Samstag, 20. Oktober 2012

Tun als ob nicht


Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 21. Oktober 2012, über 1.Korinther 7,29-31:

Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.
(Luther 1984)

Liebe Gemeinde,

"ich wollt' ich wär' ein Huhn, 
ich hätt' nicht viel zu tun. 
Ich legte vormittags ein Ei 
und nachmittags wär ich frei".
So singen die "Comedian Harmonists",
und manche oder mancher hat wohl schon mal
überschwänglich und fröhlich in diese Verse eingestimmt -
oder auch ein bisschen sehnsüchtig,
wenn mal wieder alles zu viel war.

Man spielt es gern mal mit, dieses Gedankenspiel
"Was wäre, wenn ...".
"Ich wär' so gerne Millionär", singen die "Prinzen";
"Wenn ich einmal reich wär' ", singt Tewje, der Milchmann,
und man singt mit,
stimmt ein in den Traum vom großen Geld
und malt sich aus, was wäre, wenn ...
- ja, wenn das Wörtchen "wenn" nicht wär' ...

I
Was wir dann machen würden,
welche Wünsche wir uns erfüllen würden,
wenn wir mehr als genug Geld hätten,
mehr als genug freie Zeit?
Ich glaube, jede und jeder hätte eine Antwort auf diese Frage parat.
Wohl jede und jeder von uns
hat Pläne in einer geheimen Schublade
irgendwo hier hinten, im Hinterkopf verborgen.
In diese Schublade kommt all das,
was sich im Alltag nicht verwirklichen lässt,
wozu Geld oder Zeit nicht reichen.
Aber wenn man erst einmal genug verdient oder gespart hat,
wenn man endlich in Rente ist,
dann ... - dann werden all die Pläne und Vorhaben
aus der Schublade im Hinterkopf geholt und verwirklicht.
Dann gönnt man sich was.
Dann verwirklicht man seine Träume
von der großen Reise,
vom Buch, das man schreiben wollte,
vom Häuschen am See ...

Hier sitzen viele Goldene und Diamantene
Konfirmandinnen und Konfirmanden,
die heute auf einen langen Abschnitt ihres Lebens zurückblicken.
Jede und jeder von uns blickt hin und wieder zurück
auf die Zeit, die verstrichen ist,
fragt sich, was man daraus gemacht hat,
wo sie geblieben sind, die Pläne und guten Vorsätze
und wann sie sich wohl erfüllen werden,
die Träume, die man im Hinterkopf aufbewahrt.

II
"Carpe diem", flüstert der Lehrer im Spielfilm
"Der Club der toten Dichter" seinen Schülern zu,
die vor einer Vitrine mit den verblichenen Schwarz-Weiß-Fotos
ehemaliger Schüler stehen,
von denen viele im Krieg gefallen sind.
"Carpe diem" - nutze den Tag
und lebe so, als ob es der letzte deines Lebens wäre.
Lebe so, dass du nichts bereuen musst.
Verschiebe nichts, was du heute schon tun könnest
- weder auf auf morgen, noch auf die Rente,
denn so oder so verschiebst du es auf den St.Nimmerleins-Tag.
Und der kommt bekanntlich, wie der Name schon sagt, nie.

Auch Paulus beugt sich über unsere Schultern
und raunt uns zu: "Die Zeit ist kurz".
"Die Zeit ist kurz" - da fragt man sich unwillkürlich:
Wie lebst du - wie wolltest du eigentlich leben?
Und wie solltest du leben,
wenn du es ernst meinst mit deinem Glauben?

Paulus, der uns an die Kürze der Zeit erinnert,
macht sich keine Sorgen darum,
dass wir etwas verpassen,
dass wir unsere Tage und Lebensjahre nicht ausschöpfen könnten.
Paulus sorgt sich mehr darum,
dass wir uns Sorgen machen könnten
- womöglich unnötige Sorgen.
Denn Sorgen, das erfährt jede und jeder, der sie hat,
trüben die Stimmung, nehmen einem die Freude am Leben
und schränken Phantasie und Tatkraft ein,
sodass man immer weiter im schwarzen Loch der Traurigkeit versinkt
und am Ende nicht mehr allein herausfindet.
Davon singt das Kirchenlied
"Wer nur den lieben Gott lässt walten" (EG 369),
das manche Konfirmandinnen und Konfirmanden
noch auswendig lernen mussten.
Da heißt es in der zweiten Strophe:
"Was helfen uns die schweren Sorgen,
was hilft uns unser Weh und Ach?
Was hilft es, dass wir alle Morgen
beseufzen unser Ungemach?
Wir machen unser Kreuz und Leid
nur größer durch die Traurigkeit."

III
Wer so weit gekommen ist zu erkennen,
dass man in einen Teufelskreis gerät,
wenn man sich der Traurigkeit überlässt,
der hat es schon fasst geschafft,
diesem Teufelskreis zu entkommen.
Diese Erkenntnis ist der erste Schritt heraus.

Paulus aber möchte uns überreden,
noch einen zweiten Schritt zu gehen,
ihn vollends hinter uns zu lassen,
diesen Teufelskreis der Traurigkeit.
Darum lädt auch er zum Gedankenspiel ein -
na, es ist schon mehr als eine Einladung:
es ist eine Aufforderung, eine Soll-Bestimmung.
Eine Soll-Bestimmung bedeutet: man muss nicht.
Man kann sich auch anders entscheiden.
Aber besser wär's, sich so zu entscheiden,
wie Paulus es vorschlägt.

Paulus' Vorschlag erscheint auf den ersten Blick
wie die Tagträume, denen man sich manchmal hingibt,
wie das Gedankenspiel "Was wäre, wenn ...".
Wozu Paulus auffordert, ist aber kein "Tun als ob",
sondern ganz im Gegenteil ein "Tun als ob nicht":
"Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; 
und die weinen, als weinten sie nicht;
und die sich freuen, als freuten sie sich nicht;
und die kaufen, als behielten sie es nicht; 
und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht."

IV
Es braucht ein Umdenken,
um aus dem Teufelskreis der Sorge und Traurigkeit herauszukommen:
Die Erkenntnis ist nötig,
dass die Traurigkeit nur größer wird,
dass man nur tiefer und tiefer in ihrer Düsternis versinkt,
wenn man nicht aufhört, sich Sorgen zu machen.
Paulus möchte zeigen,
wie es geht, sich keine Sorgen machen.
Man erreicht das nicht mit einem "Trick",
nicht mit einer bloß äußerlichen Veränderung.
Man muss schon grundsätzlich etwas ändern
und umdenken: die Dinge neu und anders sehen.

Zum Beispiel spricht man von "meinem Mann"
oder von "meiner Frau".
Natürlich weiß jede und jeder,
dass die Partnerin, der Partner mir nicht gehört
- obwohl es dieses Wissen noch nicht so lange gibt, wie man glaubt.
Aber obwohl wir wissen, dass der, die andere uns nicht gehört,
tun wir doch so, als hätten wir ein Recht auf sie oder ihn.
Und mit diesem Recht verbindet sich ein Anspruch.

Ebenso ist es mit den Kindern.
Es sind "meine" Kinder, oder "unsere" Kinder.
Aber irgendwann werden die Kinder erwachsen
und gehören nur noch sich selbst,
leben ihr eigenes Leben,
obwohl sie für uns immer "unsere" Kinder bleiben werden.
Als Eltern muss man es irgendwann schaffen,
umzudenken: im eigenen Kind den erwachsenen Menschen sehen,
der sein eigenes Leben haben und leben darf und leben soll
- auch auf die Gefahr hin,
dass dieses eigene Leben sie oder ihn vom Elternhaus weg führt.

V
Vor allem aber bezieht sich das "als ob nicht",
das Paulus uns lehren will, auf unseren Umgang mit der Welt.
Wir gehen davon aus,
dass wir einen Anspruch auf Glück, Gesundheit,
Schönheit und Unversehrtheit haben.
Sobald das nicht so ist,
hadern wir mit Gott und dem Schicksal.
Wir gehen davon aus, dass wir die Güter dieser Erde
benutzen können, wie und soviel wir wollen.
Und wir gehen davon aus, dass uns gehört,
was wir kaufen, und dass es uns glücklich macht.
Wenn wir unser Herz an Äußerlichkeiten und an Dinge hängen,
kommen die Sorgen und nehmen uns gefangen.
Solange wir meinen, dass wir bestimmte Normen erfüllen müssen,
was unseren Körper angeht,
dass wir ein großes Auto, ein repräsentatives Haus besitzen müssen,
ein großes Einkommen oder genug Versicherungen,
um uns von unseren Sorgen zu befreien,
werden wir dem Teufelskreis der Sorgen nicht entkommen,
sondern immer tiefer darin versinken.

Von der Sorgen befreien kann nur die tägliche Erinnerung daran,
dass unsere Zeit begrenzt ist
und dass diese Welt, in der wir leben,
zwar wunderschön ist,
aber für den Glauben etwas Vorläufiges hat.
Es gibt ein anderes, ein wahres Leben,
das uns erwartet und das wir manchmal erahnen können.

VI
Nicht immer mehr ist die Devise,
sondern "als ob nicht".
Weil die Erfüllung des Lebens nicht im Festhalten und Besitzen liegt,
sondern in den flüchtigen Momenten und Begegnungen,
die sich von selbst ereignen,
die man nicht kaufen oder herbeizwingen kann
und die nichts kosten
und für die auch kein Aufwand nötig ist.
Was das Leben ausmacht und was vom Leben bleibt
sind nicht der Ruhm, das Ansehen, die Besitztümer,
sondern die Momente, die man mit anderen Menschen geteilt hat.
Die Augenblicke, die Dichterinnen und Dichter besingen
und die unbezahlbar sind.

Solange wir uns Sorgen um unseren Besitz machen,
um unser Geld, um unser An- und Aussehen,
werden wir sie verpassen, diese unbezahlbaren Momente.
Weil wir nicht hinsehen,
weil wir unaufmerksam sind,
weil die Traurigkeit unsere Augen verdunkelt.

Paulus möchte uns lehren,
neu und anders sehen zu lernen.
Das kann man in jedem Alter lernen,
und dafür braucht man keine besondere Brille.
Paulus möchte, dass wir mit den Augen Gottes sehen lernen
und die Freiheit erkennen, die Gott uns geschenkt hat.
In dieser Freiheit dürfen wir unser Leben,
dürfen wir jeden Tag genießen.
Diese Freiheit, in der wir leben,
sollen wir unseren Mitmenschen lassen
- gerade denen, die wir am meisten lieben.
Diese Freiheit sollen wir auch der Natur
und unseren Mitgeschöpfen lassen,
damit alle sich am Leben freuen können.

Amen.