Samstag, 6. Oktober 2012

Kein Ansehen der Person



Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 7. Oktober 2012, über Jakobus 2,1-13:

Meine Geschwister, lasst euren Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn der Herrlichkeit, nicht vom Ansehen der Person beeinflusst sein. Wenn nämlich in eure Versammlung ein goldfingriger Mann in prächtigem Gewand kommt, es kommt aber auch ein Armer in schmutztiger Kleidung, und ihr bemüht euch um den, der das prächtige Gewand trägt und sagt: "Nimm Platz! Hier sitzt du ganz ausgezeichnet!", und zu dem Armen sagt ihr: "Du stell dich dorthin, oder setz dich unterhalb meiner Fußbank!", macht ihr dann nicht einen Unterschied bei euch und urteilt aufgrund schlechter Überlegungen?
Hört, meine lieben Geschwister: Hat nicht Gott die Armen in der Welt erwählt, die reich sind an Glauben und Erben des Reiches, das er denen verkündet hat, die ihn lieben? Ihr aber habt den Armen respektlos behandelt. Nutzen die Reichen nicht ihre Macht euch gegenüber aus und verwickeln euch in Rechtsstreitigkeiten? Verunglimpfen sie nicht den guten Namen, mit dem ihr genannt werdet?
Wenn ihr allerdings das königliche Gesetz erfüllt, wie die Schrift sagt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, handelt ihr gut. Wenn ihr aber die Person anseht, verfehlt ihr euch und werdet vom Gesetz als Übertreter überführt. Denn wer das ganze Gesetz beachtet, aber in einem anstößt, ist dem ganzen Gesetz gegenüber schuldig geworden. Denn wer sprach: Du sollst nicht ehebrechen, hat auch gesagt: Du sollst nicht töten. Wenn du nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes geworden.
Ihr sollt so reden und handeln, wie ihr durch das Gesetz der Freiheit beurteilt werden wollt. Das Gericht für den, der keine Barmherzigkeit zeigte, ist unbarmherzig. Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

der Verfasser des Jakobusbriefes
zeichnet die Reichen nicht gerade schmeichelhaft.
Bei ihm stellen sie ziemlich klischeehaft
mit goldenen Ringen an den Fingern und prächtiger Kleidung
ihren Reichtum zur Schau,
nutzen die Macht,
die sie aufgrund ihres gesellschaftlichen Ranges haben,
rücksichtslos aus,
und ebenso die Möglichkeiten,
die ihnen das Rechtssystem bietet.
Schließlich machen sie sich auch noch über die Christen lustig.
- Ist der Verfasser des Jakobusbriefes am Ende gar ein Kommunist,
gute eineinhalb Jahrtausende vor Karl Marx?

I
Gar so ungern hört man diese Kritik an den Reichen nicht.
Sie fügt sich nahtlos in die Kritik an den "Heuschrecken"
und den gierigen Spekulanten und Bankenmanagern,
die sich selbst in der Finanzkrise
noch großzügige Boni genehmigten und auszahlen ließen.
Sie passt auch zum Neid,
den viele denen gegenüber empfinden,
die in stattlichen Häusern leben,
mit dicken Autos vorgefahren kommen
und sich offenbar alles leisten können.

Aber weder ist der Verfasser des Jakobusbriefes Kommunist,
noch hat er es auf die Reichen abgesehen.
Er zählt zwar auf, was seine Zeitgenossen
von wohlhabenden Menschen kennen lernen und erleben mussten,
und man kann das durchaus kritisch hören.
Aber er hat überhaupt kein Interesse, die Reichen zu kritisieren.
Es geht ihm gar nicht um sie.
Ihm geht es darum,
wie seine Leserinnen und Leser, seine Zeitgenossen,
sich gegenüber einflussreichen und wohlhabenden Menschen verhalten:
Darum, dass sie einen Unterschied machen.

II
Wer kennt ihn nicht: Den Respekt, den einem ein Titel einflößt?
Einem Herr Doktor, einer Frau Professorin
begegnet man mit einer gewissen Scheu, einer gewissen Ehrfurcht.
Wenn der Landesbischof in unseren Gottesdienst käme,
könnte er aufgrund seines Amtes
einen Platz in der ersten Reihe beanspruchen. Zu recht.
Wir würden ihm den aber auch sofort ungefragt anbieten:
Er ist ja der Herr Landesbischof.

Ebenso ist es mit wohlhabenden Menschen.
Sie strahlen eine natürliche Autorität aus,
der man fast sofort erliegt.
Schließlich leiten sie Firmen oder Banken,
sie sind es gewohnt, zu befehlen.
Und sie sind es gewohnt,
dass man ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkt.
Diese Haltung überträgt sich ohne Worte.
Man "pariert" ungefragt
- und ärgert sich vielleicht hinterher sogar darüber,
dass man diesem besonderen Menschen gegenüber so unterwürfig war.

Insofern ist es ungerecht vom Verfasser des Jakobusbriefes,
dass er mit seinen Lesern derart ins Gericht geht.
Sie haben doch nur getan,
was wohl jeder machen würde:
Sich der natürlichen Autorität der Wohlhabenden
unwillkürlich gebeugt
und ihnen den Rang und die Aufmerksamkeit eingeräumt,
die sie erwarten durften.

III
Aber der Verfasser kritisiert nicht so sehr dieses Verhalten.
Vielmehr tadelt er, dass ein Unterschied im Verhalten zutage tritt:
Während den Reichen selbstverständlich
Respekt entgegengebracht wird,
lassen seine Zeitgenossen diesen Respekt
gegenüber den Armen vermissen.
Im Gegenteil: Sie behandeln Menschen,
die ärmer sind als sie selbst, mit Verachtung,
lassen sie auf dem Fußboden sitzen
oder lassen sie stehen, während sie selbst einen Sitzplatz haben.
Der Jakobusbrief hat nichts gegen die Bevorzugung der Reichen.
Er echauffiert sich vielmehr über die unterschiedliche Behandlung,
die Arme und Reiche erfahren.
Würde man dem Armen Menschen ebenso zuvorkommend begegnen, gäbe es nichts zu tadeln.
Erst die Ungleichbehandlung macht diese Kritik notwendig.

Mit der unterschiedlichen Behandlung,
die der Jakobusbrief "Ansehen der Person" nennt,
geht es sozusagen ans Eingemachte.
Es geht um den Glauben selbst,
um die richtige,
nämlich dem Willen und der Botschaft Jesu gemäße
Art des Glaubens.
Es ist nicht eine Frage guten Benehmens oder der Moral.
Es ist die grundsätzliche Frage des Verständnisses dieses Gebotes,
das Jesus so wichtig war:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

IV
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Das heißt nicht, dass man alle Menschen mögen,
ja vielleicht sogar gern haben soll.
So etwas kann man nicht verlangen,
und das ist ja auch gar nicht möglich.
Dieser Satz hat viel mehr zu tun mit einer anderen Regel,
die Jesus aufgestellt hat, mit der sogenannten Goldenen Regel:
Alles, was ihr wollt, das die Menschen euch tun sollen, 
das tut ihnen auch. (Matthäus 7,12)

Möchte ich freundlich und zuvorkommend behandelt werden,
möchte ich einen guten Platz zugewiesen bekommen,
vielleicht sogar den Ehrenplatz?
Ja, das möchte ich, das würde mich freuen.
Möchte ich ignoriert werden,
einen Stehplatz zugewiesen bekommen
oder die Einladung, mich zu jemandes Füßen niederzulassen?
Nein, das möchte ich nicht, und es würde mich unglaublich ärgern.

- Sehen Sie? So einfach ist das.

Nur ist es eigenartigerweise so,
dass wir so selten diese simple Überlegung anstellen.
Wir machen alles mögliche mit unseren Mitmenschen,
sogar mit denen, die wir lieben.
Aber wir fragen uns nie, wie wir es finden würden,
wenn die dasselbe mit uns machen würden.
Als Chefin fragen wir uns nicht,
ob wir es aushalten würden,
als Angestellte unter uns arbeiten zu müssen.
Als Vater oder Mutter fragen wir uns nicht,
wie wir uns wohl als Kind solcher Eltern fühlen würden.
Als Großeltern erinnern wir uns nicht,
wie wir damals unsere Großeltern erlebt haben,
usw., usw.

Der Jakobusbrief aber droht denen,
die sich unbarmherzig verhalten,
ein unbarmherziges Gericht an.
Nun muss man nicht an ein Jüngstes Gericht glauben,
und ich finde es auch nicht richtig,
Menschen damit Angst zu machen.
Aber man könnte sich ja schon einmal fragen,
ob man von anderen Barmherzigkeit erwarten kann,
wenn man es selbst nicht fertig bringt, barmherzig zu sein.

V
Es gibt weder "die Reichen" noch "die Armen".
Wie es auch nicht "die Polen", " die Griechen",
"die Ausländer" oder "die Deutschen" gibt.
Wir lassen uns viel zu leicht von Äußerlichkeiten beeindrucken.
Wir fallen viel zu schnell auf Klischees herein.
Was uns der Jakobusbrief sagen will, ist:
diese alle sind unsere Mitmenschen.
Arme wie Reiche,
Einheimische wie Ausländer
verdienen von uns das gleiche respektvolle
und von Barmherzigkeit geprägte Verhalten.
Jeder Mensch verdient es,
von uns so behandelt zu werden,
wie wir behandelt werden möchten, wenn wir in seiner Lage wären.

Es ist so unglaublich einfach, eine Christin, ein Christ zu sein.
Es hat überhaupt nichts mit Moral zu tun.
Sondern nur mit Menschlichkeit. Mit Barmherzigkeit.
Das tolle ist: Wer es je einmal mit Barmherzigkeit versucht hat,
wer je einmal versucht hat, nicht auf Äußerlichkeiten zu achten,
sondern den Menschen hinter der Maske zu sehen,
der kein anderer ist als man selbst,
der hat keine Angst mehr vor den Mächtigen und Reichen
und keine Abscheu mehr vor den Fremden und Armen.
Der kann allen freundlich und offen und als Mitmensch begegnen
und der wird erleben, das man sie oder ihn ebenso behandelt.

Es ist so unglaublich einfach, eine Christin, ein Christ zu sein.
Lassen Sie es uns versuchen.
Lassen Sie uns versuchen, unserem Namen alle Ehre zu machen
und allen Menschen mit Barmherzigkeit begegnen.
Amen.