Mittwoch, 21. November 2012

Wir müssen uns einmal entscheiden


Predigt am Buß- und Bettag, 21. November 2012, über Offenbarung 3,14-22:

Dem Engel der Gemeinde zu Laodizea schreibe:
"Dies sagt der, der "Amen" heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge,
das Haupt von Gottes Schöpfung:
Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist.
Wärst du doch kalt oder heiß!
Demnach, weil du lauwarm bist und weder heiß noch kalt,
werde ich dich aus meinem Mund erbrechen.
Weil du sagst:
'Ich bin reich, und bin reich geworden und habe nichts nötig',
aber nicht weißt,
dass du die Elende, die Unglückliche, die Arme, Blinde und Nackte bist,
rate ich dir, kaufe dir von mir im Feuer geläutertes Gold,
damit du reich wirst,
und weiße Kleider, damit du etwas anzuziehen hast
und deine Blöße nicht sichtbar wird,
und Salbe für deine Augen, damit du siehst.
Welche ich liebe, die weise ich zurecht und erziehe sie.
Gib dir Mühe und ändere dich!
Sieh, ich stehe vor der Tür und klopfe an.
Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet,
zu dem werde ich hineingehen
und mit ihm speisen und er mit mir.
Wer das vollbringt, dem werde ich gewähren,
mit mir auf meinem Thron zu sitzen,
wie auch ich es vollbracht habe
und mit meinem Vater auf seinem Thron sitze."
Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

die Dinge sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen.
Wer z.B. in der Dämmerung spazieren geht,
dem spielen seine Sinne oft einen Streich:
das Wildschwein am Wegrand
wird beim Näherkommen zum Baumstumpf;
die Person, die da regungslos steht,
war nur ein Schatten.

Auch wir selbst sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen.
Entsetzt starrten Eingeborene auf Fotos,
die man ihnen von sich selbst zeigte;
da hatte ihnen jemand "die Seele gestohlen".
Das waren sie - und waren es doch nicht:
so hatten sie sich noch nie gesehen.

Diese Erfahrung kann jede und jeder machen,
der eine Tonaufzeichnung von sich hört
oder sich auf einem Video sieht.
Man hört und sieht sich plötzlich,
wie andere einen hören und sehen.
Vertraut, und doch auch sehr fremd.
Wer sich das erste Mal so von außen sieht,
erschrickt, empfindet vielleicht sogar Scham:
Dass man so aussieht, so klingt,
das wusste man ja gar nicht.

I
Der Blick von außen auf einen Menschen
fördert oft Überraschendes zutage.
Oft genug beschämt er auch. Oder verletzt.
Wenn man z.B. daran denkt,
was so alles über einen erzählt wird.
Vieles weiß man zum Glück nicht,
und manches will man lieber auch gar nicht wissen.

Wie eine Kamera oder ein Tonband
halten wir Eindrücke unserer Mitmenschen fest
und geben sie an andere weiter:
"Hast du gesehen, wie der aussieht?"
"Hast du schon gehört, was ... gemacht hat?"
"Neulich, da sagt die doch zu mir: ..."

Wir sind schnell dabei, wenn über andere geredet wird.
Tratsch ist ein gesellschaftlicher Kitt,
er schweißt zusammen.
Unangenehm, ärgerlich oder peinlich ist es aber,
wenn man selbst zum Thema wird,
wenn statt mit einem über einen geredet wird.
Was da so an - zum Teil vielleicht sogar berechtigter -
Kritik geäußert wird,
lässt sich nur schwer oder gar nicht annehmen.
Zu groß ist die Beschämung, die Verletzung.

Das Gleichnis vom Dorn und vom Balken im Auge fällt einem ein:
Dass man den Dorn im Auge des anderen,
seine oder ihre kleinen Fehler, sehr genau bemerkt,
während man großzügig über den eigenen Balken im Auge,
die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen, hinwegsieht.
Ja, oft stört einen am anderen genau das,
was man selbst als schlechte Eigenschaft besitzt.
Aber statt unsere Aufmerksamkeit für die Fehler anderer
dafür zu verwenden, uns selbst genauer zu erkennen
und unsere eigenen Schwächen und Fehler zu durchschauen,
sind wir auf dem Auge blind,
das der Introspektion dienen sollte,
der kritischen Selbstbetrachtung.

II
Wir selbst sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen.
Wir selbst sind auch nicht das,
was wir von uns glauben
und wie wir selbst und gern sähen.
Ein Unfall, eine Krankheit oder spätestens das Alter
weisen uns unbarmherzig darauf hin,
dass unsere Beweglichkeit, unsere Leistungsfähigkeit, unsere Kraft
Grenzen haben und mit den Jahren weniger werden.
Leid und Unglück zeigen uns,
- wenn wir es nicht schon wussten -,
dass Glück, Gesundheit und Unbeschwertheit
nichts Selbstverständliches sind.
Auch wenn wir in solchen Situationen nach dem Warum fragen,
wir wissen doch genau,
dass wir kein Anrecht darauf haben,
dass das Leben ausgerechnet für uns eine Ausnahme macht.

Wir wissen all das.
Wir wissen um die Zerbrechlichkeit und Zufälligkeit,
die alles im Leben hat,
dass jeder Augenblick ein Geschenk ist
und wir die Freundschaft und Liebe, die uns geschenkt wird,
nicht erzwingen können und nicht verdient haben.

Wir wissen es
und wiegen uns trotzdem in Sicherheit:
Wir haben ausgesorgt.
Wir sind versichert gegen alle möglichen Unbilden des Schicksals.
Wir sorgen für unser Alter vor.
Wir verdienen ordentlich
und müssen uns keine Gedanken machen,
was wir morgen essen oder anziehen werden.

Auch für unsere Außenwirkung, unser "Image"
haben wir Vorkehrungen getroffen:
Niemand kennt unsere Fehler und Schwächen,
nicht die kleinen und großen Brüche in unserer Biografie,
nicht unsere Ängste und Sorgen,
und niemand darf sie erfahren.
Die Nacktheit unserer Seelen
verbergen wir hinter Masken und Fassaden,
hinter eingeübten Rollen und frisierten Lebensläufen.

III
"Nobody is perfekt" - niemand ist vollkommen.
Das sagt sich so leicht. Aber es lebt sich nicht leicht.
In einer Gesellschaft, die nach Vollkommenheit strebt,
in der sich jede und jeder optimieren kann und muss
und in der makellose, wohlgeformte Models unsere Vorbilder sind,
und zielstrebige, lückenlose Bildungswege;
in der es als selbstverständlich vorausgesetzt wird,
sich gesund, will sagen: arbeitsfähig zu erhalten
und sich ständig weiter- und fortzubilden,
ist jede und jeder ein Schandfleck, der nicht so ist.

Man gibt nicht zu, dass man etwas nicht kann.
Man gibt nicht zu, dass man überfordert ist,
müde, überarbeitet, frustriert.
Man gibt nicht zu, dass man Angst hat oder
nicht mehr weiter weiß.

Warum?

Warum bemühen wir uns so krampfhaft darum,
den Schein zu wahren:
den Schein, dass wir Angst und Müdigkeit nicht kennen,
dass unser Leben perfekt ist, fehlerlos, ohne Brüche?
Glauben wir tatsächlich, so ein Leben gäbe es?
Glauben wir tatsächlich denen, die uns das vorspielen
und dabei genauso verzweifelt lügen wie wir selbst?

IV
Möglicherweise sind wir ja tatsächlich so arm:
So arm zu glauben,
dass uns niemand hilft, wenn wir uns selbst nicht helfen.
Dass uns Geld, Wissenschaft und Medizin retten könnten
vor den Unbilden des Lebens,
vor Leid und Schicksalsschlägen,
vor einer ungewissen Zukunft.

Möglicherweise sind wir ja tatsächlich so arm,
dass uns das Vertrauen fehlt in den,
der das Haupt von Gottes Schöpfung ist,
der an ihrem Anfang steht und an ihrem Ende,
wie er auch am Anfang und am Ende unseres Lebens steht
und es in seiner Hand hält.

Möglicherweise fehlt uns das Zutrauen,
dass er uns tatsächlich halten wird und halten kann.
Da ist es nur allzu verständlich,
dass man lieber auf Nummer Sicher geht:
Hoffentlich Allianz-versichert!
Es schadet schließlich nicht,
ja, es wäre doch geradezu leichtsinnig und töricht,
nicht alle Vorkehrungen zu treffen,
nicht alles auszunutzen,
die uns unsere Gesellschaft und unser Einkommen bieten!

Ja, natürlich darf und kann man das tun,
und sollte es vielleicht auch.
Mit einer solch lauen Haltung kann man sich
irgendwie durchs Leben lavieren.
Aber Gott findet sie - entschuldigen Sie den derben Ausdruck -
Gott findet diese Haltung zum Kotzen.

V
Uns würde es nicht anders gehen.
Einem Menschen, der sagt, dass er uns liebt,
sich aber nicht für uns entscheiden kann und will,
sondern sich lieber noch ein Hintertürchen offen hält
(- weil man ja nicht wissen kann,
und überhaupt, vielleicht kommt ja noch was Besseres -)
den würden wir bald vor die Tür setzen.
Wir könnten Lauheit genauso wenig ertragen,
wie Gott es kann.
Ein Nein, ein Ja: damit kann man leben.
Aber ein Vielleicht, das ist auf Dauer nicht zu ertragen.

Wir müssen uns einmal entscheiden.
Wenn schon nicht um Gottes willen,
dann wenigstens um unserer selbst willen.
Wir müssen uns einmal entscheiden,
ob wir unserem Glauben wirklich trauen wollen,
oder ob wir uns weiterhin halbherzig
die Option des Glaubens offen halten,
weil man ja nie wissen kann, ob nicht doch etwas dran ist,
und schaden kann's ja nicht ...

Wenn wir uns für den Glauben entschieden,
könnten wir die Masken fallen lassen
und aufhören, uns selbst und unseren Mitmenschen
etwas vorzumachen.
Wir dürften endlich zu unseren Schwächen stehen,
weil sie unsere größte Stärke sind:
sie erlauben es Gott, uns zu helfen.

Wenn wir uns für den Glauben entschieden,
würden wir erkennen,
dass wir schon jetzt reich sind,
mit dem Besten ausgestattet,
was man im Leben erreichen kann:
ein gelungenes, ein richtiges, ein sinnvolles Leben.

Schaut man aus dem Blickwinkel des Glaubens
auf das eigene Leben zurück,
dann läuft alles zielgerichtet und zwingend
auf das eine Ziel zu:
dass wir bei Gott geborgen sind,
dem wir recht sind,
dem wir gut genug sind,
der stolz ist auf uns und auch zu uns sagen wird:
Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn,
an dir habe ich Wohlgefallen.
Amen.