Montag, 9. Juli 2012

Die Erhöhung der Erniedrigten


Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 15. Juli 2012, über Apostelgeschichte 8,26-39:

Der Engel des Herrn sprach zu Philippus: "Steh auf und geh nach Süden auf dem Weg, der herabkommt von Jerusalem nach Gaza; er ist menschenleer. Und er stand auf und ging los. Sieh da!, ein äthiopischer Mann, ein Eunuch, Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, ihr Finanzminister, der nach Jerusalem gekommen war, um anzubeten, war auf dem Rückweg und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
Der Geist aber sprach zu Philippus: geh hin und hänge dich an diesen Wagen.
Als Philippus hingegangen war, hörte er, wie der den Propheten Jesaja las und fragte: "Verstehst du denn auch, was du liest?"
Der aber antwortete: Wie soll ich, wenn mich keiner anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
Der Abschnitt der Schrift, den er las, war dieser (Jesaja 53,7+8):

"Wie ein Schaf wurde er zur Schlachtung geführt,
und so, wie ein Lamm vor dem Scherer verstummt,
so öffnet er seinen Mund nicht.
In seiner Erniedrigung wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben.
Wer von seinem Geschlecht wird davon erzählen?
Denn sein Leben ist von der Erde weggenommen."

Der Eunuch aber antwortete Philippus: Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet das? Von ihm selbst, oder von einem anderen?
Philippus aber öffnete seinen Mund und begann von dieser Schriftstelle aus, ihm Jesus zu verkündigen.
Wie sie aber den Weg entlangfuhren, kamen sie an ein Wasser, und der Eunuch sprach: Sieh mal, Wasser! Was verbietet, dass du mich taufst?
Und er befahl den Wagen zu stoppen, und beide stiegen ins Wasser, Philippus und der Eunuch, und er taufte ihn.
Als er aber aus dem Wasser auftauchte, entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Eunuch sah ihn nicht mehr. Er zog aber seinen Weg freudig.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Apostelgeschichte_8)


Liebe Gemeinde,

wie wörtlich darf man - oder muss man - die Bibel nehmen?
An dieser Frage scheiden sich nicht nur die Geister,
sondern auch die Kirchen und Konfessionen.
Sie scheiden sich an den Pastorinnen, weil es doch in der Bibel heißt: "Die Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden" (1.Korinther 14,34), und weil Jesus angeblich nur Jünger hatte, aber keine Jüngerinnen.
Sie scheiden sich an der Frage der Homosexualität, weil die an vielen Stellen der Bibel verurteilt wird.
In unserer Landeskirche gibt es - Gott sei Dank! - Pastorinnen,
und auch Homosexuelle dürfen selbstverständlich als Paar zusammenleben und dazu von der Kirche gesegnet werden, und sie dürfen auch Pfarrerin oder Pfarrer sein.
Aber auch in unserer Landeskirche gibt es noch einige wenige Pastoren, die es mit der Bibel nicht vereinbaren können, dass das möglich und erlaubt ist.
Der heutige Predigttext zeigt, auf welche Weise die Bibel sich ernst nimmt und wie sie mit scheinbar eindeutigen Geboten und Verboten umgeht. Das kann uns eine Lehre sein, wie wir die Bibel lesen und verstehen sollen. Doch um das zu erkennen, muss man ein klein wenig hinter den Predigttext schauen. Das möchte ich jetzt mit Ihnen tun.

I
Zunächst fällt auf, dass zwar der Apostel einen Namen hat - Philippus -, nicht aber sein Täufling. Er wird nur durch seinen Makel beschrieben: Er ist ein "Verschnittener", ein Eunuch, das heißt, man hat ihn schon als Kind kastriert. Dieser grausame Eingriff wurde fast bis in unsere Zeit durchgeführt, um Männern eine hohe Stimme zu erhalten. Die meisten berühmten Countertenöre waren Kastraten.
Im Orient dienten Eunuchen aus nachvollziehbaren Gründen auch als Haremswächter oder, wie hier, als hohe Beamte einer Königin, die sich täglich in ihrer Nähe aufhalten, aber ihr nicht zu nahe kommen sollten.

Ein Eunuch kann nichts dafür, dass er so ist, wie er ist. Er wurde als Kind "verschnitten", und niemand hat ihn gefragt. Trotzdem ist er dadurch ein Außenseiter, er wird ausgeschlossen. Im 5. Buch Mose heißt es: "Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des Herrn kommen." (Dtn 23,2)
Der Eunuch, der da in seinem Wagen auf der Straße von Jerusalem nach Gaza sitzt, durfte also nicht in den Tempel. Er ist extra aus Äthiopien angereist, um dem Gott, den er verehrte, einmal im Leben nahe zu kommen - aber er durfte nicht hinein zu ihm. Er durfte den Tempel von außen bewundern, wie ein Tourist, aber hineingehen, um zu beten, konnte er nicht. Und als heilige Schrift durfte er auch nicht die fünf Bücher Mose, die Tora, mitnehmen, sondern nur das weniger "heilige" Buch des Propheten Jesaja.

Zu diesem Außenseiter wird Philippus vom Geist Gottes geschickt.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Geist Gottes schickt Philippus zu einem Eunuchen - dabei sollte der Geist doch ganz genau wissen, was in seiner Bibel steht! Hier gibt es also eine erste, noch versteckte Auflehnung gegen den Ausschluss der Eunuchen aus der Gemeinde.

II
Der Eunuch liest den Propheten Jesaja. Er möchte verstehen, um was es in dem Glauben geht, den er vom fernen Äthiopien aus verehrt und für den er extra die weite Reise nach Jerusalem auf sich genommen hat. Und auch hier lohnt es sich wieder, genau hinzusehen und hinzuhören - denn der Eunuch liest sich den Bibeltext nach jüdischer Sitte laut vor. Wenn man laut liest, versteht man besser, was man liest; Sie können das mal ausprobieren. Der Eunuch liest vom leidenden Gottesknecht, aber er stellt sich nicht die Frage, die uns wahrscheinlich als erste einfallen würde: Warum muss er leiden? Und wozu dient dieses Leiden? Nein, er will vielmehr wissen: Wer ist dieser Gottesknecht? Denn in dem Text ist von Erniedrigung die Rede: "In seiner Erniedrigung wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben."
Diese Erniedrigung hat der Eunuch am eigenen Leib erfahren. Mehr als genug, kann man sich denken. Und nun liest er, dass das Urteil gegen den Gottesknecht aufgehoben wurde. Und denkt vielleicht an die vielen Vorurteile, die ihm tagtäglich begegnen, und dass die aufgehoben werden könnten. Dass man ihm, obwohl er "anders" ist als die meisten, vorurteilsfrei begegnen könnte, als einem Mitmenschen. Deshalb interessiert es ihn brennend, wer der Gottesknecht ist. Denn wenn es der Prophet ist, dann ist alles nur ein schöner Traum. Wenn es aber ein anderer ist, und wenn der womöglich irgendwie zu finden oder zu erreichen ist - dann könnte es auch für ihn wahr werden, dass die Vorurteile und Vorverurteilungen gegen ihn aufgehoben werden.

Philippus kann ihm den Namen nennen: Der Gottesknecht ist Jesus. Und die gute Nachricht ist, dass er lebt, und dass man seine Hilfe erhalten kann, wenn man sich zu ihm wie unter ein rettendes Dach flüchtet. Das geschieht, indem man sich unter seinen Namen stellt - so, wie wir jeden Gottesdienst im Namen Gottes beginnen und uns und alles, was wir tun, auf diese Weise unter Gottes Schutz stellen. Oder indem man auf den Namen Jesu getauft wird.

III
Der nächste, wichtige Punkt ist: Philippus hat keine Berührungsängste vor dem Eunuchen. Er kennt zwar die Torah und weiß, dass Eunuchen aus der Gemeinde ausgeschlossen sein sollen. Trotzdem geht er auf ihn ein, beantwortet seine Frage, ist für ihn ein Seelsorger und dann auch ein Täufer. Wenn Philippus sich an den Wortlaut der Bibel halten würde, dürfte er sich nicht zum Eunuchen auf den Wagen setzen. Dann gäbe es diese Geschichte nicht. Aber es gibt offenbar etwas, das Philippus die Erlaubnis - oder die Freiheit - dazu gibt: Gottes Geist, der ihn auf den Weg des Eunuchen geschicht hat, der ihn zu ihm führt und ihn nach vollbrachter Taufe an einen anderen Ort "entrückt".

Nun könnte ja jeder kommen und behaupten, der Heilige Geist habe ihm gesagt, er müsse jetzt mal gegen ein biblisches Gebot verstoßen. Aber so einfach ist das nicht. Es zeigt sich, das der Heilige Geist seine Bibel sehr gut kennt. Nicht nur die Tora, sondern auch den Propheten Jesaja. Dort heißt es nämlich im 56. Kapitel:

"Der Verschnittene soll nicht sagen: Siehe, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der Herr: Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten und erwählen, was mir wohlgefällt, und an meinem Bund festhalten, denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben; das ist besser als Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll."

Es geht also nicht darum, wie jemand ist, oder wer jemand ist, sondern was man tut. Wer an Gott glaubt, wer sich an Gottes Gebote hält, der hat einen Platz bei Gott, den ihm niemand streitig machen kann. Philippus erkennt das Interesse des Eunuchen am Glauben, als er ihn laut im Buch des Jesaja lesen hört. Damit gibt es für ihn keine Frage mehr, dass er zu diesem Menschen geschickt worden ist, und dass auch dieser Mensch in Gottes Nähe gehört.

IV
Dass Philippus sich zu ihm setzt und ihm die Schrift erklärt, hat auch den Eunuchen verändert. Hier ist endlich jemand, der ihn nicht ausschließt. Jemand, der ihn nicht als den Anderen, den Gezeichneten sieht, sondern ihn und seinen Glauben annimmt und ernst nimmt, ohne Vorverurteilung. Und ohne Vorurteile.
Wenn man nicht durch einen anderen Menschen so angenommen wurde, kann man nicht glauben, dass Gott einen annimmt. Erst, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass ein anderer Mensch einen als Mitmensch ansieht und annimmt, so, wie man ist, kann man auch glauben, dass Gott einen annimmt. Erst, wenn ein anderer die Bibel für einen auslegt, kann man ihren Zuspruch für sich hören und annehmen. Philippus hat das getan, und der Eunuch hat verstanden. Deshalb möchte er getauft werden - nicht, weil er schon alle Details des christlichen Glaubens gehört und begriffen hätte. Sondern weil er zu dem gehören möchte, der die Menschen annimmt so, wie sie sind, ohne danach zu fragen, wer oder wie sie sind. Weil er sein Leben unter den Namen Jesu stellen möchte, damit auch für ihn wahr wird, was bei Jesaja steht:
"In seiner Erniedrigung wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben."

Dieses Wort "Erniedrigung" kommt übrigens noch einmal an sehr prominenter Stelle in der Bibel vor, im Magnificat. Da singt Maria:
"er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder." (Lukas  1,48)
Auch Maria erlebt, dass Gott sie aus der Erniedrigung befreit; darum singt sie ihm ihr Lied, und die Kirche singt das Magnificat seit Jahrhunderten am Abend eines jeden Tages. Die Kirche singt täglich davon, dass Gott Menschen aus Erniedrigung, Verkennung und Vorurteilen befreit. Nur leider versteht sie selbst oft nicht, was sie da singt.

V
Ein Eunuch wird getauft und begründet eine der ältesten - wenn nicht die älteste - christliche Kirche der Welt. Noch heute gilt dieser Eunuch den Äthiopiern als Gründer ihrer Kirche. Ein Eunuch, ein "Verschnittener", kein Heiliger, kein Apostel, kein kirchlicher Insider.
Gott steht auf der Seite der Erniedrigten. Das gilt bis heute. Und bis heute gilt auch, dass nicht Abstammung, nicht ein besonderes Merkmal wie Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung einen Menschen zu einem Kind Gottes machen, sondern allein der Glaube an Gott. Und zu einem kirchlichen Amt kann - wenigstens in der evangelischen Kirche - jede und jeder berufen werden. Die einzige Voraussetzung dazu ist die Taufe. Sie ist unser Adelsprädikat, auf sie dürfen wir zu recht stolz sein. Denn sie macht uns zu Gottes Kindern und unterereinander zu Schwestern und Brüdern.

Als Schwester und Brüder sollen wir einander nicht durch Ausgrenzung, Vorurteile oder Vorverurteilungen erniedrigen. Sondern solche Urteile aufheben und den Erniedrigten aufhelfen, weil Gott sie bereits erhöht hat. Man darf sich auflehnen gegen alle, die mit der Berufung auf die Bibel Menschen ausgrenzen und ausschließen wollen. Manchmal muss man das vielleicht sogar. Um Marias willen, die von der Erhöhung der Niedrigen sang. Und um des Äthiopiers willen, von dem bis heute diese Geschichte erzählt.
Amen.