Samstag, 31. März 2012

Schämen wir uns!


Predigt am 6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum, 1. April 2012,
über Jesaja 50,4-9:

Gott, der Herr, hat mir eine Zunge gegeben,
wie Schüler sie haben,
damit ich zur rechten Zeit ein Wort für die Erschöpften weiß.
Er weckt mich am Morgen.
Am Morgen weckt er mir das Ohr,
damit ich höre wie ein Schüler.
Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet.
Ich wehre mich nicht dagegen, ich weiche nicht zurück.
Meinen Rücken hielt ich den Schlägern hin,
und mein Kinn denen, die mich am Bart zogen.
Ich verbarg mein Gesicht nicht, wenn ich rot wurde
und nicht, wenn ich bespuckt wurde.
Denn Gott, der Herr, steht mir bei.
Darum werde ich nicht rot vor Scham,
darum habe ich mein Gesicht hart wie einen Stein gemacht,
und ich weiß, dass ich mich nicht schämen muss.
Da kommt schon mein Anwalt!
Wer will mit mir einen Rechtsstreit ausfechten?
Lasst uns gemeinsam vor den Richter treten!
Wer ist mein Prozessgegner? Der soll nur herkommen!
Du wirst schon sehen, Gott wird mir helfen!
Wer ist der, der mich schuldig sprechen will?
Du wirst schon sehen, alle werden aufgerieben,
wie ein Kleidungsstück löchrig wird;
die Motte wird sie auffressen!
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

sind Sie heute schon in den April geschickt worden?
An diesem einen Tag im Jahr darf man ungestraft andere hereinlegen.
Das muss man ausnutzen!
Jemanden möglichst gekonnt an der Nase herumzuführen,
ist eine echte Herausforderung.
Wenn der Betrug gelang,
kann man triumphierend "April, April!" rufen
und den entgeisterten Blick des Genasführten genießen,
vielleicht wird er sogar rot vor Scham!
Ein harmloser Scherz.
Aber nicht jeder, der so vorgeführt wurde,
kann darüber lachen.

Der 1. April ist der Tag,
an dem man sozusagen offiziell andere veräppeln darf.
Aber es passiert viel häufiger als nur am 1. April.
Wenn z.B. ein Lehrling in einem Betrieb neu anfängt,
wird er erst einmal hereingelegt.
Er muss dann vielleicht eine "Kolbenrückholfeder" aus dem Lager holen.
Dort gibt man ihm einen besonders schweren Gegenstand mit,
den er in die Werkstatt schleppt - es ist natürlich der falsche.
Er muss noch einmal los. Er muss den Weg so oft machen,
bis er darauf kommt, dass man ihn zum Besten gehalten hat.
Ein harmloser Scherz.
Aber nicht jeder, der so vorgeführt wurde,
kann darüber lachen.

Bei dem, was man mit dem Erzähler unseres Predigttextes anstellt
- er hat keinen Namen,
nennen wir ihn deshalb den "Gottesknecht",
denn dieser Text aus dem Buch des Profeten Jesaja
ist eins der sog. "Gottesknechtslieder" -
bei dem also, was man mit diesem "Gottesknecht" anstellt,
hört der Spaß allerdings auf:
Verprügeln, am Bart ziehen, ins Gesicht spucken,
jemanden vor anderen bloßstellen und beschämen
ist alles andere als harmlos.
Man will diesen Menschen vorführen,
erniedrigen, beschämen
- er wehrt sich nicht einmal dagegen.
Wird aber auch nicht rot vor Scham,
sondern blickt seinen Gegnern in die Augen.
Er beißt die Zähne, kneift die Lippen zusammen
und macht sein Gesicht hart, hart wie Stein.
Diesen Triumph will er seinen Gegnern nicht gönnen,
dass sie sehen, wie er rot wird,
wie er sich abwendet, damit sie ihn nicht weinen sehen.

II
Was bringt einen dazu, andere hereinzulegen?
Warum macht das Veräppeln anderer so viel Spaß?
Ich führe selbst viel zu gern mal jemanden hinters Licht
und kann mich über einen gelungenen Scherz diebisch freuen.
Es ist ein Glücksgefühl wie beim Kreuzworträtsel,
wenn man eine knifflige Frage geknackt hat:
So fühlt es sich auch an,
wenn man jemanden aus der Reserve locken
und seine Selbstsicherheit knacken kann.

Selber hat man es meist nicht so gern,
hereingelegt zu werden.
Da kann man sogar richtig humorlos werden.
Ein Scherz unter vier Augen oder in der Familie ist harmlos.
Aber wenn man vor versammelter Mannschaft zum Besten gehalten wird,
wenn man sich nicht wehren kann,
dann ist das kein Spaß mehr.
Da fühlt man sich in seiner Schwäche bloßgestellt
und vorgeführt.
Es ist erniedrigend.

Genau das haben seine Gegner mit dem "Gottesknecht" vor:
Sie wollen ihn erniedrigen.
Sie wollen ihn zum Opfer machen,
zu einem Opfer ihrer Überlegenheit,
ihres Rechthabens, ihrer Spottlust, ihrer Macht.

Wenn man's recht bedenkt,
wenn man ehrlich zu sich selbst ist,
steckt darin auch der Grund,
warum wir so gern andere hereinlegen:
Es gibt einem für den Moment ein Gefühl der Überlegenheit,
ein kurzes Gefühl des Triumphes über den anderen.

Das ist der Grund,
warum immer wieder Menschen zu Opfern werden.
Das ist auch der Grund,
warum es vor allem Menschen sind,
die selbst nichts Besonderes sind
- nicht besonders mächtig, nicht besonders klug,
nicht besonders einflussreich, nicht besonders stark -,
die andere zu Opfern machen.
Weil sie über das Opfer triumphieren,
sich stark und überlegen fühlen können,
auch - und gerade - dann, wenn sie es nicht sind.

Deshalb werden immer wieder und andauernd
Menschen zu Opfern gemacht,
damit Schwache einen Moment der Stärke genießen können,
damit Menschen, denen die Gesellschaft keinen Wert beimisst,
sich einen Augenblick mächtig und als Herren fühlen können,
damit Menschen, die Erniedrigung erleben,
sich einmal über andere erheben können.
Aber weil das Gefühl des Triumphes nur von kurzer Dauer ist,
müssen wieder und wieder Menschen erniedrigt,
gedemütigt, beschämt und zu Opfern gemacht werden.
Ein Teufelskreis, der die Verhältnisse stabilisiert.

III
Seine Gegner versuchen,
den "Gottesknecht" zum Opfer zu machen.
Warum gerade ihn?
Was hat er ihnen getan?

"Gott, der Herr, hat mir eine Zunge gegeben,
wie Schüler sie haben,
damit ich zur rechten Zeit ein Wort für die Erschöpften weiß."
Das klingt nicht so,
als würde der "Gottesknecht" jemanden provozieren.
Im Gegenteil: Er will helfen,
besonders denen die erschöpft sind,
die am Ende ihrer Kräfte, die ganz unten sind
- und das sind sicher nicht die feinen, einflussreichen Herren.

Er hilft denen, die am Ende ihrer Kräfte sind,
nicht von oben herab mit guten Ratschlägen,
sondern redet mit ihnen wie ein Schüler.
Wie ein Lehrling, den man eben nach einer "Kolbenrückholfeder" geschickt hat.
Er redet mit denen, die unten sind, von gleich zu gleich.
Er ist wahrscheinlich genauso ratlos,
genauso am Ende wie sie.
Aber genau das ist das Wort zur rechten Zeit:
das Wort, an dem man merkt:
Der will mich nicht belehren,
der will mich nicht bekehren,
sondern der fühlt mit mir, der kann mich verstehen.

Der Gottesknecht begibt sich auf das Niveau der Erschöpften.
Er ist sich nicht zu schade dazu,
sich zu ihnen herabzubeugen,
sie ebenso ernst und wichtig zu nehmen
wie eine Persönlichkeit von hohem Rang,
ihnen zuzuhören, wie ein Schüler dem Lehrer zuhört,
und geduldig auf das rechte Wort zur rechten Zeit zu warten.

Und wahrscheinlich ist es genau das,
was seine Gegner so wütend auf ihn macht.
Der Gottesknecht beachtet die natürliche Hackordnung nicht.
Er hält sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln
sondern unterläuft sie im wahrsten Sinne des Wortes,
indem er sich denen zuwendet,
die ganz unten sind,
und sie mindestens ebenso wert schätzt und wichtig nimmt
wie die, die ganz oben sind.
Statt andere zu Opfern zu machen,
opfert er sich lieber selbst.

IV
Mit seinem Opfer entlarvt der Gottesknecht unser Tun.
Auch wir machen Menschen zu Opfern.
Wir machen Menschen zu Opfern,
um dadurch unseren eigenen Rang,
unsere gesellschaftliche Stellung zu stabilisieren.
Oder warum ist es so wichtig,
dass unsere Kinder das Gymnasium besuchen?
Warum hat die Hauptschule einen so schlechten Ruf?
Wir müssen uns, unsere Kinder von anderen abheben,
wir, sie müssen besser, klüger, erfolgreicher sein als andere.
Eine Gesellschaft, in der alle gleich viel wert sind,
gleich viel gelten, gleich viel Einfluss haben
- ohne Rücksicht auf ihre Bildung,
ihre gesellschaftliche Stellung,
ihre Herkunft, ihr Einkommen -
eine solche Gesellschaft können wir uns nicht vorstellen.
Und die wollen wir, wenn wir ehrlich sind, auch nicht haben.

Der "Gottesknecht" ist kein Kommunist.
Ihm geht es nicht um Gleichmacherei.
Ihm geht es um Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit bedeutet, dass niemand
auf Kosten anderer einen Vorteil ausnutzt,
weil er weiß, was andere nicht wissen,
weil er Beziehungen hat zu denen, die entscheiden,
oder selbst Entscheidungen beeinflussen kann.
Aber so funktioniert unsere Gesellschaft:
Wer einen Vorteil hat, nutzt ihn aus
- er wäre ja schön blöd, wenn er's nicht täte,
und außerdem tun's die anderen ja auch.
So produzieren wir täglich auf's Neue
Ungleichheit und Ungerechtigkeit.
So werden täglich auf's Neue Menschen zu Opfern gemacht.

V
Der "Gottesknecht" beachtet die natürliche Hackordnung nicht.
Ihm geht es um das Recht,
deshalb fordert er seine Gegner auch zu einem Rechtsstreit auf.
Nicht um das Recht als abstrakte Größe,
sondern um Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit ist das Anliegen Gottes.
Gott hat ihm das Ohr geöffnet:
er hat ihn empfindlich gemacht gegen Ungerechtigkeit,
jetzt kann er nicht mehr zurück zur alten Ordnung.

Die ersten Christen haben Jesus als den "Gottesknecht" gesehen,
von dem Jesaja erzählt.
Auch Jesus hat sich nicht an die Ordnung gehalten,
sondern sie unterlaufen und sich denen zugewendet,
die ganz unten waren, zu den Zöllnern und Prostituierten.
Seine Gleichnisse handelten von den verhassten Samaritanern,
und seine liebevolle, heilende Zuwendung galt denen,
die von der Gesellschaft ausgeschlossen waren,
den Leprakranken, den Behinderten, den Stigmatisierten.
Als König der Armen und der Bettler ist er in Jerusalem eingezogen,
um sich lieber selbst zu opfern,
als andere zu Opfern zu machen,
und damit seine Zeitgenossen und ihr Tun zu entlarven.

Jesus hat sich geopfert.
Hat sich nicht gewehrt gegen die Schläge,
gegen das Bespucktwerden und Gedemütigtwerden.
Hat aber auch nicht den Blick gesenkt oder abgewandt,
sondern den Tätern ins Gesicht gesehen
und sich nicht geschämt.

So beschämt Jesus uns heute.
Beschämt uns, weil wir ihn genauso wenig aushalten würden,
wie ihn seine Zeitgenossen damals aushalten konnten.
Wir würden ihn genauso zum Opfer machen,
weil wir es nicht schlimm finden
und ganz gut damit leben können,
dass Menschen unter uns zu Opfern gemacht werden.

Heute beginnt die Karwoche.
Wir erinnern uns an das Leid, das Jesus auf sich nahm.
Denken wir auch an das Leid, das wir verursachen,
das Leid, das unserer Gesellschaft verursacht,
indem sie Menschen zu Opfern macht,
von denen sie lebt,
die sie braucht, um zu bestehen.
Ertragen wir den Gedanken an dieses Leid, an diese Opfer,
wenigstens in der Karwoche.
Schämen wir uns.