Montag, 28. November 2011

Sieben Siegel - Predigt zum 1. Advent

Predigt am 1. Advent, 27.11.2011, über Offenbarung 5,1-14

Liebe Gemeinde,

da steht man morgens voller Vorfreude auf den 1. Advent auf
und freut sich auf den Gang zur Kirche,
mit dem die Adventszeit eingeläutet wird
- und dann trifft man draußen auf dieses fiese,
graue, stürmische Wetter, das zum November passt,
aber so gar nicht zum Advent.
Und dann sitzt man hier in der Kirche
bei Kerzenschein und Adventskranzkerzenglanz
- und hört einen Predigttext,
der so gar nicht zur adventlichen Stimmung passt,
zu unseren Vorstellungen und Erwartungen an einen adventlichen Gottesdienst.

Ein Text wie aus einer anderen Wirklichkeit, wie aus einer anderen Welt.
Fremdartig mutet der Predigttext aus dem Buch der Offenbarung an, und rätselhaft.
Von einem Lamm mit sieben Hörnern und sieben Augen ist die Rede,
"wie geschlachtet" steht es da.
Kann man dem trauen, was der Seher Johannes da sieht und hört?
Hat das irgendetwas mit uns zu tun und unserer Wirklichkeit,
ist das alles nicht nur ein irrer, wirrer Traum?
Man versucht, etwas wiederzuerkennen in diesem Text,
etwas Vertrautes zu finden.
Und dann stößt man plötzlich auf Zeilen, die man kennt.
Zeilen, die den Schlusschor der Oratoriums
"Der Messias" von Georg Friedrich Händel bilden
und die manche oder mancher im Ohr hat:

"Würdig ist das Lamm, das da starb ...
und hat versöhnet uns mit Gott durch sein Blut ...
zu nehmen Stärke und Reichtum und Weisheit und Kraft
und Ehre und Hoheit und Segen.

Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig."

Dieser Schlusschor bildet das Ende des 3. Teils und des ganzen Oratoriums.
Es beginnt mit der Verheißung und der Geburt des Messias,
steigt dann im 2. Teil hinab ins Leiden und in den Tod,
um am Ende des 2. Teils im jubelnden "Halleluja" wieder aufzuerstehen.
Der 3. Teil beginnt mit der Arie "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt"
und endet mit den Worten, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe.

II
Worte.
Worte, die den Mund ganz schön voll nehmen.
Da wird mit aller Macht etwas behauptet,
das unserer Wirklichkeit so gar nicht entspricht.
Am letzten Sonntag haben wir gerade erst noch einmal Abschied genommen
von den Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres,
am Freitag erst hatten wir eine Trauerfeier hier in der Klosterkirche
und am Mittwoch werden wir hier schon wieder Abschied nehmen müssen,
und das wird ein furchtbar schwerer Abschied werden.

Wenn man sich das Leid vor Augen stellt,
das die Angehörigen der Gestorbenen erfahren,
das auch viele von uns schon erfahren haben in ihrem Leben
- wie passen dazu diese triumphalen Zeilen der Offenbarung:
"Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig"?
Das geht doch nicht zusammen?
Das ist doch kein Trost?

Ein eigenartiger, fremdartiger, so gar nicht zur Adventszeit passender Text,
dieser Text aus der Offenbarung.
Und vielleicht gerade deshalb passend in unsere Zeit,
die wenig von weihnachtlichem Frieden hat,
in der befremdliche und beunruhigende Dinge vorgehen
- von den Neonazi-Morden, den Castor-Transporten
über den blutig niedergeschlagenen Aufstand in Syrien
und die zahlreichen Unwetterkatastrophen
bis hin zu den persönlichen Schicksalsschlägen mitten unter uns.
Die Fremdheit des Predigttextes scheint irgendwie zu passen
zu den befremdlichen, beängstigenden Dingen,
die in der Welt geschehen.

Und dennoch: Wenn man selbst Zeuge der Macht des Todes wird,
wenn man am eigenen Leib erfährt, wie machtlos man ist
gegenüber dem, was wir "Schicksal" nennen,
aber auch gegenüber den Plänen und dem Willen anderer
- Vorgesetzter, Arbeitgeber, Nachbarn oder anderer Menschen -,
dann klingen die vollmundigen Worte der Offenbarung wie leere Phrasen.
Sie sagen einem nichts.
Sie sind wie mit sieben Siegeln verschlossene, dunkle Worte.

III
Was aber soll man auch sagen angesichts des Leides,
angesichts des Todes?
Wenn Menschen einen schweren Schicksalsschlag erleiden,
dann fehlen einem die Worte, dann ist man sprachlos und bleibt stumm.
Und das ist auch gut so.
Worte können in so einem Moment nicht trösten.
Es gibt da keine Sätze, die man sich für diesen Fall zurechtlegen könnte,
und auch unser Glaube hat dafür keine Worte.
Man kann nur, wie die Freunde Hiobs, dasein und schweigen,
das Leid und den Schmerz teilen.

Und dennoch dürfen wir nicht sprachlos bleiben angesichts des Todes.
Gerade ihm dürfen wir nicht das letzte Wort lassen.
"Christen sind Protestleute gegen den Tod",
hat ein Theologe (Christoph Blumhardt) mal gesagt.
Es ist unsere Aufgabe, dem Tod die Stirn zu bieten,
uns nicht an ihn zu gewöhnen und ihm nicht das letzte Wort zu lassen.

Aber wie soll das gehen, wenn wir nichts als Worte haben?

IV
Der Seher Johannes weint, weil niemand in der Lage ist,
die sieben Siegel des Buches zu brechen und es zu lesen.
In dieser so befremdlichen Vision beschreibt er etwas ganz Alltägliches.
Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt:
Dass Sie in einem Buch eine Zeile gelesen haben,
die sie schön fanden, die Sie ergriffen hat, so sehr,
dass Sie unbedingt jemandem davon erzählen mussten.
Aber der andere versteht nicht, was Sie meinen,
und den Satz, den Sie ihm vorlesen,
findet er nicht weiter bemerkenswert.
Das ist kein böser Wille. Der andere ist auch nicht zu dumm.
Es ist nur so, dass ihm diese Worte versiegelt sind,
und Sie können dieses Siegel nicht aufbrechen für ihn.

Jede Sonntagspredigt unternimmt den Versuch,
dass Menschen von den Worten des Predigttextes ergriffen werden.
Wenn es dabei allein auf meine Fähigkeiten,
mein rhetorisches Geschick, meine Phantasie, meine Art zu sprechen ankäme,
wäre dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ich kann das Siegel, das auf diesen Worten liegt, nicht brechen.
Ich kann es nicht machen, dass meine Ergriffenheit von diesen Worten
auf Sie überspringt, dass Sie von ihnen ergriffen werden.
Das kann allein das Lamm,
das Sie oben auf dem Hochaltar sehen
- Christus, mit der Siegesfahne in der Hand.

V
Worte.
Es sind nur Worte.
Aber wenn das Siegel, das auf ihnen liegt, gebrochen wird,
können sie unglaublich viel bewegen.
Wer solche Worte hat, dem geben sie Hoffnung in tiefster Verzweiflung.
Wer unüberwindliche Hindernisse vor sich sieht, dem machen sie Mut;
sie trösten in Angst und Leid.

"Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig."

Gott sprach am Anfang: "Es werde ..."
Und Gott hat das letzte Wort.
In diesen Wochen des Advent denken wir daran,
dass Gottes Wort zu uns kommt
in seinem Sohn, der uns die sieben Siegel aufschließt.
Dann geschieht wieder das unglaubliche Wunder,
dass wir erkennen und begreifen,
dass alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis
versammelt sind in einem kleinen, hilflosen Kind
in einer Futterkrippe in einem Stall.
Ein kleines Menschlein, das es mit allen aufnehmen wird:
Mit Leid, Geschrei und Schmerz und sogar mit dem Tod,
das leiden wird und sterben, wie wir.
Aber am Ende wird es leben,
wie auch wir leben werden.
Auf dieses Wunder warten wir im Advent:
darauf, dass Gottes Wort uns ergreift
und so auch durch uns zur Welt kommt.