Donnerstag, 23. Februar 2012

Die Traurigkeit der Welt - 2.Korinther 7,10


Die Traurigkeit der Welt - Predigt zum Aschermittwoch, 22.2.2012, über 2.Korinther 7,10:

"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut; die Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod."


Liebe Gemeinde,

der Dichter Jean Paul war ein Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethes, zu seinen Lebzeiten sogar bekannter und beliebter als der große Geheimrat.
Während Goethe für die Pedelle früherer Zeiten bis hin zu Thilo Sarrazin als *der* deutsche Dichter schlechthin gilt, den man kennen *muss*, ist Jean Paul fast vergessen.
Dabei hat er ein Wort erfunden, das eine große Karriere hinter sich hat, das als Germanismus in viele Fremdsprachen eingewandert ist und das auch Sie sicher kennen, auch wenn Sie noch keine Zeile von Jean Paul gelesen haben sollten.
Das Wort heißt *Weltschmerz*.

Weltschmerz - dieser Begriff beschreibt das Lebensgefühl der Romantik wie kein anderer.
Josef Freiherr von Eichendorff, Clemens Brentano und Heinrich Heine haben es zu dem Wort gemacht,
das heute diese Epoche kennzeichnet
und das eine Haltung zur Welt beschreibt, die auch wir kennen.
Als Jugendliche/r erlebt man "Weltschmerz".
In einem Alter, in dem man besonders empfänglich ist
für romantische Ideen und Gefühle.
Vielleicht denken wir auch an den jungen Werther,
den Sohn des Abtes Jerusalem aus Riddagshausen,
das Vorbild für die Romanfigur Goethes,
dessen Schicksal - auch mit seinem Selbstmord
aus unerwiderter Liebe - bis heute viele Menschen berührt.

Da hätten wir dann auch schon eine Erklärung für diesen eigenartigen Satz des Paulus:
"Die Traurigkeit der Welt wirkt den Tod".
Wer in seiner Traurigkeit, seiner Melancholie so versinkt wie der junge Werther,
für den erscheint der Tod manchmal als einzig möglicher Ausweg.
Insofern ist davor zu warnen, sich dem Weltschmerz hinzugeben, weil man in ihm versinken kann
und dann keinen Ausweg mehr findet.

Weltschmerz - wer ihn empfindet, leidet nicht unbedingt daran,
dass die Welt so ist, wie sie ist.
Aber man kann auch darunter leiden,
dass die Welt so ist, wie sie ist
- das wäre dann ein Weltschmerz im wörtlichen Sinn.
Wenn man die Zeitung aufschlägt,
wenn man die Tagesschau anschaltet,
tut es fast körperlich weh,
wenn man sieht, was Menschen einander antun.
Wie kaltblütig und rücksichtslos über Recht und Gesetz hinweggegangen wird.
Wie stur, gewalttätig und oft über Leichen
Ämter, Ideologien oder fanatische Überzeugungen
verteidigt und zementiert werden.
Wie das Leben, die Unversehrtheit der Person, die Freiheit,
die Würde von Menschen mit Füßen getreten wird.
Allein diese Ungerechtigkeiten mitzuerleben tut weh,
und in der Summe all dieser Ungerechtigkeiten
könnte man zu recht von einem "Weltschmerz" sprechen.

Aber ursprünglich gemeint ist mit diesem Wort etwas anderes,
nämlich: Das Leiden an der Vergänglichkeit der Welt.
Das Leiden daran,
dass man den glücklichen Moment nicht festhalten kann.
Und dass man auch die Menschen, die man liebt,
nicht festhalten kann.
Alles vergeht, alles wird zu Asche, die der Wind verweht.
Schließlich auch wir selbst:
Auch wir können nicht bleiben.
Auch unsere Spuren verweht einst der Wind,
wäscht der Regen weg,
deckt der Staub der Jahre zu.

Auf der einen Seite gibt es das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt,
und auf der anderer Seite das Leiden an ihrer Vergänglichkeit,
an der Endlichkeit allen Lebens.
Manchmal kommt beides zusammen
in Situationen, wo man persönlich von Ungerechtigkeit betroffen ist:
Bei einer Krankheit,
die einem einen Strich durchs Leben macht
oder sogar das Leben bedroht.
Bei willkürlichen Entscheidungen von Vorgesetzten,
die den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten
oder die die berufliche Weitentwicklung, den Aufstieg verhindern.
Bei der Überforderung,
die der Zwang zur Leistungssteigerung
und zur persönlichen Weiterentwicklung
unter immer schlechteren Arbeitsbedingungen und Zukunftsaussichten für viele bedeutet.
Das nennt man dann nicht mehr "Weltschmerz",
sondern "Burnout".

Wenn solche Erfahrungen auch nicht zwangsläufig zum Tod führen müssen,
so stürzen sie die Menschen, die sie machen müssen,
doch in einen tiefen Abgrund, in schweres Leid,
aus dem manchmal nur noch der Tod einen Ausweg zu bieten scheint.
Insofern hat Paulus wohl recht mit seiner Feststellung:
"Die Traurigkeit der Welt wirkt den Tod."

Wenn das so ist - gibt es eine Alternative?
Gibt es etwas, das vor dem Abrund des Weltschmerzes retten kann,
oder ein Hilfsmittel, mit dem man wieder heraus kommt?
"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut", schreibt Paulus.
Man stößt sich an dem Wort "Seligkeit".
Auch so ein romantischer Begriff wie der "Weltschmerz".
Aber im Griechischen steht ein anderes Wort da: *Sotería*.
Rettung.
Und das ist das, was wir suchen.
"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Rettung eine Reue,
die niemanden reut."

Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirft mich zunächst auf mich selbst zurück, wie es auch der Weltschmerz tut.
Aber sie fragt nicht: Woran leidest du? Was fehlt dir?
Sie fragt: Was hast du getan, was tust du, und was wirst du tun - für dich und für andere?
Man könnte meinen,
diese Frage sei noch viel schrecklicher als der Weltschmerz,
sie stürze einen noch tiefer in Elend und Unglück.
Man tut ja nie genug - und oft genug tut man das Falsche.
Man tut Menschen Unrecht, man tut Menschen weh,
und selten tut man jemandem gut.
Ist das wirklich so?

Wenn Gott uns den Spiegel vorhält, dann nicht als strenger Richter,
vor dem wir als Angeklagte stehen, die sich rechtfertigen müssen.
Gott steht an unserer Seite wie eine liebevolle Mutter,
wie ein treuer Freund,
und hilft uns dabei, in den Spiegel unserer Seele zu schauen.
Zu ertragen, dass wir uns darin sehen, so, wie wir sind:
als Menschen, die Fehler gemacht haben.
Als Menschen, denen manches nicht gelungen ist.
Als Menschen, die nicht so erfolgreich, so klug, so stark sind,
wie sich selbst und andere glauben machen wollen.

Gott hilft uns dabei, in den Spiegel unserer Seele zu schauen
und uns zu sehen, wie wir wirklich sind:
Menschen, die schön sind, so, wie sie sind.
Menschen, die liebenswert sind und gut.
Menschen, die viel Gutes getan haben.
Menschen, die manchmal auch zu viel tun
für ihren Beruf und für andere,
und oft zu wenig für sich selbst.
Aber das zu sehen fällt oft schwerer als die Fehler,
die man überdeutlich erkennt und für unübersehbar hält,
während andere fragen: Was meinst du? Welche Fehler?

"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Rettung eine Reue,
die niemanden reut."
Wer nicht total in sich selbst verliebt ist,
wird traurig, wenn er in den Spiegel seiner Seele sieht.
Traurig über die Fehler, die man darin sieht,
und traurig, dass man das Gute übersehen hat.
Die Reue, von der Paulus spricht, bedeutet,
beides zu sehen, die Fehler und das Gute,
und beides nüchtern zu sehen
ohne Vorurteile sich selbst gegenüber,
und ohne Vorverurteilung.

Was wir getan haben, was wir tun und was wir tun werden,
entscheidet nicht darüber, wer wir sind.
Sondern was Gott getan hat, tut und tun wird.
Gott hat uns vergeben.
Gott liebt uns.
Und Gott gibt uns den Glauben, die Liebe und die Hoffnung,
mit denen wir den morgigen Tag bestehen,
mit denen wir in den Spiegel unserer Seele zu blicken wagen,
um uns selbst darin zu sehen als die und als der, die wir sind:
Gottes über alles geliebte Töchter und Söhne.
Das ist unsere Rettung.
Amen.