Montag, 5. November 2012

Sich vergeben lassen - und sich selbst vergeben



Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis über Römer 7,14–25a

Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass das Gesetz gut ist. So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!
(Lutherbibel)

Liebe Gemeinde,

der Apostel Paulus hat kein gutes Image. Er schreibt so kompliziert; man versteht nicht, was er eigentlich will. Er setzt Frauen zurück, will, dass sie Kopftuch tragen und duldet nicht, dass sie in der Gemeine sprechen. Und vor allem gönnt er einem nichts. Paulus spricht negativ und despektierlich vom “Fleisch”, das er dem “Geist” gegenüberstellt. “Fleisch” ist bei ihm soviel wie “Sünde”. Kein Wunder, dass ein scheinbar so lust- und sinnenfeindlicher Theologe nicht viele Anhänger und noch weniger Anhängerinnen hat.

Martin Luther war einer seiner Anhänger. Er hat viel von Paulus gelernt, und seine reformatorische Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes, die auf einem winzigen grammatischen Unterschied beruht, geht auf Paulus zurück. Deshalb, meine ich, lohnt es sich, so kurz nach dem Reformationstag, die Vorverurteilungen und das Vorwissen über Paulus für einen Moment beiseite zu legen und zu fragen, was er uns eigentlich sagen will. Vielleicht können auch wir dabei eine Entdeckung machen.

I
Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren, und wer einen Menschen mit einem Tier vergleicht, mit einem Schaf, einem Schwein oder einem Hund, meint es in 99% der Fälle als Beleidigung. Wir sehen uns selbst als “Krone der Schöpfung”. Wir spielen in einer ganz anderen Liga als die Hunde und Katzen, die wir uns als Haustiere halten, als die Schweine, Rinder und Hühner, die wir essen. Wir vergessen dabei, dass wir uns von ihnen weniger unterscheiden, als wir denken. Auch wir sind, von außen betrachtet, eine Art Tier. Die Tatsache, dass wir aufgrund unseres prächtig entwickelten Großhirns die dominierende Lebensform auf unserem Planeten sind, ändert nichts daran, dass wir - sozusagen unterhalb dieses Großhirns - genauso funktionieren wie alle anderen Tiere auch. Sonst wären ja auch die ganzen Tierversuche sinnlos ...

Uns unterscheidet von den Tieren, dass die Tiere tun müssen, was sie tun - sie können nicht anders. Sie sind ihren Hormonen, ihren Trieben unterworfen. Wir dagegen können uns entscheiden, haben Alternativen - zumindest glauben wir das. Aber jeder, der einmal regelmäßig geraucht hat, weiß, dass man sein Leben lang ein Raucher, eine Raucherin bleibt. Eine einzige Zigarette kann einen rückfällig werden lassen. Ebenso ist es mit dem Alkohol. Für manche Frauen sind die Tage vor den Tagen die Hölle. Und Frauen wie Männer trifft Amors Pfeil: Liebe macht nicht nur blind, sie lässt einen oft auch Grenzen überschreiten - manchmal sogar gegen den Willen des Partners. Lust und Gier sind mächtige Triebe, gegen die wir meistens machtlos sind.

Unser Körper zeigt uns immer wieder, dass wir trotz unseres Verstandes tierischer sind, als wir uns selber eingestehen möchten. Das meint Paulus, wenn er sagt, dass wir “fleischlich” sind. Zunächst einmal ist das nichts Schlechtes. Wir können ja nichts dafür, dass wir einen Körper haben, im Gegenteil: Er gehört zu uns. Wir brauchen ihn.

Aber die Bedürfnisse unseres Körpers, unsere animalische, tierische Seite, bringt uns manchmal dazu, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen und die uns hinterher leid tun. Jede und jeder hat wohl schon einmal erlebt, wie in der Erregung ein Wort herausrutschte, das den anderen sehr verletzte. Man möchte es zurücknehmen, aber es ist heraus, der Schaden ist schon angerichtet. Oder manchmal “rutscht einem die Hand aus”, wie es so schlecht eufemistisch heißt. Man wendet im Zorn Gewalt an gegen die Kinder oder den Partner.

II
Aber, wird man vielleicht jetzt einwenden, dafür haben wir doch unser Großhirn. Das unterscheidet uns doch vom Tier: dass wir denken können, dass wir uns selbst Regeln und Maßstäbe geben können, nach denen wir handeln. Und dann schlagen wir eben nicht zurück, dann greifen wir eben nicht zur Zigarette oder zur Flasche, dann halten wir eben unsere Lust, unsere Gier im Zaum.

Wir glauben, dass wir das können. Aber wenn man ehrlich ist, gelingt es eben nicht immer. Siegmund Freud hat gezeigt, dass es nichts nützt, seine Gefühle, seine Leidenschaften zu kontrollieren. Sie finden immer ein Ventil, um erneut auszubrechen. Gewalt, die man nicht nach außen richten will, wendet sich gegen einen selbst. Lust, die man auf dem einen Weg nicht befriedigen kann, sucht sich einen anderen Weg. Siegmund Freud hat uns gezeigt, dass wir weniger Herrinnen und Herren im eigenen Haus unseres Körpers sind, als uns lieb ist und als wir glauben wollen. Und Paulus sagt dasselbe: “Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich.”

III
Wir fühlen uns als Krone der Schöpfung, als Herrinnen und Herren dieser Erde. Und was haben wir nicht alles erfunden: den Pflug und die Stahlerzeugung, die Elektrizität und die Atombombe, den Kunststoff und das Internet. Wir haben alles im Griff. Es gibt nichts, was wir nicht kontrollieren könnten. Es ist nur eine Frage der Zeit. Schon manipulieren wir unsere Erbinformation. Bald werden wir auch unsere Gedanken, unsere Erinnerungen manipulieren können. Alles, was Menschen denken können, kann eines Tages auch Wirklichkeit werden. Da erscheint es doch lächerlich, dass wir nicht Herrinnen und Herren über unseren eigenen Körper sein sollten! Wir zähmen ihn und zeigen ihm, wer hier der Herr im Hause ist und was wir ihm antun können durch Training und Schönheitsoperationen, durch Piercings und Tattoos, durch Diäten und Medikamente.

Aber unsere Pläne und Ideen gehen manchmal auch schief - furchtbar und schrecklich schief. Das hat Folgen, nicht nur für uns. Wir überblicken die Folgen unseres Tuns nicht. Wir können es nicht, dazu ist das Leben, ist unsere Umwelt viel zu kompliziert. Wir verstehen immer erst hinterher, warum eine Entscheidung falsch war. Das gilt für den privaten wie für den gesellschaftlichen Bereich.

IV
In ähnlicher Weise können auch Moralvorstellungen schief gehen und schreckliche Folgen haben. Denn auch über unser Zusammenleben, über das, was “richtig” und “falsch” ist, haben wir genaue Vorstellungen. Und auch darüber, wie jemand zu sein hat. Die Kirche hat sich über Jahrhunderte in oft schlimmer Weise als Wächterin der Moral betätigt und damit Menschen das Leben schwer oder sogar unmöglich gemacht. Paulus beschreibt das mit seinen Worten so: “Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.”

Regeln, Gebote und Vorschriften sind gut, ja, notwendig für das Miteinander von Menschen. Aber sie sind nicht an sich gut. Denn für jede Regel gibt es eine Ausnahme, für die diese Regel nicht gut tut oder sogar schadet. Was für eine Mehrheit von Menschen richtig ist, kann für einzelne Menschen völlig falsch sein.
Wir sprechen von Gottes Gebot, aber was das - abgesehen von den 10 Geboten - wirklich ist, wissen wir nicht so genau. Es ist Auslegungssache. Und die ändert sich mit der Zeit und mit den Umständen. Wir können uns nicht wirklich sicher sein, ob wir tatsächlich tun, was Gott will, oder ob wir seinen Willen zu unseren Gunsten manipuliert haben. Anders wäre so manche Bigotterie und Doppelmoral nicht zu erklären - bis hinauf in die obersten Ämter der Kirche.

Paulus warnt davor, das Tier im Menschen durch Regeln, Gebote und Gesetze im Zaum halten zu wollen. Das kann nicht gelingen, das muss schief gehen; es führt zu Bigotterie und Doppelmoral. Schlimmstenfalls bringt es den Menschen, der es dennoch versucht, zur Verzweiflung.

V
“Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?” 
Vielleicht verstehen wir jetzt diesen Stoßseufzer des Paulus und stimmen sogar in ihn ein. Wenn wir uns selbst nicht erlösen, wenn wir uns selbst nicht retten können trotz unseres so überaus grandios entwickelten Großhirns - wer kann es dann?

“Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!”
Jesus hat uns erlöst. Jesus, der die Gesetze und Gebote auf die Spitze getrieben hat, indem er lehrte: “Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): »Du sollst nicht ehebrechen. « Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.” Oder: “Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.”

Jesus will damit nicht Unmögliches von seinen Anhängern fordern. Er will vielmehr deutlich machen, dass es unmöglich ist, die Gebote zu erfüllen. Weil es unmöglich ist, sollen wir aber auch nicht die Hände in den Schoß legen und es gar nicht erst versuchen. Wir sollen vielmehr Zuflucht nehmen zu seiner Vergebung.

Vergebung bedeutet: Jesus nimmt uns so an, wie wir sind. Als Menschen, die Fehler haben, die Gutes tun möchten und es doch nicht immer schaffen. Der erste und einzige Schritt, den wir tun müssen, ist: das liebevoll anzunehmen. Uns liebevoll anzunehmen als die, die wir sind. Zu verstehen und zu akzeptieren, dass wir nun einmal nicht vollkommen sind, weder körperlich, noch, was unsere Art zu leben angeht.

Wenn wir gelernt haben, und selbst liebevoll mit Gottes Augen anzusehen und uns anzunehmen, dann können wir wahrhaft versuchen, nach Gottes Gebot der Nächstenliebe zu leben. Dann können wir unangestrengt und unverkrampft lieben, Gutes tun und dabei Fehler machen und es beim nächsten Mal anders und vielleicht besser machen.

Paulus möchte uns frei machen, indem er uns unsere Grenzen aufzeigt. Es ist schmerzlich, die eigenen Grenzen zu erfahren. Aber wenn man sie akzeptiert, merkt man, dass die Liebe Gottes alle Grenzen sprengt und uns eine Freiheit schenkt, die alles übersteigt, was wir uns vorstellen können.

Deshalb lohnt es sich, ab und an mal Paulus zu lesen und auf ihn zu hören.

Amen.