Samstag, 5. Mai 2012

Das eigentliche Wunder


Predigt am Sonntag Kantate, 6. Mai 2012 über Apostelgeschichte 16,23-34:

Nachdem man Paulus und Silas eine große Anzahl von Schlägen gegeben hatte, ließen die Prätoren sie ins Gefängnis werfen und wiesen den Gefängniswärter an, sie scharf zu bewachen. Das tat dieser dann auch: Er sperrte die beiden in die hinterste Zelle des Gefängnisses und schloss ihre Füße in den Block.
Gegen Mitternacht beteten Paulus und Silas; sie priesen Gott mit Lobliedern, und die Mitgefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich bebte die Erde so heftig, dass das Gebäude bis in seine Grundmauern erschüttert wurde. Im selben Augenblick sprangen sämtliche Türen auf, und die Ketten aller Gefangenen fielen zu Boden. Der Aufseher fuhr aus dem Schlaf hoch, und als er die Türen des Gefängnisses offen stehen sah, zog er sein Schwert und wollte sich töten, denn er dachte, die Gefangenen seien geflohen. Doch Paulus rief, so laut er konnte: "Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier!" Da ließ der Aufseher Fackeln bringen, stürzte in das Gefängnis und warf sich zitternd vor Paulus und Silas zu Boden. Während er sie dann nach draußen führte, fragte er sie: "Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?" Sie antworteten: "Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und alle, die in deinem Haus leben!" Und sie verkündeten ihm und allen, die bei ihm im Haus wohnten, die Botschaft des Herrn.
Der Gefängnisaufseher kümmerte sich noch in derselben Stunde, mitten in der Nacht, um Paulus und Silas und wusch ihnen das Blut von den Striemen ab. Dann ließen sich er und alle, die zu ihm gehörten, ohne zu zögern taufen. Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und ließ eine Mahlzeit für sie zubereiten. Er war überglücklich, dass er mit seinem ganzen Haus zum Glauben an Gott gefunden hatte.
(NGÜ)


Liebe Gemeinde,

eine schöne Geschichte, nicht wahr?
Zu schön, um wahr zu sein.
Zwei Apostel, Paulus und Silas,
die wegen einer Heilung, die sie vollbracht hatten,
verurteilt, ausgepeitscht und ins Gefängnis geworfen worden waren,
fangen mitten in der Nacht an zu singen und zu beten
und erleben eine wunderbare Rettung:
Ein Erdbeben sprengt alle Türen und Ketten,
die Gefangenen sind frei.

Es gibt viele solcher Wundergeschichten in der Bibel,
eine unglaublicher als die andere.
Z.B. der Zusammenbruch der Mauern von Jericho,
das die Israeliten sieben mal mit Posaunen umrunden,
dann stürzen die unüberwindlichen Mauern ein -
nicht, weil die Posaunen zum steinerweichen geklungen hätten,
sondern weil Gott ein Wunder tut. (Josua 6)

Oder die drei Männer im Feuerofen,
die vom babylonischen König Nebukadnezar
wegen ihrer Weigerung, sein goldenes Bild anzubeten,
in einen glühend heißen Ofen geworfen werden,
aber nicht verbrennen, ja nicht einmal angesengt werden,
weil ein Engel sie schützt. (Daniel 3)

Schöne, bekannte, aber auch unglaubliche Geschichten.
Aber sie stehen in der Bibel,
und deshalb scheuen sich viele Menschen davor,
sie in das Reich der Märchen zu verbannen,
sondern versuchen daran festzuhalten,
dass Gott Wunder wirken kann,
wenn er nur will.

Leider machen wir niemals die Erfahrung solcher Wunder.
Deshalb fällt es sehr schwer zu glauben,
dass es sich bei diesen Erzählungen um Tatsachenberichte handelt,
dass diese Wunder wirklich geschehen sein sollen.

Es ist auch nicht nötig, das zu glauben.
Wir verstehen die Wundergeschichten nicht,
wenn wir sie für Tatsachenberichte halten.
Und, viel schlimmer, wir verpassen das eigentliche Wunder,
von dem sie berichten,
wenn wir über das Unmögliche staunen
und überlegen, wie es vielleicht doch möglich gewesen sein könnte,
während wir das Mögliche und Naheliegende
- aber deshalb nicht weniger wunderbare -
übersehen.

II
In der Wundergeschichte, die wir eben gehört haben,
sind gleich drei Wunder versteckt,
die wir beim ersten Hören vielleicht gar nicht mitbekommen haben.
Weil wir so gebannt waren von der großen Show:
vom Erdbeben, den zersprungenen Ketten und offenen Gefängnistüren.
Aber das ist nicht das Wunder.

Das erste wirkliche Wunder ist,
dass Paulus und Silas mitten in der Nacht
Gott mit Lobliedern preisen.

Sie wurden verhaftet,
verprügelt und ausgepeitscht,
ins Gefängnis geworfen
und in den Block geschlossen
- das ist ein mit Löchern versehener schwerer Holzklotz,
den die Gefangenen an der Flucht hindern soll,
aber zugleich jede Bewegung unmöglich macht.
Paulus und Silas leiden Schmerzen,
sind unschuldig eingesperrt und hungrig.
Das ist so ziemlich die letzte Situation,
in der man in Stimmung für Loblieder ist.

Aber Paulus und Silas jammern und klagen nicht,
sie schimpfen und schreien nicht.
Sie singen.
Das ist verblüffend.
So verblüffend, dass selbst ihre Mitgefangenen,
denen es ähnlich schlecht geht wie den beiden,
zuhören (das ist eigentlich schon ein zweites Wunder:
Denn ihre Mitgefangenen sind ja keine unschuldigen Opfer
wie Paulus und Silas,
sondern raue Kerle, die wirklich etwas verbrochen haben;
aber dieses Wunder will ich mal gar nicht mitzählen).

Mit ihrem Beten und Singen tun Paulus und Silas etwas Wunderbares:
Sie machen ihren Mitgefangenen Mut
(und sich selbst vermutlich auch).
Sie singen von Dingen, die es im Gefängnis nicht gibt:
Von Schönheit. Hoffnung. Vergebung. Liebe.
Das sprengt die Ketten,
die Ketten, die die Gefangenen um ihre Herzen trugen.
Sie hören zu, sind ergriffen, lassen sich ergreifen
von der Melodie, vom Text der Lieder.
Die harten Kerle werden weich.
Wenn die Ketten des Herzens springen,
ist es nur konsequent,
dass auch die äußeren Ketten abfallen
und die Türen des Gefängnisses sich öffnen.
Aber erst, nachdem das Wunder des Singens und Hörens geschah,
das eigentliche Wunder.

III
Und sofort folgt das zweite Wunder:
Die Gefangenen fliehen nicht.
Das wäre doch jetzt naheliegend:
Die Fesseln sind gesprengt, die Türen stehen offen -
nichts wie weg.
Aber niemand geht.
Der Gefängnisdirektor,
der sich aus Entsetzen über den vermeintlichen Massenausbruch
und aus Angst vor der Bestrafung, die ihn dafür treffen wird,
das Leben nehmen will, traut seinen Augen nicht:
Es sind ja alle noch da.
Das ist das zweite Wunder.

Es ist ein Wunder, dass niemand geflohen ist,
dass auch Paulus und Silas,
die zu Unrecht verurteilt und eingesperrt wurden,
nicht die Chance zum Verschwinden genutzt haben.
Sie bleiben da
und legen ihr Leben in die Hand des Gefängnisdirektors,
von dem sie nichts Gutes zu erwarten haben.
Er hat sie schließlich eingesperrt.

Dieses grundlose Vertrauen ist ein Wunder.
- Wir würden wahrscheinlich sagen:
Es ist absoluter Leichtsinn, es ist eine Dummheit.
So eine Chance kommt nie wieder.
Man muss sie nutzen.
Aber Paulus und Silas wollen den Gefängnisdirektor
nicht in Schwierigkeiten bringen.
Sie wollen nicht, dass er sich ihretwegen umbringt.
Und ihre Mitgefangenen wollen das offensichtlich auch nicht.

Da ist ein Wunder passiert.
Eine Veränderung ist in all diesen Menschen vorgegangen.
Eine Veränderung, die sie menschlicher gemacht hat.
Auf einmal ist es ihnen nicht mehr egal,
was aus dem Gefängnisdirektor wird,
der sie schlimm behandelt hat.
Sie machen sich Sorgen um ihn.
Sie wollen nicht, dass er stirbt,
nicht einmal, dass er bestraft wird.

IV
Auch der Gefängnisdirektor erlebt eine Veränderung.
Er wirft sich vor seinen Gefangenen zu Boden,
er, der Herr über seine Gefangenen,
spricht sie jetzt als "Herren" an.
Gestern waren sie noch "Gesindel" für ihn.
Er begreift, dass etwas ganz Wunderbares passiert sein muss.
Die Gefangenen sind nicht geflohen.
Warum nur?
Es muss etwas geschehen sein,
das für sie wertvoller war als die Freiheit.
Etwas ganz Großartiges.

Diese Veränderung, die mit den Gefangenen vor sich gegangen ist,
die möchte auch er erleben.
Deshalb fragt er:
"Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?"
Und nun geschieht das dritte Wunder.
Es ist die Antwort, die Paulus und Silas geben:
"Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden".
Mehr ist nicht nötig.
Keine schwierigen Prozeduren,
keine langwierigen Glaubenskurse,
keine Rituale, keine Formulare.
Der Gefängniswärte darf sogar seinen Beruf behalten
und muss auch sonst sein Leben nicht ändern
(er wird es ändern - das passiert aber von ganz allein,
das muss ihm niemand sagen oder vorschreiben).
Für die großartige Veränderung ist nichts weiter nötig
als der Glaube an Jesus, den Herrn.

V
"Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden".
Das scheint sehr wenig - und ist doch sehr viel.
Denn wenn Jesus tatsächlich der Herr ist,
dann gibt es keine anderen Herren mehr.
Natürlich gibt es noch viele,
die Macht und Befehlsgewalt beanspruchen:
Vorgesetzte. Vorsitzende. Führer.
Aber sie haben keine Macht mehr.
Sie sind nur noch dem Namen nach Herren.

Wenn Jesus tatsächlich der Herr ist,
dann verliert alles seine Macht,
was Herrschaft über uns erlangen will:
die Sorge um das Eigentum und um das Ansehen.
Unser Geld. Unser Wissen.
Unsere Macht und unser Einfluss.
Die gesellschaftliche Stellung, die wir haben.
Das Auto, das wir fahren -
all das wird bedeutungslos und unwichtig.
All das aufzugeben, ist ein schwerer Schritt.
Wollen wir das wirklich?

Sehen Sie: Deshalb ist hier das eigentliche Wunder verborgen.

VI
Von drei Wundern hat diese Geschichte erzählt,
nicht nur von einem
- und das eine, das offensichtliche, zählt gar nicht dazu.
Drei Wunder, die etwas faszinierendes haben,
die uns aber zugleich auch sehr misstrauisch machen:
Gott loben, wenn man in größter Gefahr, in äußerstem Leid ist?
Einem Menschen vertrauen, der einem bisher nur Böses getan hat?
Das Vertrauen auf alles aufgeben, an das man bisher geglaubt,
dem man bisher vertraut hat,
und alle Hoffnung auf Jesus setzen,
von dem man nicht einmal weiß, ob es ihn wirklich gibt?

Ich gebe zu: Das ist wirklich viel verlangt.
Deshalb sind dies ja die eigentlichen Wunder.
Deshalb ist es ja ein Wunder, wenn es geschieht:
Wenn man in auswegloser Situation,
in Leid und Schmerz Gott ganz nahe weiß,
sich geborgen fühlt und gut aufgehoben.
Wenn man den Mut findet,
einem anderen Menschen zu vertrauen,
auch wenn der das Vertrauen nicht wert zu sein scheint.
Und wenn man alle Bemühungen um ein besseres Leben,
alle Selbstbeschränkungen und Pflichtübungen sausen lässt,
weil die Rettung viel einfacher ist, als wir dachten:
"Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden".

Ich wünsche mir und uns,
dass dieses Wunder geschieht
und wir wirklich glauben können,
dass Christus der Herr ist.
Alles andere ist dagegen dann ein Kinderspiel.

Amen.