Donnerstag, 22. März 2012

Der Weg ist das Ziel


Predigt am Sonntag Judika, 25.3.2012, über Numeri 21,4-9:

Die Israeliten zogen weiter, vom Berg Hor auf dem Weg zum Roten Meer, um das Gebiet Edoms zu umgehen. Aber das Volk wurde ungeduldig auf dem Weg. Daher sprachen die Leute zu Gott und zu Mose: "Warum habt ihr uns aus Ägypten hinaufgeführt? Damit wir in der Wüste sterben? Denn es gibt kein Brot und kein Wasser, und wir haben genug von diesem ärmlichen Essen."
Da sandte Gott Giftschlangen unter das Volk, die bissen die Leute, und es starben viele von Israel. Da kam das Volk zu Mose und sprach: "Wir haben uns verfehlt, denn wir haben gegen Gott und gegen dich geredet. Bitte Gott, dass er die Schlangen von uns wegschafft."
Mose bat für das Volk. Da sprach Gott zu Mose: "Mache dir eine Schlange und befestige sie auf einer Signalstange. Jeder, der gebissen wird und sie ansieht, wird leben."
Mose fertigte eine Schlange aus Metall an und befestigte sie auf der Signalstange. Und wenn eine Schlange jemanden biss und er sah die Schlange aus Metall an, blieb er am Leben.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

"Der Weg ist das Ziel!"
Mit diesem Slogan wird man aufgefordert,
auf den Weg zu achten und ihn wertzuschätzen,
selbst wenn er beschwerlich ist,
auch wenn er einen Umweg darstellt.
Denn es geht um den Weg selber
und um das, was auf diesem Weg
zu erfahren, zu erleben, zu lernen ist.

"Der Weg ist das Ziel!"
Wenn unterwegs diese Parole ausgegeben wird,
sollte man allerdings misstrauisch werden.
Vielleicht soll der Hinweis auf den Weg nur davon ablenken,
dass das Ziel der Reise ungewiss ist,
oder der Reiseleiter sich verlaufen hat.

Eine Weile lässt man sich das ja gefallen,
dieses auf-den-Weg-Achten:
Wenn die Verpflegung stimmt,
die Wanderung kurzweilig ist
und die Landschaft einigermaßen abwechslungsreich.
Weiß aber selbst der Reiseleiter nicht mehr weiter,
beginnen Landschaft und Reisegesellschaft zu langweilen,
wird gar die Verpflegung knapp oder ungenießbar,
verliert auch der geduldigste Teilnehmer die Lust am Wandern.

I
Das Volk Israel hat unser Mitgefühl.
Ein Land voller Überfluss war ihnen versprochen worden,
ein Land, darin Milch und Honig fließt.
Aber statt auf direktem Weg dorthin,
führen Gott und Mose sie
kreuz und quer durch die Wüste.
Allmählich werden Zweifel an der Leitungskompetenz des Mose laut;
man fragt sich, welchen Plan Gott verfolgt,
wenn er das Volk so umherirren lässt.

Dazu ist die Verpflegung eintönig,
es gibt irgendetwas Undefinierbares.
"Man hu?", fragten die Israeliten,
als sie es zum ersten Mal sahen, "Was ist das?" (2.Mose 16,15).
Manna, dieses süße Zeugs,
das nach Honigsemmel schmeckt (2.Mose 16,31),
wird seitdem jeden Tag aufgetischt, morgens und abends.
Kein Wunder, dass sich immer mehr Leute
nach den "Fleischtöpfen Ägyptens"
oder wenigstens einem anständigen Wurstbrot sehnen.

Man kann verstehen, dass die Israeliten langsam, aber sicher
ungeduldig und grantig werden
und ihren Unmut gegenüber der Reiseleitung äußern.
Man selber würde es nicht anders machen.
Nur versteht die Leitung leider überhaupt keinen Spaß,
sondern reagiert äußerst heftig:
Mit Giftschlangen bringt Gott die schimpfenden Israeliten
zum Schweigen - im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine unerklärliche und völlig überzogene Reaktion des Reiseleiters.
Sicher, die Israeliten könnten dankbarer sein,
dass Gott sie vor der Sklaverei in Ägypten bewahrt
und durch Mose in die Freiheit geführt hat.
Aber Undankbarkeit derart zu bestrafen?
Was ist das überhaupt für eine Freiheit,
die nie aus dem Niemandsland herausführt,
die man nie wirklich zu schmecken bekommt?
Da sind doch offenbar Versprechungen,
unter denen die Reise angetreten wurde,
nicht eingehalten worden,
so dass man mit gutem Recht
sein Rücktrittsrecht geltend machen kann!

Für die Israeliten aber gibt es kein Zurück.
Das wissen sie selbst.
Die Fleischtöpfe Ägyptens sind, wenn überhaupt,
dann nur um den Preis erneuter Versklavung zu erreichen.
Und es reift die Einsicht,
man hätte vor Reiseantritt
besser das Kleingedruckte gelesen,
hätte genauer überlegt,
worauf man sich bei dieser Reise einlässt
und zu welchem Ziel man unterwegs ist.

II
Offenbar ist dies keine Wellness-Veranstaltung,
keine Rundum-Verwöhn-Kur mit Buffet und allem Komfort.
Es ist ein Weg durch die Einsamkeit und Leere der Wüste,
der die Israeliten mit sich selbst konfrontiert
und sie sich fragen lässt,
welches Ziel sie nach der Flucht aus Ägypten
eigentlich gewinnen wollen.
Es ist eine Wanderschaft,
bei der Gott ihnen ganz nahe ist
- so nah wie nie zuvor -,
und gleichzeitig völlig fremd.

Und dennoch ist Gott,
der ihnen die Giftschlangen auf den Hals hetzt,
der selbe, der sie gerettet hat
aus der Sklaverei in Ägypten
vor den Soldaten des Pharao,
vor Hunger und Durst in der Wüste.
Gott, der ihnen vorangeht
in der Wolkensäule am Tag
und in der Feuersäule bei Nacht (2.Mose 13,21-22).
Ein schrecklich lebendiger Gott,
der, offenbar tödlich beleidigt,
sich mit tödlichen Giftschlangen revanchiert.

Hier könnte man stehen bleiben,
den Staub von den Sandalen schütteln
und diesem unverständlichen, ungerechten Gott
samt seinem Diener Mose die Brocken vor die Füße werfen.
Könnte das Nachdenken über diese Geschichte aufgeben,
weil es einfach nicht zu begreifen und zu ertragen ist,
dass Gott, der doch so sehr auf der Seite seines Volkes ist,
der alles tut, um es zu retten und zu beschützen,
es im nächsten Augenblick dem Tod überlässt.

Man könnte diesen unbegreiflichen Gott ignorieren und ablehnen,
wenn - ja, wenn man nicht wüsste,
dass wir uns manchmal selbst unbegreiflich sind.
Auch bei uns liegen Liebe und Hass
manchmal erschreckend nah beieinander:
Über einen Menschen, den man sehr lieb hat,
kann man sich manchmal auch schrecklich ärgern;
so sehr, dass man ihm weh tut.
Eine Liebe, die einzigartig schien, riesengroß und unzerstörbar
kann, wenn sie zerbricht,
Menschen, Beziehungen völlig vergiften.

III
Die Israeliten geraten unter den Bissen der Giftschlangen
ins Nachdenken über Gott und ihre Welt
- etwas, das sie vielleicht schon früher hätten tun sollen.
Dabei wird ihnen klarer,
was sie verloren und was sie gewonnen haben.
Verloren haben sie die "Fleischtöpfe Ägyptens",
ein Leben, das zwar nicht ihr eigenes war,
in dem sie sich aber eingerichtet hatten
und das ihnen manche Annehmlichkeiten bot.
Verloren haben sie auch die Heimat,
in der sie zwar Fremde waren,
nur geduldet als Menschen zweiter Klasse,
wo sie aber immerhin ein Dach über dem Kopf hatten,
ein Zuhause.

Gewonnen haben sie die Freiheit,
aber nicht eine bessere Welt.
Sie sind im Niemandsland;
noch ist gar nicht absehbar,
was werden, wie sich ihre neu gewonnene Freiheit
gestalten wird.

Gewonnen haben sie die Freundschaft Gottes,
der sie von dem, woran ihr Leben bisher hing,
trennt und entfremdet
und der sehr eifersüchtig darüber wacht,
dass sie nicht in den alten Trott zurückfallen;
der schrecklich enttäuscht ist darüber,
wenn die Israeliten ihm nicht vertrauen.

Den Israeliten wird klar,
dass sie sich entscheiden müssen
für ihr altes Leben,
in das sie aber schon nicht mehr zurück können
und eigentlich auch nicht zurück wollen,
oder für das Vertrauen auf die Freundschaft Gottes,
der sie befreit hat und ihnen eine Zukunft verspricht
- allerdings um den Preis,
die Leere und Eintönigkeit der Wüste erst einmal auszuhalten,
den Weg in ein anderes Leben erst einmal auf sich zu nehmen.

IV
Die Israeliten geraten unter den Bissen der Giftschlangen
ins Nachdenken über Gott und ihre Welt.
Und es rettet sie der Blick auf die Schlange,
die Mose an einer langen Stange hochhält,
damit alle sie sehen können.

Was sehen sie da?

Die Schlange erinnert sie daran,
wie wenig greifbar Gott ist,
wie wenig greifbar sie selbst auch sind.
So, wie die Schlange sich windet,
schwanken sie
zwischen Heimweh nach dem Vertrauten und Bequemen
und der Sehnsucht nach Veränderung und Neuem
hin und her.

Die Schlange erinnert an Gottes
und an die eigene Unbegreiflichkeit.
Indem man sie ansieht
und das eigene Schwanken wahrnimmt,
wird man gerettet.
Indem man sich bewusst wird,
was man verliert und gewinnt,
kann man sich entscheiden für das,
was das Leben befördert.

Nicht umsonst wird diese Geschichte in der Passionszeit erzählt.

So, wie Mose die Schlange an einer Stange aufrichtet,
damit alle sie sehen können,
so ist das Kreuz nicht zu übersehen,
an dem Gottes Sohn stirbt.
Und ebenso wie die Schlange
ist auch das Kreuz ein Symbol
für Gottes Unbegreiflichkeit,
der seinen Sohn den Menschen überlässt,
und damit dem sicheren Tod,
und für unsere eigene Unbegreiflichkeit,
weil es um unseretwillen offenbar dieses Opfers bedurfte.

Wir machen immer wieder Menschen zu Opfern,
werden manchmal selbst zu Opfern gemacht.
Vor allem aber opfern wir Menschen
am Kreuz unseres Konsums und unseres Wohlstands.
Damit freie Bürger freie Fahrt haben,
nehmen wir die Verkehrstoten in Kauf.
Damit der Strom reichlich fließt
und wir uns nicht einschränken müssen,
bürden wir unseren Kindeskindern Abfälle auf,
die niemand entsorgen kann.
Damit unsere Wirtschaft wächst
und wir Arbeitsplätze haben,
müssen Menschen in anderen Ländern für Hungerlöhne arbeiten
müssen Erwachsene und Kinder in der Sahelzone verhungern,
die für einen Bruchteil des Geldes,
das wir zur "Rettung der Banken" ausgegeben haben,
gerettet werden könnten.

V
Der Blick auf das Kreuz kann uns retten.
Er kann im wahrsten Sinne des Wortes Leben retten.
Zuerst unser eigenes:
Indem wir uns bewusst werden,
dass Gott uns so sehr liebt,
dass er sich selbst kreuzigen lässt,
damit wir uns nicht opfern müssen.

Und dann das Leben anderer,
indem wir im Blick auf das Kreuz erkennen,
dass wir auf dem falschen Weg sind,
wenn wir zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens wollen.

Der Weg in die Freiheit für alle Menschen
führt durch die Öde und Einsamkeit der Wüste.
Er hält Verzicht und Entbehrungen bereit,
und es ist gar nicht klar,
ob wir jemals das Ziel erreichen,
das uns vor Augen steht:
Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen.
Aber in diesem Fall ist der Weg das Ziel.
Jeder Schritt, den wir auf ihm gehen,
kann die Welt retten
und unsere Rettung sein.
Amen.