Samstag, 19. November 2011

Predigt zum Ewigkeitssonntag/ Gedenktag der Entschlafenen

Predigt zum Ewigkeitssonntag/ Gedenktag der Entschlafenen, 20.11.2011 über Daniel 12,1b-3:

Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande. Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.


Liebe Gemeinde,

"es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt", weissagt der Prophet Daniel. Wir denken bei solchen Weissagungen an einen fernen Termin in der Zukunft, an das "Jüngste Gericht". Aber wir müssen gar nicht so weit voraus schauen. Die "Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt", die haben wir selbst schon erlebt, oder erleben sie gerade jetzt. Denn welche Trübsal könnte größer sein als die Trauer über einen Menschen, der gestorben ist und den man geliebt hat?

I
Wir leben im ehemaligen Zonenrandgebiet. Von der Mauer und vom Zaun, der Deutschland teilte, der Trübsal über viele Menschen brachte und an dessen Errichtung vor 50 Jahren wir uns in diesem Jahr erinnert haben, ist nichts mehr zu sehen. Und trotzdem ist vielerorts noch ein Streifen erhalten, der an die ehemalige "Zonengrenze" erinnert: Der sogenannte "Todesstreifen". "Todesstreifen" hieß er, weil dieser Streifen Land anfangs vermint und es deshalb lebensgefährlich war, ihn zu betreten. Und er blieb lebensgefählich: frei gehalten von Büschen und Bäumen, bot er den Grenzposten freies Schussfeld auf jeden, der es wagte, ihn zu betreten. Und nicht zuletzt liefen durch ihn kreuz und quer die Stolperdrähte, die einen "Republikflüchtling" meldeten und die tödlichen Selbstschussanlagen auslösten.
Wir im "Westen" lebten an diesem "Todesstreifen". Wir lebten in seiner ständigen Gegenwart, wir konnten hineinsehen, wir wussten, wozu er da war und was dem passieren konnte, der es wagte, ihn zu überqueren.

II
Auch als Christinnen und Christen leben wir am Todesstreifen. Einmal im Jahr, um diese Zeit, wagen wir es, an die Grenze des Lebens zu treten und hineinzusehen in den Grenzbereich zwischen Leben und Tod, in den Todesstreifen. Uns der Trauer auszusetzen, die die Erinnerung an die Gestorbenen mit sich bringt, und der Todesangst, die einen beim Blick auf diese Grenze befallen kann.

Warum tun wir das? Warum tun wir uns das an? Warum trauen sich Christinnen und Christen immer wieder an diese Grenze, warum sprechen sie über den Tod, den die Gesellschaft doch lieber verschweigt, den sie an die Ränder verbannt, dort, wo man ihn nicht sieht? Warum beharren sie darauf, ihre Toten würdevoll und mit einer Trauerfeier zu bestatten, während die Gesellschaft immer mehr dazu übergeht, die Toten still und heimlich zu "entsorgen" und ihre Gräber unter einem grünen Rasen unkenntlich zu machen?

Sind wir wie manche islamistische Fundamentalisten, die ihr Leben in der Überzeugung wegwerfen, es warte ein ewiges Leben mit paradiesischen Freuden auf sie? Nehmen wir unser Leben nicht ernst und wichtig, weil wir auf ein besseres Leben im Himmel, auf das "ewige Leben", hoffen? Treibt uns gar eine heimliche Todessehnsucht, wie sie in manchen Liedern des Gesangbuchs ihren Ausdruck findet?
Ich kann nur von mir sprechen, aber ich glaube, Christinnen und Christen haben nicht weniger Respekt vor dem Tod als andere, und genauso viel Freude am Leben. Niemand, der nicht völlig verzweifelt ist, möchte sein Leben aufgeben oder wegwerfen; selbst dann nicht, wenn er davon überzeugt ist, dass ein besseres Leben auf ihn wartet.

Christinnen und Christen unterscheidet von anderen dadurch, dass sie es wagen, in den Todesstreifen hineinzusehen. Sie haben Respekt vor dem Tod, sie unterschätzen ihn nicht. Im Gegenteil: Sie nennen die tödlichen Mächte, die das Leben bedrohen, beim Namen. Sie kämpfen gegen den Tod, sie kämpfen für das Leben hier und jetzt, sie kämpfen dafür, dass diese Welt besser wird, nicht für eine bessere Welt im Jenseits.
All das tun sie, weil sie keine Angst vor dem Tod haben.

III
Habe ich da den Mund nicht zu voll genommen, wenn ich sage: Wir haben keine Angst vor dem Tod? Nun, es ist schon ein Zeichen von Mut, wenn man es wagt, den Tod beim Namen zu nennen und nicht von "du weißt schon, wem" zu sprechen. Es ist ein Zeichen von Mut, wenn man sich traut, in einem Gottesdienst der Gestorbenen zu gedenken. Es ist ein Zeichen von Mut, wenn wir uns immer wieder mit dem Tod auseinandersetzen - auch mit der Möglichkeit des eigenen Todes.
Es ist ein Zeichen von Mut. Und es ist ein Zeichen der Freiheit.

Einen Menschen zu verlieren, den man liebte, ist eine "so große Trübsal, wie sie nie gewesen ist". Es gibt nichts Schlimmeres. Wer einen solchen Verlust erlitten hat, der hat etwas sehr wertvolles im Leben verloren - wertvoller als alles, was man an Geld, Einfluss, Leistungen oder Ehren erreichen kann.

Und der hat, wenn der Schmerz über den Verlust nicht mehr alles andere überstrahlt, etwas wichtiges gelernt: Dass die Liebe der größte Schatz ist, den man im Leben erwerben kann. Die Liebe dieses Menschen, der gestorben ist. Aber auch die Liebe all der Menschen, die leben.
Und auf einmal verändern sich die Werte: Besitz, Reichtum, Karriere, Ansehen werden nebensächlich. Was zählt, worauf es wirklich ankommt, das ist die Liebe, die wir anderen schenken und von ihnen empfangen. Sind Mitmenschlichkeit. Nachbarschaft. Freundschaft.
Und auf einmal merkt man: Was das Leben wirklich lebenswert macht, ist genau das: Das ist die Liebe dieses besonderen Menschen, das sind Freundschaft, Solidarität, Menschlichkeit.

Die Nähe des Todes und die Erfahrung des Todes lassen einen erkennen, was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben. Diese Erkenntnis schenkt, so unglaublich es klingt, Freiheit. Indem wir erkennen, was wirklich wichtig ist, werden wir frei von all dem, was uns fesseln will und uns unfrei macht.

IV
Was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben, bemerkt man leider erst, wenn das Leben schon fast vorüber ist. Wenn man am Grab des Menschen steht, den man über alles liebte. Wenn man seine letzten Freunde zu Grabe getragen hat. Wenn man selbst mit der Tatsache seines Todes konfrontiert wird.
Muss man denn wirklich erst den Tod erleben um zu lernen, wie wertvoll das Leben ist, und was im Leben wirklich zählt? Findet man die Freiheit erst dann, wenn man sie nicht mehr genießen kann? Wird man erst aus der schrecklichen Erfahrung des Todes klug?

Der Prophet Daniel möchte uns schon vorher eines besseren belehren.
Er sieht sie voraus, die "Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt". Und er sieht auch voraus, dass "viele, die unter der Erde schlafen liegen, aufwachen werden, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande". Daniel sieht den Todesschmerz voraus. Und er sieht die Auferstehung voraus, ein Leben nach dem Tod, ein ewiges Leben.

Wir können wissen, was uns blüht. Aber wir verdrängen dieses Wissen: Der Gedanke an den Tod ist zu schmerzlich. Und der Glaube an die Auferstehung ist zu ungewiss. Dabei machen wir doch sonst gute Erfahrungen mit dem Glauben. Ich meine nicht den christlichen Glauben. Ich meine den Glauben, dass wir geliebt werden - von der Partnerin, vom Partner, von den Eltern, von den Kindern. Diese Liebe lässt sich nicht überprüfen, sie lässt sich nicht beweisen. Sie ist Vertrauenssache. Sie ist Glaubenssache. Wenn wir an die Liebe glauben können, die uns geschenkt wird, sind wir glückliche Menschen. Wenn wir allen Menschen misstrauen, werden wir krank.

V
In eben dieser Weise glauben wir an die Auferstehung: Sie ist ein Vertrauen in das Leben. In dieses Leben, das wir jetzt und hier leben. Der Glaube an die Auferstehung ist das Vertrauen, dass das Leben nicht vergebens ist. Das wir es nicht wegwerfen müssen, weil wir im Moment nur Leid und Schmerz erfahren. Der Glaube an die Auferstehung ist das Vertrauen, dass das Leben des anderen Menschen nicht vergeblich war: Des Menschen, der gestorben ist. Und das unsere Liebe zu ihm nicht vergeblich war.

Es gibt keine Beweise für diesen Glauben, wie es keine Beweise für die Liebe gibt. Aber es gibt ein starkes Hoffnungszeichen: Jesus, der am dritten Tage auferstanden ist von den Toten. Gott hat den Tod besiegt, lautet dieses Hoffnungszeichen. Der Tod ist noch immer eine Macht, mit der wir rechnen müssen, der wir nichts entgegenzusetzen haben. Aber er hat keine Macht mehr über uns. Er kann uns keine Angst mehr einjagen. Er kann uns nicht vernichten. Wir sind frei, frei von der Angst vor dem Tod und frei von allem, was uns fesseln will. Und wir werden bleiben, dem Tod zum Trotz, und mit uns die Menschen, die wir lieben, und wir werden leuchten wie des Himmels Glanz, und wie die Sterne immer und ewiglich.

Darum haben Christinnen und Christen keine Angst vor dem Tod. Darum wagen wir es immer wieder auf Neue, in den Todesstreifen zu blicken, die Zäune einzureißen und die Minenfelder unschädlich zu machen und den Menschen im Schatten des Todes beizustehen. Weil unser Gott ein Gott der Lebenden ist, der den Tod besiegt hat.

Darin liegt unsere Freiheit. Wenn wir sie richtig gebrauchen - nicht, um uns noch mehr zu nehmen, als wir ohnehin schon haben, nicht, um noch mehr zu erreichen, noch mehr Macht zu haben, noch mehr Geltung, sondern um auf andere Menschen zuzugehen -, dann erfahren wir das größte Glück, das das Leben bieten kann. Dann brauchen wir uns eines Tages nicht zu schämen für unser Leben, weil all die Menschen, denen wir Mitmenschen waren, für uns sprechen werden. Dann werden wir leuchten wie des Himmels Glanz und wie die Sterne, und die, die wir liebten, werden mit uns leuchten immer und ewiglich.

Amen.