Samstag, 7. Mai 2011

gute Hirten sein

Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 8. Mai 2011 über Ezechiel 34,1-16.31.


Liebe Gemeinde,

Hirten sind out.
Sowas von out!
Ein aussterbender, wenn nicht bereits ausgestorbener Beruf.
Früher, da gab es in jedem Dorf einen Hirten
- und nicht nur einen:
Gänsehirten, Schweinehirten,
Ziegen-, Kuh- und Schafhirten.
Kein besonders angesehener und - mit Ausnahme der Schafhirten - auch kein besonders anspruchsvoller Beruf.
Ein Job für die, die nichts gelernt hatten, für Kinder oder für arme Schlucker.

Aber, wie gesagt, Hirten gibt es nicht mehr.
Hirten sind out.
Trotzdem kann sich jede und jeder etwas unter einem Hirten vorstellen. Denn "hüten" und "behüten" sind nach wie vor wichtige Tätigkeiten, auch wenn es kaum noch Tiere zu hüten gibt.
Wir wissen auch genau, was so ein Hirte tut - oder besser gesagt, tun sollte.
Mit den Worten des Predigttextes ist das:
"das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen; das Verwundete verbinden und das Schwache stärken
und das, was fett und stark ist, behüten."
Das ist es, was ein guter Hirte tut.

Aber obwohl selbst die, die noch nie einen Hirten gesehen haben, genau wissen, wie sich ein guter Hirte verhält,
ist es alles andere als einfach, ein guter Hirte zu sein.
Jedenfalls gibt es mehr schlechte Hirten als gute.
Schlechte Hirten - das sind solche, die die Herde im Stich lassen um "sich selbst zu weiden". Die sich also lieber um sich selbst als um andere kümmern. Oder die, wenn sie für andere sorgen sollen, sehen, dass sie auf keinen Fall zu kurz kommen.
Schlechte Hirten sind solche, die die Schafe schlachten, die sie doch behüten sollen;
die sich nicht für die Schwachen einsetzen und ihnen nicht helfen;
die sich um Kranke und Verletzte nicht kümmern,
nicht darauf achten, dass niemand zurück bleibt und verloren geht, und denen es egal ist, wenn es jemand tut.
Schlechte Hirten sind auch solche, die alle Mittel nutzen, um die Stärkeren schlecht zu machen, auszuschalten und klein zu halten.

Ist Ihnen das auch so bekannt vorgekommen?
Auch wenn es keine Hirten mehr gibt,
das, was die "schlechten Hirten" tun oder nicht tun,
das ist auch heute noch ziemlich alltäglich:
viele verhalten sich wie ein Wolf im Schafspelz.
Deshalb sagt auch ein Sprichwort:
homo homini lupus - der Mensch ist dem Mensch ein Wolf.
Oft ein Wolf im Schafspelz.

II
Aber bevor ich hier möglicherweise unberechtigt auf die Wölfe im Schafspelz einschlage, sollten wir uns vorher fragen, ob die guten Hirten wirklich so gut sind? Denn auch wenn sie sich um die Schäflein sorgen, sich um Kranke und Verletzte kümmern, die Schwachen stärken und die Starken fördern - am Ende werden doch alle Schafe geschlachtet. Wenn nicht von den guten Hirten, so doch von den Herren, denen sie dienen. Unterm Strich kommt es auf das gleiche heraus.

Ist z.B. der amerikanische Präsident Barrack Obama ein guter Hirte, wenn er die Exekution des Erzterroristen Osama bin Laden anordnet? Sind Amerikaner, Franzosen und Briten gute Hirten, wenn sie gegen die libysche Armee und gegen Gaddafi kämpfen, oder wäre es besser gewesen, sich herauszuhalten, wie es die Deutschen gemacht haben?

Wir Deutschen haben mit Hirten ja so unsere Erfahrungen gemacht, mit einem ganz besonders. Nur nannte der sich nicht "Hirte", sondern "Führer". Eine ganze Nation ist diesem "Führer" treu wie Schafe hinterhergelaufen und hat mit ihm den bisher größten, schlimmsten und grausamsten Krieg angezettelt, den die Welt gesehen hat - am 8. Mai vor 66 Jahren ist der 2. Weltkrieg beendet worden.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat schon zu Beginn des Nazi-Regimes davon gesprochen, dass man "dem Rad in die Speichen fallen" müsse und sich mit anderen verschworen, um diesen "Führer" zu ermorden und den Krieg zu beenden.
Eine heikle Entscheidung, ein Dilemma für einen Theologen, der es besonders erst nimmt mit dem fünften Gebot: "Du sollst nicht töten!"
Dietrich Bonhoeffer hat deshalb klar gesagt, dass auch die Exekution eines solchen Terroristen, wie Hitler einer war, ein Mord bleibt und, wer solches tut, keinesfalls ein Held ist, sondern sich schuldig macht.
Aber man macht man sich eben auch schuldig, wenn man etwas unterlässt - das Schwache nicht schützt, das Starke niedertritt und die Schafe frisst.
Eine "richtige" Entscheidung gibt es nicht.
So oder so, man kann nicht ohne Schuld bleiben.

Irgendwann gibt es nur noch zwei Seiten,
irgendwann geht es nur noch um die Frage,
auf welcher Seite man steht.
Und das ist doch unmissverständlich klar,
wo man dann zu stehen hat:
Auf der Seite der Opfer.
Da, wo die guten Hirten stehen.
Die denen helfen, die Opfer eines Mächtigeren werden.
Die Stärkere und Bessere nicht hinterrücks ausschalten.
Die sich für all diejenigen verantwortlich fühlen, die verloren sind, sich verirrten, krank sind oder verletzt wurden.
Zu denen gehören nie die Stars einer Gesellschaft,
auch nicht die berühmte Mitte,
um die die Parteien buhlen.
Es sind die Menschen an den Rändern.
Menschen, die der Gesellschaft angeblich zur Last fallen,
die Unterstützung brauchen und Hilfe.

III
Ich habe aber trotzdem noch nicht auf die Frage geantwortet, wodurch die guten sich von den schlechten Hirten unterscheiden, wenn doch beide die Schafe, die sie hüten, ans Messer liefern - die einen an das ihrer Herren, die anderen ans eigene.
Ich denke, der Unterschied liegt darin, welchem Herrn sie dienen.

Es ist ja eine Binsenweisheit, dass man nicht zwei Herren dienen kann. Schon Jesus sagte das, und er unterschied zwischen Gott und dem Mammon, zwischen dem lebendigen Gott und dem Götzen Geld.
Ich glaube, das ist auch heute noch eine hilfreiche Unterscheidung: Geht es um Gott, oder geht es ums Geld?
Mit anderen Worten: Geht es darum, Liebe, Gerechtigkeit, Frieden unter den Menschen auszubreiten, oder geht es darum, sich zu bereichern, sich einen Vorteil zu verschaffen?
Handle und entscheide ich so,
dass ich mir solches Handeln auch von anderen gefallen ließe,
oder sind mir die Konsequenzen meines Handelns egal,
so dass ich in Kauf nehme, wenn andere unter meiner Entscheidung zu leiden haben?
- Nun, das würde wohl niemand offen zugeben.
Man verbrämt die Opfer der eigenen Handlungen gern
als "Kollateralschäden", oder man sagt, dass es nötig sei, dass Opfer gebracht werden müssten. Die Manager der japanischen Firma Tepco, der der Unglückreaktor von Fukushima gehört, dessen Havarie tausende Obdachlos gemacht hat und noch viele Menschen und Tiere schädigen wird, die hatten dazu gar nichts mehr zu sagen ...

IV
Es ist die Frage, welchem Herrn ich diene - zweien kann ich nicht dienen. Diene ich Gott, oder diene ich dem Götzen Kapital?
Die Antwort auf die Frage fällt leichter, wenn man sich überlegt, was der Herr mit seinen Schäflein macht.
Wer dem Mammon dient, kann sich darauf verlassen, dass zuerst die Schwachen und Kranken geschlachtet werden. Den fetten und starken Schafen wird zwar auch gehörig das Fell über die Ohren gezogen, oder sie werden zumindest ordentlich geschoren, aber sie bleiben am Leben, denn nur so werfen sie Profit ab - oder tragen zur Gewinnmaximierung bei. Alles, was nicht mehr leistungsfähig ist, kann geschlachtet werden - und wird "entsorgt", so dass es möglichst wenig Kosten verursacht - oder man mit der Versorgung dieser Opfer der Marktwirtschaft möglichst noch einen kleinen Gewinn erzielen kann.

Was macht denn Gott, der Herr, mit seinen Schäflein?
Gott schlachtet sie nicht.
Im Gegenteil: Gott schickt seinen Sohn als Lamm mitten unter die Wölfe. Gott liefert seinen Sohn den Menschen aus, die schon immer einander wie Wölfe waren.
Gott opfert nicht, Gott macht sich selbst zum Opfer, indem er seinen eigenen, einzigen Sohn den Menschen in die Hände gibt.

Das ist eine Vorstellung, die man nicht gut aushalten kann.

Aber es ist auch nicht auszuhalten, dass nach dem großen Töten der beiden Weltkriege, in denen unvorstellbare Grausamkeiten verübt wurden, das Töten noch immer weiter ging. Dass der Schwur: "Nie wieder Krieg!" schon gebrochen wurde, kaum dass er ausgesprochen war. Dass Menschen trotz all dieser schrecklichen Erfahrungen noch immer in blinder Wut aufeinander einschlagen, einander alle nur erdenklichen Gemeinheiten antun, obwohl da in Verdun und den vielen andern Kriegsgräberstätten die unermesslichen Reihen weißer Kreuze stehen, für jeden toten Soldaten ein Kreuz ...

Und es ist auch nicht auszuhalten, dass wir mit unserem Lebensstil in ähnlich brutaler Weise unsere Mitgeschöpfe, die Tiere ausrotten, sie einfach platt machen bei der täglichen Fahrt mit dem Auto; dass wir das Klima und das Antlitz dieser Welt verändern mit unserer Art zu leben; es ist nicht auszuhalten, dass es billiger ist, Essen wegzuwerfen, als es Bedürftigen zu geben, einfacher, Tiere zu töten, als sie artgerecht zu halten.
Es ist nicht auszuhalten, und deshalb halten wir uns Augen und Ohren zu, sonst könnten wir nicht mitmachen bei diesem weltweiten, wütenden Opfern.

V
Gott schickt seinen Sohn, den guten Hirten.
Sich das vorzustellen, ist nicht auszuhalten.
Aber es bleibt nicht beim Karfreitag.
Es kommt der Ostertag, die Auferstehung.
Auch wenn er, wie alles Gute und Schöne, ein Opfer der blinden Wut der Menschen wurde: Sie konnten ihn nicht zum Schweigen bringen. Sie konnten ihn nicht vernichten. Er lebt.
Und mit ihm lebt der Glaube an den guten Hirten, der Glaube, dass der Mensch in seinem Innersten doch gut ist, gut sein kann, zum Guten bestimmt ist.

Deshalb feiern wir heute nicht nur den Jahrestag des Kriegsendes. Sondern auch den Muttertag.
Von unseren Müttern lernen wir, das Leben zu lieben und zu schützen. An das Gute zu glauben. Das Verlorene zu suchen und das Verirrte zurückzubringen; das Verwundete zu verbinden und das Schwache zu stärken und das, was fett und stark ist, zu behüten.

Lassen wir uns von diesem Muttertag dazu anregen, einen totgeglaubten Beruf wiederzubeleben: Lassen Sie uns gute Hirtinnen und Hirten sein, die sich verantwortlich fühlen für ihre Umwelt und für ihre Mitmenschen.

Lassen Sie uns versuchen, das Opfern zu beenden.
Es ist genug, dass einer sich geopfert hat für alle.
Ein für allemal.