Sonntag, 15. April 2012

Désinvolture - Konfirmationspredigt


Predigt zur Konfirmation am Sonntag Quasimodogeniti, 15. April 2012 in der Klosterkirche Riddagshausen über Matthäus 12,1–8.

Liebe Konfirmandinnen, liebe Konfirmanden,

I
Ihr habt schon viele Geschenke bekommen und bekommt heute noch mehr, auf die Ihr Euch wahrscheinlich schon freut. Ich möchte Euch heute auch etwas schenken. Ich habe aber kein Päckchen dabei und leider auch keinen Briefumschlag, sondern nur diese Zettel hier. Was ich Euch schenken möchte, ist deshalb ein Wort. Ein Wort, das Ihr wahrscheinlich noch nicht kennt und das selbst Eure Eltern und Familien noch nicht gehört haben könnten.

Ich kann mir vorstellen, dass die Aussicht, ein Wort geschenkt zu bekommen, nicht besonders prickelnd ist. Ich wäre wahrscheinlich auch enttäuscht, wenn mir jemand zum Geburtstag sagen würde: “Guck mal, ich hab’ dir ein Wort mitgebracht, das will ich dir schenken - freust du dich?” Und dann ist es vielleicht sogar ein Wort, das ich schon kenne, und ich kann’s nicht umtauschen ...

Andererseits kann ein richtiges Wort zur richtigen Zeit richtig gut tun und ungeheuer viel bewirken. Fragt mal Eure Eltern in einer stillen Stunde, wie das war, als sie sich verliebt haben. Oder wer wem den Heiratsantrag gemacht hat, wie er das angestellt, und was er dabei gesagt hat.

Aber man muss ja gar nicht über solche für Euch und Eure Eltern vielleicht zu persönlichen Dinge sprechen. Euer Name ist zum Beispiel so ein mächtiges Wort. Er gehört zu Euch, Ihr seid damit ansprechbar. Und eines Tages wird jemand, den Ihr liebt, ihn auf ganz einzigartige, einmalige Weise sagen. So, wie Eure Eltern das jetzt schon tun - auch, wenn Ihr’s meistens nicht bemerkt, weil es jeden Tag gefühlte hundert Mal passiert und nicht immer nur im freundlichen Ton. Die Art, wie Eure Eltern Euren Namen aussprechen, werdet Ihr nie vergessen. Der Klang Eures Namens aus dem Mund Eurer Mutter, Eures Vaters wird Euch begleiten, auch, wenn Ihr einmal von zuhause ausgezogen seid.

Mächtige Worte sind auch Lob und Kritik. Man kann einen Menschen mit Worten aufbauen, indem man ihm zeigt, wie stolz man auf ihn ist, wie gern man ihn hat; indem man wahrnimmt, was er leistet, und seine Arbeit schätzt.

Und man kann einen Menschen klein machen und zerstören, indem man ständig etwas an ihm auszusetzen hat, indem man ihn herunterputzt, abwertet, verächtlich macht und sich weigert, ihn und das, was er getan hat, anzuerkennen.

II
Das Wort, das ich Euch heute schenken möchte, wird Euch jetzt noch nicht viel nützen - allenfalls kann man damit angeben, dass man ein Wort kennt, das die meisten noch nie gehört haben. Aber ich hoffe, dass es in Zukunft für Euch wichtig wird.

Das Wort heißt Désinvolture [1].

Es stammt aus dem Französischen, wie man hört. Seine Bedeutung erhielt es von dem Schriftsteller Ernst Jünger [2] - ein ziemlich umstrittener Schriftsteller der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Das sagt Euch jetzt nichts, und es ist auch nicht wichtig. Aber mit “Coolness” und “Coolsein” könnt Ihr etwas anfangen. Désinvolture ist so etwas ähnliches. Was genau es ist, erklärt eine Geschichte aus dem Matthäusevangelium, die ich Euch vorlesen möchte:

Jesus ging am Sabbat durch ein Kornfeld. Seine Jünger waren hungrig und fingen an, Körner aus den Ähren zu puhlen und zu essen. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu ihm: Sieh mal, was deine Jünger tun! Das ist am Sabbat nicht erlaubt! Er aber sprach zu ihnen: Habt ihr nicht in der Bibel gelesen, was David tat, als er und seine Gefährten Hunger hatten? Wie er in das Haus Gottes ging und wie sie die Schaubrote aßen, die doch weder er noch seine Gefährten essen durften, sondern nur die Priester? Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt (Hosea 6,6): “Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer”, dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt.

Was soll an dieser Geschichte cool sein? Der Landwirt, dem das Kornfeld gehörte, wird es ziemlich uncool gefunden haben, dass Jesus und seine Jünger ihm das Getreide zertrampelten. Aber es ist schon beeindruckend, wie Jesus seine Jünger verteidigt, die sich nicht an die Regel gehalten haben, dass man am Sabbat nicht arbeiten darf. Das Gebot, den Sabbat zu halten, steht in der Bibel. Jesus aber setzt sich über dieses Gebot hinweg, er bricht es, weil seine Jünger Hunger haben. Satt werden ist wichtiger als Sabbat halten. Jesus tut das auch nicht heimlich, sondern vor den Augen der Pharisäer, vor Leuten, die es mit dem Gesetz sehr genau nehmen und die später mit für seine Verurteilung und Kreuzigung sorgen. Ich finde das schon ziemlich cool.

III
Ich hoffe, damit mache ich mich nicht bei Euren Eltern unbeliebt. Denn ich sage ja irgendwie: Es ist cool, Regeln zu brechen. Aber das habt Ihr sicher schon selbst herausgefunden. In Eurem Alter beginnt man, auszutesten, wie weit man gehen kann, und wo die Grenze ist. Was passiert, wenn ich, statt wie vereinbart um Zehn, erst um Elf Uhr nachts nach Hause komme? Kann ich auf diese Weise vielleicht ein bisschen Zeit schinden, oder fange ich mir Ärger - und ein Ausgehverbot - ein? Auch im Freundeskreis ist es cool, Grenzen zu überschreiten - heimlich eine Zigarette zu rauchen, oder an der Ampel nicht auf Grün zu warten, sondern bei Rot zu gehen, wenn die Straße frei ist.

Aber spätestens hier merkt man, dass Coolsein nicht gleich Coolsein ist. Es gibt auch eine ziemlich dumme und gefährliche Coolness - dann nämlich, wenn man nicht weiß, was man tut, wenn man die Folgen nicht bedenkt, wenn man sich selbst überschätzt und Regeln bricht, ohne zu wissen, warum. Die tödlichen Unfälle an Bahnübergängen sind ein Beispiel dafür, dass man sich manchmal besser an Regeln und Verbote hält, wenn einem sein Leben lieb ist.

Aber wie erkennt man die Grenze? Woher soll man wissen, welche Regeln man brechen darf, ja, vielleicht sogar brechen muss, und welche man besser einhält? Jesus hat einen Maßstab dafür gegeben: “Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt: Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer”.

IV
Der Maßstab für das Brechen von Regeln ist die Barmherzigkeit. Auch so ein komisches, unbekanntes Wort wie Désinvolture. Aus Barmherzigkeit darf man, muss man manchmal Regeln brechen. Ein Krankenwagen zum Beispiel, der einen Patienten mit Blaulicht ins Krankenhaus bringt, braucht sich nicht an rote Ampeln zu halten und darf sich die Vorfahrt nehmen - was sonst streng verboten ist -, um der Barmherzigkeit willen: Um ein Menschenleben zu retten. Die Jünger Jesu durften am Sabbat “arbeiten”, weil sie Hunger hatten; Jesus hatte Mitleid mit ihnen. Jesus hat Menschen am Sabbat geheilt - aus Barmherzigkeit.

Hinter dem altertümlichen Wort “Barmherzigkeit” steckt - die Liebe. Denn das Wort “Barmherzig” kommt vom warmen Herzen - ein Herz, das von der Liebe warm ist, oder sogar vor Liebe glüht. Der Liebe wegen darf man Regeln brechen.

Liebe? Aber die ist doch sowas von uncool! Liebe und Coolness haben doch nichts miteinander zu tun! Wenn man mit Liebe nur Schlagermusik und die Herz-Schmerz-Filme aus dem Vorabendprogramm verbindet, dann habt Ihr recht: Die sind ziemlich uncool. Aber Ihr werdet bald entdecken - wenn Ihr’s
nicht schon längst herausgefunden habt -, dass Liebe etwas sehr Cooles sein kann.

Richtig cool wird die Liebe nicht nur dann, wenn man sich in einen anderen Menschen unsterblich verliebt. Cool ist die Liebe auch in Form der Barmherzigkeit, wenn sie Menschen gilt, die andere für uncool halten. Wenn man sich stark macht für Schwächere; wenn man auf Außenseiter zugeht und sie nicht in der Ecke stehen lässt, oder wenn man Regeln bricht, um anderen zu helfen. Damals, im sogenannten “Dritten Reich”, wäre solche Coolness bitter nötig gewesen. Da hätte es Menschen jüdischen Glaubens geholfen, wenn sich ihre Nachbarn und Freunde hinter sie gestellt hätten. Aber es waren nicht viele so cool sich zu trauen, barmherzig zu sein; sich an die Seite derer zu stellen, die von anderen ausgegrenzt und zu “Untermenschen” erklärt wurden; Regeln zu brechen, um Menschenleben zu retten.

V
Désinvolture ist keine Sache für einen allein. Wer nur für sich selbst cool sein will oder von anderen für cool gehalten werden will, der ist kalt, aber nicht cool. Wahre Désinvolture erfordert Barmherzigkeit und Mut. Es geht nämlich nicht darum, einfach nur Regeln zu brechen. Es geht darum, wann und wie man sie bricht. Und für wen.

Regeln sind notwendig. Es ist gut, dass es sie gibt. Sie sollten nicht ohne Not gebrochen werden, denn sie haben meistens einen guten Sinn; oft sind sie sogar lebenswichtig.
Wenn man aber Opfer bringen muss, um sie einzuhalten, darf und sollte man allerdings fragen, ob diese Regeln wirklich so sein müssen, wie sie sind.
Und wenn andere durch diese Regeln zu Opfern werden, dann sollte man den Mut, die Unverfrorenheit, die Chuzpe, die - Désinvolture besitzen, sie zu brechen, um den Opfern zu helfen.

Coolness ist eine tolle Sache. Aber wenn man sie trägt wie ein Kleidungsstück, wenn man meint, es sei cool, kaltherzig anderen gegenüber zu sein, irrt man sich. Das ist nicht cool, das ist nur gemein. Wahre Coolness, wahre Désinvolture wendet sich barmherzig den Mitmenschen zu ohne Angst, sich dabei einen Zacken aus der Krone zu brechen. Jesus konnte das. Er war eben richtig cool.

Ich wünsche Euch, dass Ihr Freude daran habt, Eure Grenzen kennen zu lernen und auszuprobieren, und dass Ihr die Désinvolture besitzt, die Jesus hatte, weil Ihr den Unterschied kennt. Den Unterschied zwischen Kälte und Coolness, der darin besteht, dass Gott Wohlgefallen hat an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.
Amen.

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Anmerkungen:

[1] Die in der Predigt vorgenommene Füllung des Begriffs Désinvolture verdankt sich dem - im übrigen sehr empfehlenswerten - Essay von Alexander Pschera, 800 Millionen. Apologie der Sozialen Medien, Berlin (Matthes & Seitz) 2011, ISBN 978-3-88221-578-6. Dort schreibt er: "Das Netz ist eine Vorschule des Désinvolture und zugleich eine Vorschule einer neuen Form demokratischer Macht" (a.a.O., S. 62) und: "Einem Blick der Tapferkeit, der das Neue und Unübersichtliche auf sich nimmt, gibt sich das soziale Netz als Erweiterung unserer Möglichkeiten zu erkennen. Denn es öffnet spontane Zugänge zu einem noch nicht machtpolitisch verschlüsselten Leben. (...) Daher ist es nachvollziehbar, dass die unverschämte Unverbindlichkeit der sozialen Medien Widerstand erzeugt in einer theatralischen Gesellschaft, die mehr um ihre Rollen als um ihre Identität bemüht ist." (ebd., S. 63).

[2] Diese Information und eine ganz wesentliche Anregung zu meiner Predigt verdanke ich dem wunderbaren, überaus gelehrten und mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen gespickten Vortrag von Dirck Linck, Désinvolture und Coolness. Über Ernst Jünger, Hipsters und Hans Imhoff, den »Frosch«, Vortrag auf der Jahreskonferenz des Sonderforschungsbereichs »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (SFB 626), die vom 3. bis zum 5. November 2006 im Hamburger Bahnhof in Berlin zum Thema »Bewegte Erfahrungen« stattgefunden hat. Zuerst abgedruckt in Kultur & Gespenster, Ausgabe 3, Winter 2007. Netzveröffentlichung unter http://druckversion.studien-von-zeitfragen.net/Desinvolture.pap.pdf . 
Dort findet sich auch eine wunderbare Anekdote über Jünger, die ich hier gern noch zitieren möchte: "Als Ernst Jünger in den 60er Jahren die Villa Massimo besucht und vor den deutschen Jungschriftstellern sein schönes goldenes Feuerzeug herzeigt, da klauen sie ihm das. Désinvolture." (A.a.O., S. 19)