Montag, 2. Mai 2011

Beerdigungsansprache

Eigentlich gehört eine Beerdigungsansprache nicht hierher. Sie ist etwas Persönliches, Privates. Für mich stellt die Beerdigungsansprache immer wieder eine Herausforderung dar: Angesichts von Leid und Tod, die sprachlos machen, darf der Glaube nicht schweigen, sondern muss dem Tod mit Worten die Stirn bieten. Im "Beerdigungsalltag" ist die Gefahr groß, dass man sich bestimmte Bilder und Formulierungen angewöhnt, in Floskeln verfällt - gerade dann, wenn man den Tod nicht an sich heranlassen möchte.
Weil es auch mir so geht, suche ich immer wieder mal nach Beerdigungsansprachen von Kolleginnen und Kollegen, bin neugierig, welche Worte und Bilder sie gefunden haben.
Weil ich nicht nur "schnorren" will, stelle ich hier eine aktuelle Ansprache zur Verfügung - vielleicht kann sie der einen oder dem anderen einen hilfreichen Impuls geben.




Ansprache zur Trauerfeier für W über Psalm 139,16:

Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.



Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,

"Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den oft es
abtrieb vom Wege, seit Trojas heilige Burg er verheerte.
Vieler Menschen Städte sah er und lernte ihr Denken
kennen und litt auf dem Meer viel Qual in seinem Gemüte,
trachtend, sein Leben zu sichern und seinen Gefährten die Heimkehr."

(Homer, Odyssee I,1-5, übers. v. Kurt Steinmann, Zürich (Manesse) 2007, 5)

Das ist, Sie haben es vielleicht erkannt oder geahnt, der Anfang der Odyssee, eines langen Liedes des griechischen Dichters Homer, das in 24 Gesängen von den Irrfahrten des Odysseus erzählt.

"Muse, erzähl mir ..." - von einem Mann wie Odysseus gibt es viel zu berichten: Heldentaten und Irrtümer, Glück und Leid, Erfahrungen, die er machte, und Menschen, die er kennen lernte, bis er am Ende sein Ziel, die Rückkehr zu seiner Frau Penelope, die Rückkehr in die Heimat, erreichte.

Nur wenige Menschen werden von Dichtern so besungen. Das Leben der meisten Menschen erscheint zu alltäglich, nicht wert, dass man es aufschreibt oder dass es gar von einem Dichter besungen wird.

Wenn Sie auf das Leben Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter, Ihrer Freundin zurückblicken, dann war da nichts Besonderes, nichts Aufregendes. Ein ganz normales Leben. Am Ende war es überschattet von einer chronischen Erkrankung, die W schwächte und die in immer kürzeren Abständen wiederkehrte und behandelt werden musste. Bis die massiven Nebenwirkungen der Medikamente und die Auswirkungen der Krankheit auf die Organe den Körper Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter so schädigten, dass sie einen Tag vor ihrem Geburtstag ins Koma gelegt werden musste. Aus diesem Koma ist sie nicht mehr erwacht; sie starb am vergangenen Dienstag im Krankenhaus.

Diese letzten Jahre ihrer Krankheit kann man durchaus mit einer Odyssee, einer Irrfahrt durch verschiedene Krankenhäuser, vergleichen. Viele Stunden, Tage und Wochen hat sie im Krankenbett, in Reha-Kliniken verbracht statt mit Ihnen in Ihrer Wohnung. Ist hin und her geschickt worden von Ärzten, die sie, um sicher zu gehen, oder weil das Blutbild wieder mal nicht in Ordnung war, in die Klinik einwiesen.
Ihre Ehefrau, Ihre Mutter hat diese schwere Zeit tapfer erduldet. Tapfer, weil in dieser Zeit ihr Enkelsohn geboren wurde, und jeder Krankenhausaufenthalt ihr Zeit nahm mit ihrem Enkelkind, verhinderte, dass sie es besuchen konnte. Zum Glück ist er seine Oma besuchen gekommen.

Auch am Anfang ihres Lebens steht eine Irrfahrt: Sie wurde bei Kriegsende aus ihrer Heimat vertrieben - da war W gerade mal etwas älter als ihr Enkelkind - kam nach T, wo sie als Flüchtling nicht willkommen war; wo man ihr gerade so viel gönnte, dass es zum Überleben reichte, aber nichts darüber hinaus - bis sie endlich hier ein neues Zuhause fand.

Es sind keine Heldensagen, die Geschichten, die W erlebte, weder die am Anfang ihres Lebens, noch die am Schluss. Aber sie hat in ähnlicher Weise Qualen und Schmach, Leiden und den Verlust der Heimat erduldet, wie Odysseus es tat. Auch ihr Leben ist wert, besungen zu werden.

Im 139. Psalm, den wir eingangs hörten, heißt es:
"Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war."

Was wir erfahren und erleiden, aber auch, was wir an Glück und Freude erfahren, geht nicht verloren. Bei Gott ist es aufgeschrieben. Gott bewahrt es auf. Bei ihm ist kein Mensch vergessen. Bei ihm ist auch keine Minute unseres Lebens vergessen - selbst, wenn wir uns nicht mehr daran erinnern können, ja sogar wenn es niemanden gibt, der sich unserer erinnert.

Sie erinnern sich an vieles, das Sie in den 48 gemeinsamen Jahren Ihrer Ehe erlebt haben, in den bald 47 Jahren, die Sie Kind Ihrer Eltern sind, in den über 30 Jahren beim Kegeln oder den 25 Jahren in der Gymnastikgruppe und im Freundeskreis, der daraus entstanden ist. Vieles war dabei alltäglich, nicht der Rede wert. Aber wenn Sie nur ein bisschen nachdenken, fallen Ihnen unzählige Begebenheiten und Geschichten zu W ein, kleine und große, erfreuliche und traurige, schöne und schwere. Wenn Sie die alle aufschreiben würden - 24 Gesänge würden wohl gar nicht reichen.

Unzählige Geschichte, in denen W eine wichtige Rolle spielt, sind mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte eng verwoben - bei Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter müsste man wohl eher sagen: Vernäht. Vernäht zu einem riesigen Quilt, einem Flickenteppich.
Sie ist ein Teil Ihres Lebens geworden; Sie können ihre Geschichten nicht mehr herauslösen.
So lebt W in Ihnen weiter. Die Geschichten werden sich verändern, es werden andere dazukommen, auch wieder schöne und aufregende. Der Flickenteppich Ihres Lebens wird vielleicht noch bunter werden. Aber Ihre Ehefrau, Ihre Mutter wird immer einen wichtigen Platz darin behalten.

"Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war."

In Gottes Augen ist das Leben von W wertvoll und wert, aufbewahrt zu werden. Deshalb schenkt er ihr ein neues Leben: Ein Leben, in dem das, was sie erlebt und erlitten hat, nicht einfach ausgelöscht ist.
Die Spuren, die Menschen in ihrem Leben hinterließen, die Liebe, die sie gab und empfing, bleiben erhalten - so wie die Spuren Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter in Ihrem Leben erhalten bleiben. Sie werden verwandelt, und so entsteht etwas Neues.
Was das für Sie sein wird, können Sie heute noch nicht erahnen.

Für Ihre Ehefrau, Ihre Mutter wird es das ewige Leben sein.
Ein Leben, befreit von Leid und Schmerz, von Irrtum und Sorge, von panischer Angst, ja sogar befreit vom Tod.
Sie lebt weiter in diesem Leben bei Gott, wie die Erinnerung an sie in Ihnen weiterlebt. Ihre Irrfahrt ist zu einem glücklichen Ende gekommen; sie ist jetzt am Ziel: sie ist zuhause.
In dieses Zuhause werden auch Sie, werden auch wir eines Tages gelangen.
Solange wir noch auf der Reise sind, grüßen wir die Sterne, an denen wir unseren Kurs abstecken und uns orientieren:
Einer von ihnen ist W.

Amen.