Samstag, 5. Mai 2012

Verlust und Gewinn


Predigt am Sonntag Kantate, 6.5.2012, zur Graupner-Kantate "Was betrübst du dich, meine Seele" über Johannes 16,5-15:

"Bisher habe ich nicht mit euch darüber gesprochen, weil ich ja bei euch war. Aber jetzt gehe ich zu dem, der mich gesandt hat. Und keiner von euch fragt mich: 'Wohin gehst du?' Denn ihr seid erfüllt von tiefer Traurigkeit über das, was ich euch sage. Doch glaubt mir: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht von euch wegginge, käme der Helfer nicht zu euch; wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.
Und wenn er kommt, wird er der Welt zeigen, dass sie im Unrecht ist; er wird den Menschen die Augen öffnen für die Sünde, für die Gerechtigkeit und für das Gericht. Er wird ihnen zeigen, worin ihre Sünde besteht: darin, dass sie nicht an mich glauben. Er wird ihnen zeigen, worin sich Gottes Gerechtigkeit erweist: darin, dass ich zum Vater gehe, wenn ich euch verlasse und ihr mich nicht mehr seht. Und was das Gericht betrifft, wird er ihnen zeigen, dass der Herrscher dieser Welt verurteilt ist.
Ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr wärt jetzt überfordert. Doch wenn der Helfer kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch zum vollen Verständnis der Wahrheit führen. Denn was er sagen wird, wird er nicht aus sich selbst heraus sagen; er wird das sagen, was er hört. Und er wird euch die zukünftigen Dinge verkünden. Er wird meine Herrlichkeit offenbaren; denn was er verkünden wird, empfängt er von mir. Alles, was der Vater hat, gehört auch mir. Aus diesem Grund sage ich: Was er euch verkünden wird, empfängt er von mir."
(NGÜ)

Liebe Gemeinde,

Die Stunde des Abschieds war gekommen:
„Ach!“, sagte der Fuchs, „ich werde weinen.“
„Das ist deine Schuld“, sagte der kleine Prinz, „ich wünschte dir nichts Böses, aber du hast gewollt, dass ich dich zähme ...“
„Sicher“, sagte der Fuchs.
„Aber nun wirst du weinen!“, sagte der kleine Prinz.
„Bestimmt“, sagte der Fuchs.
„So hast du also nichts gewonnen!“
„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen.“
(Antoine de Saint-Eupery, Der kleine Prinz [1])

I
Vom Abschied singt die Kantate [2].
Daher der für den fröhlichen Sonntag Kantate - Singet -
so ungewöhnliche, traurige Titel:
"Was betrübst du dich, meine Seele?"

Scheiden tut weh, sagt schon das Volkslied.
Je älter man wird, desto mehr Abschiede hat man erlebt.
Aber man gewöhnt sich nie daran:
Abschied nehmen müssen tut immer wieder weh.
Der Abschiedsschmerz wird mit der Zahl der Abschiede nicht geringer.
Im Gegenteil.

Auch Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern.
Wir haben die Lesung, die der Kantate zugrunde liegt,
zu Beginn des Gottesdienstes gehört.
Es ist ein doppelt schmerzhafter Abschied.
Denn die Jünger hatten Jesus ja schon einmal verloren geglaubt,
bei seinem Tod am Kreuz.
Dann war er auferstanden,
war auf wunderbare Weise wieder bei ihnen gewesen.
Und nun geht er schon wieder fort.
Diesmal endgültig.
Und die Jünger sollen nicht traurig sein?

II
In der Geschichte vom "Kleinen Prinzen"
geht es auch um den Abschied.
Die ganze Geschichte kreist um dieses Thema.
Und wie bei unseren Abschiedserfahrungen,
wie bei Jesu Abschied von seinen Jüngern
spielt auch in dieser Geschichte der Tod eine entscheidende Rolle:
Dem Pilot, der die Geschichte vom kleinen Prinzen erzählt,
droht der Tod in der Wüste,
wenn er sein Flugzeug nicht reparieren kann.
Und der kleine Prinz muss sterben,
am Gift einer Schlange,
um zu seinem Asteroiden und zu seiner Rose
zurückkehren zu können.
Sein Körper ist für die Reise zu schwer.

Abschied erscheint uns als Verlust.
Auch der kleine Prinz, der den Abschied erst kennen lernt,
denkt so.
Aber weil er noch keine Erfahrung mit dem Abschied hat,
weil er noch lernt und alles infrage stellt,
bringt er die Frage nach dem Gewinn ins Spiel,
als er sich von seinem Freund, dem Fuchs, verabschiedet.
Unbewusst.
Eigentlich will er sagen: Du hast nichts gewonnen.
Denn der Schmerz des Abschieds
wiegt seiner Meinung nach den Gewinn der Freundschaft wieder auf.
Wenn man den Freund durch den Abschied verliert,
den man zuvor gefunden hat ("gezähmt", sagt der Fuchs)
war alles umsonst,
dann hat man nichts gewonnen.

So erscheint es auch den Jüngern.
Für sie, für uns ist es doppelt schmerzlich,
dass Jesus nicht mehr da ist.
Denn dadurch fehlt uns etwas,
an das wir uns halten können.
Wenn Jesus noch da wäre,
wenn es etwas gäbe, das unzweifelhaft auf ihn hinweist
- wie der heilige Rock Jesu,
der dieser Tage wieder in Trier gezeigt wird,
wie die Splitter seines Kreuzes,
die als Reliquien in vielen Kirchen verehrt wurden -,
dann fiele es leichter, an ihn zu glauben.
Aber wir haben nichts.
Er ist einfach nicht mehr da.
Wir haben nichts gewonnen.
Jesus ist noch weiter weg als der kleine Prinz auf seinem Asteroiden,
den man mit viel Glück
wenigstens mit dem Fernrohr ausmachen kann.
Jesus ist bei Gott, bei seinem Vater.
Unsichtbar für uns,
auch wenn er uns vielleicht ganz nahe ist.

III
„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen.“
Der Fuchs widerspricht dem kleinen Prinzen.
Er hat etwas gewonnen,
weil der kleine Prinz etwas in seinem Leben verändert hat,
etwas, das bleibt, über den Abschied hinaus.
Der kleine Prinz hat weizenblondes Haar.
Der Fuchs, der kein Vegetarier ist,
konnte mit dem Weizen bisher nichts anfangen.
Er war ihm gleichgültig.
Seit er den kleinen Prinzen zum Freund hat,
erinnert ihn der Weizen an dessen blondes Haar.
Und das wird immer so sein,
auch dann, wenn der kleine Prinz nicht mehr da ist.

So ist es ja auch mit den Menschen,
von denen wir uns verabschieden mussten,
die wir durch den Tod, durch einen Streit
oder auf andere Weise verloren haben.
Sie sind nicht mehr da,
sie fehlen uns, und das tut weh.
Aber wir haben etwas gewonnen:
Sie haben unser Leben verändert.
Seit wir sie kennen, sehen wir manche Dinge anders,
hat etwas für uns einen Wert bekommen,
das uns vorher gleichgültig war,
sind wir andere Menschen geworden.

"Wenn ich nicht von euch wegginge, 
käme der Helfer nicht zu euch".
Auch durch den Weggang Jesu haben wir etwas gewonnen:
Den Heiligen Geist, den Tröster, den Helfer.
Bei der Taufe wurden wir mit dem Heiligen Geist beschenkt,
und seitdem begleitet er uns
und erinnert uns an Jesus.
Nicht durch Farben, Töne, Gerüche, Formen.
Sondern durch Worte.

IV
Worte sind das, was für den Fuchs die Farbe des Weizens ist:
Sie schließen uns eine ganze Welt auf.
Dabei sind und bleiben es nur Worte.
Wir machen die Erfahrung,
dass Worte oft wohlfeil sind.
Man kann sich nicht darauf verlassen.
Einer sagt heute dies und morgen das,
oder will sich gar nicht erst festlegen lassen.
Wie soll man auf Worte vertrauen?
Wie soll man auf ein bloßes Wort den Glauben,
sein ganzes Leben gründen?

Es geschieht nicht durch Überzeugung,
nicht durch Argumente, nicht durch Logik
oder eine besondere rhetorische Begabung.
Es geschieht, indem uns ein Wort, ein Satz einleuchtet.
Und damit sind wir wieder beim Heiligen Geist.
Man kann nicht machen, dass es passiert.
Es geschieht, irgendwie, man weiß nicht, wie,
dass wir ergriffen sind.
Und dass uns plötzlich der Weizen nicht mehr egal ist,
sondern uns ganz viel bedeutet:
Weil Jesus mit seinen Jüngern durch ein Weizenfeld gewandert ist,
seine Jünger die Ähren ausrauften
und Jesus sie verteidigte gegen die Kritik der Pharisäer,
indem er Worte sagte, die wir nicht vergessen können:
"Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt:
Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit
und nicht am Opfer." (Matthäus 12,7)

Die Kantate, die wir eben hörten,
ist ein Versuch, den Worten
Leben, Geist einzuhauchen
und ihnen mit dem Mittel der Musik,
auf den Bögen einer schönen Melodie,
im Gewand einer wunderbaren menschlichen Stimme
den Weg in unsere Herzen zu ebnen.

Christoph Graupner hat, wie alle Komponisten,
versucht, mit seiner Musik ein Feuer zu entfachen,
das die Wörter zum Leuchten bringt.
Dafür sei ihm Dank gesagt,
wie auch all denen,
die diese Worte für uns vergegenwärtigt haben:
den Musikern und Sängern und dem Lektor,
der uns die alte Geschichte vorlas.

Auf die eine oder andere Weise
finden die Worte einen Weg in unser Herz
und entzünden sich am Feuer des Heiligen Geistes,
der in uns ist,
bis sie uns einleuchten.

Amen.

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Anmerkungen:

[1] Antoine de Saint-Exupéry, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Band 1, dt. von Josef Leitgeb, München (dtv) 3.Aufl. März 1985, ISBN 3-423-05959-1, S. 554.
[2] Die Handschrift der Kantate findet sich hier: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Mus-Ms-461-10?sid=64725f8af949e63ec9f1aa1cc5e744b0
Der Text der Kantate und Hintergrundinformationen sind hier zu finden (PDF): http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/sml/Musikhandschriften/text_zu_mus_ms_461_10_was_betrübst_du_dich_meine_seele_u_bist_v_02.pdf