, an der nicht fotografiert und gefilmt wird. Warum?

II
Von einem flüchtigen Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes erzählt das Evangelium des heutigen Sonntags.
Die namenlose Frau in Bethanien zerbricht ein Glas Parfum und gießt es Jesus über die Haare. Sie produziert eine Duftwolke, eine Duftexplosion geradezu, die eine kurze Zeit anhält und dann verfliegt. Eine dramatische Inszenierung, dieses Zerbrechen des Flacons, das Ausgießen des duftenden Parfums. Eine Performance, würde man heute sagen. Diese Frau will mit ihrer Handlung etwas zum Ausdruck bringen, das man mit Worten nicht ausdrücken kann. Es besteht ein Zusammenhang zwischen ihrer Namenlosigkeit und ihrer stummen Inszenierung.

Die Zeugen dieses Geschehens aber, sicherlich Menschen, die Jesus gut kannten, die sich auskannten und wussten, wer er war und wofür er stand, die kritisieren ihre Tat: Was für eine Verschwendung!
Ein Flacon mit 30 ml des berühmten Parfums Chanel No. 5 kostet 245,- Euro. 30 ml - das ist aber ziemlich mickrig. Ein Wasserglas voll sollte es schon sein. Das wären 150 ml, 1.225,- Euro wert. Was für ein Duft, wenn ein Glas voll Parfum ausgegossen würde!
Eine schöne Summe Geldes aber auch, mit der man Menschen helfen könnte.

Das Geld, diese 300 Silbergroschen - damals waren das 10 Monatsgehälter -, ist sozusagen die Konserve. Man kann damit über einen langen Zeitraum Menschen Gutes tun. Die namenlose Frau aber verpulvert alles auf ein Mal, für einen dramatischen Moment, der vefliegt wie der Duft, und von dem niemand etwas hat.

Jesus aber verteidigt ihr Tun, verteidigt diesen verschwenderische Moment. Auch er ist nur für einen Augenblick da: „Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.”
Der einmalige, flüchtige Augenblick und das Dasein Jesu haben etwas gemeinsam.

III
Alle Kunst hat ein Problem: Sie ist wahnsinnig teuer - und es kommt nichts dabei heraus.
Wenn ich aber die schönen Beeren einkoche oder daraus Marmelade koche, habe ich doppelte Freude: Einmal, wenn sie am Strauch wachsen und reifen, rot in der Sonne glänzen und duften. Und dann, wenn ich das Glas öffne und die Marmelade genieße.

Eine Theateraufführung, ein Konzert, ein Besuch in der Galerie sind schnell vorbei.
Wie viel Geld haben sie verschlungen! Wie viel Arbeit steckt z.B. in einer Operninszenierung! Ein ganzes Heer von Musikern, Sängerinnen und Sängern, Masken- und Bühnenbildnern, Licht- und Tontechnikern arbeitet und probt wochen- und monatelang für die zwei Stunden der Premiere. Es ist eigentlich genau so wie das Zerbechen des Parfumflacons: Für einen schwelgerischen, verschwenderischen Moment wird ein Vermögen ausgegeben.

Und was nimmt man als Zuschauer davon mit? Ein Programm, das man sich für 2,- Euro kaufen musste. Die Eintrittskarte als Erinnerung. Weiter bleibt --- nichts?

Nein, weiter bleibt nichts. Jedenfalls nichts, was man wiegen oder messen, was man in ein Album kleben oder ablegen könnte.
Aber wenn wir Menschen auch schon seit der Steinzeit Sammler und Jäger sind - wir sind, was wir sind, nicht durch das, was wir gesammelt und erbeutet haben. Was wir sind, lässt sich nicht konservieren.

IV
Ein Theaterstück, ein Konzert, ein Bild hat uns, wenn es gut ging, berührt, bewegt, traurig oder fröhlich gemacht. Dabei ist über das, was man mit Worten sagen kann, hinaus etwas mit uns geschehen, das wir im ersten Moment gar nicht begreifen. Es hat sich etwas bewegt in uns, etwas ist anders geworden, als es vorher war. Vielleicht nur so viel, wie das Licht im Zimmer anders wird, wenn die Wolken vor die Sonne ziehen, wie sich die Schatten im Tagesverlauf ändern. Und doch ist etwas anders geworden. Wir haben es nicht gewollt, und wir haben es nicht gemacht. Es ist geschehen, einfach so, weil uns etwas berührte. Wir wissen nicht, ist das gut, ist das schlecht. Wir fragen auch nicht danach. Es ist einfach so. Punkt.

So ist es auch mit dem Glauben. Dass Jesus uns einleuchtet, dass er für uns da ist, dass er bei uns ist so, wie die Armen alle Tage bei uns sind (wir sehen sie nur nicht, oder wollen sie nicht sehen): Das können wir nicht machen. Das können wir nicht logisch ableiten, das kann uns niemand erklären. Das können wir nicht lernen, in der Schule nicht, und nicht im Konfirmandenunterricht. Es geschieht, einfach so. Punkt.
Es geschieht in einem Moment wie dem, in dem eine namenlose Frau einen Flacon mit kostbarem Parfum zerbricht. Es geschieht z.B. beim Abendmahl. Im besonderen Licht, in der besonderen Stille eines Kirchraums. Beim Hören der h-Moll-Messe. Aber auch beim Singen eines Liedes aus dem Gesangbuch, einer Musik. Im Satz einer Predigt, in einer Zeile eines Gebetes, einem Wort aus der Bibel.

V
„Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt,
da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis,
was sie jetzt getan hat.”

Die namenlose Frau ist berühmt. Bekannter als John Lennon, Justin Bieber, Abba, Angela Merkel oder Heidi Klum. Millionen, nein: Milliarden Menschen kennen oder kannten sie, von der niemand weiß, wer sie war, wie sie hieß, wie sie ausgesehen hat.
Milliarden Menschen kennen sie, weil der Heilige Geist milliardenfach sein Parfum über unser Haupt ausgegossen hat, und uns für einen winzigen Moment, einen Augenblick nur, den Duft der Auferstehung hat riechen lassen.
Seitdem wollen wir ihn immer wieder riechen, diesen Duft.
Seitdem ist uns der Moment heilig: Der Moment, der unser Leben verändern kann.

Wir können nichts festhalten im Leben - eine Binsenweisheit. Und dennoch konservieren wir auf Schritt und Tritt, klammern uns an Dinge, die wir wie Treibgut aus dem Strom der Zeit fischen, weil sie uns Halt versprechen. Statt den Moment zu genießen, wollen wir ihn festhalten - und wundern uns beim Betrachten der Fotos, beim Ansehen der Filme, dass es so banal war, so schlicht, so wenig aufregend und bewegend. Bilder, CDs und DVDs können nicht ersetzen, was wir erleben.
Statt uns bewegen, an- oder aufregen zu lassen, waren wir zu beschäftigt, zu sammeln und zu jagen.

Es erfordert ein bisschen Mut, sich auf den Moment einzulassen. Denn wer weiß, was da mit mir geschieht. Wer weiß, wie und wohin Gottes Geist mich bewegt - vielleicht will ich da gar nicht hin?
Und doch liegt alle Schönheit, alles Glück, aller Sinn in diesem Moment beschlossen.
Man kann sie nicht konservieren, die Schönheit, das Glück, den Sinn.
Man muss sie erleben, jetzt.
Um Hoffnung zu haben, um glauben zu können, muss man ihn immer wieder in die Nase bekommen, diesen unvergleichlichen Duft:
Den Duft der Auferstehung.

Amen.