Freitag, 27. April 2012

Wie neu geboren


Predigt am 3.Sonntag nach Ostern, Jubilate, 29. April 2012, über 2.Korinther 4,16-18:

Darum sind wir nicht mutlos,
sondern wenn auch unser Äußeres zugrundegeht,
wird doch unser Innerstes Tag für Tag erneuert.
Die gegenwärtige leichte Belastung durch unsere Leiden und Nöte
bewirkt nämlich für uns,
die wir uns nicht auf das Sichtbare,
sondern auf das Unsichtbare ausrichten, 
eine überwältigende, ewige Fülle der Herrlichkeit.
Denn das Sichtbare vergeht,
das Unsichtbare aber bleibt ewig.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Gemeinde,

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich "Euer Gnaden".

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

(Joachim Ringelnatz) [1]
I
Wann sind Sie das letzte Mal so knallvergnügt erwacht?
Wann haben Sie sich vor Freude und Tatendurst die Hüften geklatscht,
ohne bei "Hüfte" gleich an Speckröllchen und "Hüftgold" zu denken?
Wann haben Sie zuletzt ungeheuren Appetit nach Leben verspürt?

Wer am Morgen so gut gelaunt ist wie Joachim Ringelnatz,
der dieses Gedicht geschrieben hat,
macht sich unbeliebt.
Besonders an einem Montagmorgen -
der kommende Montag bildet als "Rolltag"
da allerdings eine Ausnahme.

Zum guten Morgen-Ton gehört eine miesepetrige Stimmung,
weil man früh aufstehen und zur Arbeit muss;
gehört das Schimpfen über den Berufsverkehr
oder den überfüllten Bus,
das Lästern über Chef und Kollegin,
die man gleich wieder einen halben Tag lang ertragen muss.

Zum guten Morgen-Ton gehört für Kinder und Jugendliche
die Unlust auf die Schule,
für Senioren das Jammern über Schlaflosigkeit in der Nacht,
über Schmerzen und Beschwerden beim Aufstehen.
Niemand aber würde es wagen,
von seiner guten Morgenlaune zu erzählen -
man würde es sich mit allen verderben
oder als weltfremder Spinner dastehen.

Aber - Hand auf's Herz:
Eigentlich spricht Ringelnatz mit seinem Gedicht
einen Wunschtraum aus, den viele teilen können:
Dass man den Morgen nicht fürchten muss,
weil man schon vorher weiß, was er an Beschwerden, Ärger,
Langeweile oder Belastungen bringt,
sondern den neuen Tag fröhlich begrüßen kann.
Dass man gut gelaunt und hüftenklatschend aus dem Bett springt
und sich ungeduldig darauf freut,
was dieser Tag an Überraschungen parat hält.
Kinder erleben das manchmal am Wochenende,
oder in den großen Ferien.
Aber für Erwachsene hat diese Erfahrung Seltenheitswert.
Manche machen sie noch, wenn sie frisch verliebt sind,
am Geburtstag, oder beim Aufbruch zum lang ersehnten Urlaub.
Die meisten aber erleben das Aufstehen als ein Muss,
als einen Zwang oder eine Qual,
und selbst wenn sie sich doch ein bisschen darüber freuen,
würden sie das niemals zugeben.

II
Warum fällt es so schwer, knallvergnügt zu erwachen
und sich hüftenklatschend in den neuen Tag zu werfen?
Was lähmt uns, was zieht uns so herunter,
dass wir bleischwer und missmutig den Tag in Angriff nehmen
wie eine quälende, ungeliebte Arbeit, der man nicht entgehen,
eine lästige Pflicht, der man sich nicht entziehen kann?

Es wird wohl die Erfahrung zu vieler bleierner Tage sein,
die man im Laufe des Lebens angesammelt hat.
Es wird das berufliche Einerlei sein,
das einem wenig Abwechslung bietet:
wenig Erfüllung durch die Arbeit,
fehlende Anerkennung durch Vorgesetzte oder Kollegen,
keine Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten.
Es werden die Sorgen und Probleme,
die Schmerzen und Schwierigkeiten sein,
die sich pünktlich mit dem Aufwachen wieder zurückmelden,
nachdem der Schlaf sie für ein paar Stunden ausgeblendet hatte.

Es wird die Last und Verantwortung dieses neuen Tages sein,
der wieder nur ein Alltag ist,
die man nicht los wird, die einem niemand abnimmt,
sondern die man wieder selber schultern muss,
um sie auch durch diesen Tag zu schleppen
wie Sysiphos, ohne irgendwo anzukommen,
ohne Aussicht, die Last der Verantwortung
irgendwann absetzen und los werden zu können.

Dieses Wissen, das man schon beim Aufwachen hat,
dass jeder neue Tag doch wieder nur ein gebrauchter ist, ein Alltag,
das nimmt einem die Freude am Aufstehen,
das lässt einen neidisch und missmutig auf all jene schauen,
die pfeifend oder summend, mit einem Strahlen im Gesicht
ihren Tag beginnen.
Warum können wir das nicht?

III
"Darum sind wir nicht mutlos,
sondern wenn auch unser Äußeres zugrundegeht,
wird doch unser Innerstes Tag für Tag erneuert",
schreibt Paulus.
Er kennt das Geheimnis innerer Erneuerung.
Er weiß, wie man jeden neuen Tag als Geschenk erlebt,
auf das man sich knallvergnügt freuen,
dem man hüftenklatschend entgegenfiebern kann.

Wenn es einem wirklich mal gut geht,
dann sagt man manchmal,
man fühle sich "wie neu geboren".
So muss man sich wahrscheinlich die innere Erneuerung vorstellen,
von der Paulus spricht.
Dieses Gefühl setzt uns auf die Spur,
die Paulus für uns gelegt hat: auf die Spur der Auferstehung.
Paulus macht das an anderer Stelle deutlich,
im 6. Kapitel des Römerbriefes.
Da spricht er davon,
dass die Taufe uns mit dem Tod Jesu am Kreuz verbindet.
Früher, als man bei der Taufe noch ganz untergetaucht wurde,
ist das deutlicher zu spüren gewesen als heute,
wo die Täuflinge nur noch mit Wasser berührt werden:
Das Untertauchen ist ein symbolisches Ertrinken.
Der Mensch, wie er war, stirbt
und ein neuer Mensch steht aus dem Taufbecken auf.
Paulus sagt das so:
"Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Jesus Christus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod,
damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten,
auch wir in einem neuen Leben wandeln sollen."

Die Auferstehung Jesu, die wir an Ostern gefeiert haben,
ist kein Märchen aus alten Zeiten.
Sie hat mit uns und mit unserem Leben hier und heute zu tun.
Deshalb feiern wir Sonntag für Sonntag Gottesdienst:
Sonntag ist der Tag der Auferstehung,
jede Woche erinnern wir uns daran.

IV
Wie kann die Auferstehung Jesu
etwas mit unserem Leben zu tun haben?
Auferstehung - die geschieht, wenn überhaupt,
nach dem Tod; sie ist eine Hoffnung, die wir haben,
dass mit dem Tod nicht alles aus ist, mehr nicht.
Mit unserem Alltag hat das nichts zu tun.
Und schon gar nicht hat sie die Kraft,
uns ein vergnügtes Erwachen zu bescheren.

Paulus ist da anderer Meinung, wenn er schreibt:
"Die gegenwärtige leichte Belastung durch unsere Leiden und Nöte
bewirkt nämlich für uns,
die wir uns nicht auf das Sichtbare,
sondern auf das Unsichtbare ausrichten, 
eine überwältigende, ewige Fülle der Herrlichkeit."

Auch Paulus kennt Leiden und Nöte.
Aber sie belasten ihn nur leicht.
Nicht, weil er sie nicht ernst nähme
oder ihm bisher nichts Schlimmes zugestoßen wäre -
das Gegenteil ist der Fall.
Sondern weil er etwas anderes hat,
das ihn so erfüllt, das so viel Gewicht hat,
dass Leiden und Nöte dagegen tatsächlich nicht ins Gewicht fallen.

Wir kennen das.
Was nimmt eine schwangere Frau auf sich
mit den anstrengenden Wochen und Monaten der Schwangerschaft,
mit den Schmerzen der Geburt.
Die Aussicht auf das Kind, das überwältigende Glück, wenn es da ist,
lassen alle Schmerzen vergessen.
Wie neu geboren ...
Und trotzdem sind die Belastungen durch die Schwangerschaft da,
trotzdem sind die Schmerzen da.
Und sie sind sehr real; eine Frau muss sie aushalten.
Durch die Aussicht auf das Kind werden die Schmerzen
zwar nicht erträglich, aber tragbar.
Das erwartete Kind hat mehr Gewicht
als die Last der Schwangerschaft und der Geburt.

V
So ist es mit der Auferstehung.
Und zwar nicht die Auferstehung am Ende der Zeiten,
die Auferstehung der Toten.
Sondern die Auferstehung aus der Taufe,
die uns mit Jesus verbindet
und die wir Sonntag für Sonntag feiern.
Die tägliche Auferstehung.
Jeden Tag werden wir neu - nicht äußerlich, da altern wir,
aber innerlich.
Wir werden neu geboren,
weil das neue Leben der Auferstehung
mit der Auferstehung Jesu schon angebrochen ist.
Für uns ist es nur eine Möglichkeit, aber eine sehr reale.
Wir wissen schon jetzt, wer wir einmal sein werden.
Wir wissen schon jetzt, dass unser Leben gut geht.
Dass wir es geschafft haben werden
und dass nichts schief gehen kann - egal, was kommt.
Die Auferstehung wartet auf uns;
sie ist mit Jesu Auferstehung schon Wirklichkeit
und steht als große, offene Tür am Ende unseres Lebens.
Wir werden nicht in ein schwarzes Loch fallen,
sondern in ein unbeschreibliches Licht gehen.
Dieses Licht überstrahlt alle Dunkelheiten.
Natürlich werden wir weiterhin Fehler machen.
Natürlich werden wir weiterhin leiden,
Angst empfinden und Schmerz und Trauer.
Aber das alles wird unserem Leben nichts anhaben können,
all das wird uns und unser Leben nicht zerstören. [2]

Unser Leben hat ein Happy End.
Und jeder Tag unseres Lebens hat ein Happy End.
An jedem Morgen erleben wir die Auferstehung beim Aufstehen,
weil wir das, was gestern war, hinter uns lassen können
und es an diesem Morgen neu und anders versuchen können.
Wir können und dürfen heute andere Menschen sein,
als wir gestern waren,
können und dürfen anders von uns und anderen denken,
uns und andere mit neuen Augen sehen.
Wir können, dürfen und sollen uns wie neu geboren fühlen.
So wird jeder neue Tag zum Sonntag,
zu einem Tag, der Schönes, Erlebnisse,
Abenteuer und Freude für uns bereit hält,
auch wenn es kein Geburtstag und Urlaubstag,
sondern nur ein Alltag ist.

Wir lassen uns keine gebrauchten Tage mehr andrehen! [3]
Wir fühlen uns wie neu geboren,
jeden Tag steigt unser Appetit
aufs Leben.
Amen.

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Anmerkungen:

[1] Joachim Ringelnatz, Und auf einmal steht es neben dir. Gesammelte Gedichte, Berlin 1950, S. 405.
[2] Die Idee für die Predigt verdanke ich dem Kommentar von Rudolf Bultmann zur Stelle, in:
Rudolf Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, KEK Sonderband, Göttingen 1976, 112ff.
Besonders: Das Leben "i s t  also nur im Prozeß, im Werden - wenn dieses nicht fälschlich als 'Entwicklung' nach Analogie des pflanzlich-animalischen Lebens verstanden wird. Nämlich nicht als ein stetes Weiterkommen auf Grund des schon Erreichten, sondern aus dem stets unsichtbar Zukünftigen. ... Es ist das Stets-Neuwerden im Bestehen der Begegnungen des Schicksals, das diesen Voraus-Sein ... vermöge der Kraft, sie zu verstehen ..." (a.a.O., S. 128).
[3] Die Redewendung "einen gebrauchten Tag angedreht bekommen" stammt von Ulla Meinecke, aus ihrem Lied "Beiß rein". Der Refrain des Liedes lautet:
"ein neuer Tag, 'ne Chance wie ein neues Schulheft 
auf dem nur ihr Name draufsteht 
- doch wenn sie abends sauer in ihr Bett geht, denkt sie 
'ausgerechnet mir haben sie wieder'n gebrauchten Tag angedreht' "