Dienstag, 25. Dezember 2012

Gleiches Recht für alle


Predigt am 2.Weihnachtstag, 26.12.2012, über Jesaja 11,1-9:

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

(Lutherbibel)


Edward Hicks, Peacable Kingdom
Quelle: 


Liebe Gemeinde,

Antonio Marino, Sohn italienischer Gastarbeiter,
war mein bester Freund, als ich zur Grundschule ging;
er wohnte schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite.
Eine italienische Familie war damals noch etwas Besonderes
und ziemlich Exotisches in unserem Dorf.
Von Anfang an verband uns eine Art Leidensgemeinschaft:
Antonio und ich waren die einzigen,
die im Winter wollene Strumpfhosen tragen mussten.
Wir entdeckten das in der Umkleidekabine,
beim Umziehen vor dem Sportunterricht.
Diese Tatsache brachte uns sofort zusammen
und ließ es für jeden von uns nicht mehr ganz so peinlich sein,
dass wir noch, wie die Kleinen, mit Strumpfhose herumliefen.

Eine Gastarbeiterfamilie hatte es damals auf dem Dorf nicht leicht.
Wo ohnehin zwischen "Einheimischen" und "Zugereisten" unterschieden wurde,
hatten Ausländer keine Chance, akzeptiert zu werden.
Bei den Eltern meines Freundes kam erschwerend hinzu,
dass sie Zeugen Jehovas waren;
ich nehme an, er war es auch.
Jedenfalls schenkte er mir eines dieser Traktate, die sie verteilten.
Ich sehe noch die ziemlich kitschigen
und zugleich sehr frommen Illustrationen vor mir.

Eine davon hat sich mir besonders eingeprägt:
Es war der "Tierfrieden";
die Darstellung der Szene, die Jesaja beschreibt:
Kind, Lämmchen, Kuh und Kälbchen,
Löwe, Leopard und Wolf einträchtig und friedlich beieinander.

I
Ganz egal, auf welche Weise man diese Szene illustriert,
sie hat immer etwas Kitschiges, Naives.
Das liegt wohl daran, dass sie so unrealistisch ist.
Wölfe und Lämmer, Kälber und Löwen -
jedes Kind, das das Märchen
vom Wolf und den sieben Geißlein kennt, weiß,
dass das nicht zusammenpassen und niemals gut gehen kann.

Ebenso verhält es sich mit der Aussicht,
dass es jemanden geben könnte,
der nicht nach dem Augenschein urteilt
und nicht nach dem Hörensagen;
der Armen und Schwachen Gerechtigkeit widerfahren lässt
und sie nicht übervorteilt, sie nicht um ihr gutes Recht bringt.

Deshalb passt diese Szene des Tierfriedens so gut zu Weihnachten.
Denn auch in der Weihnachtsgeschichte wird etwas
ganz und gar Unrealistisches erzählt:
dass eine Frau ohne Zutun eines Mannes schwanger wird;
dass ihr Kind, das in einem Stall zur Welt kommt,
von weisen Königen besucht wird
und dass es selbst ein König sein soll.

II
Die Geschichte vom Tierfrieden klingt wie ein Märchen,
ebenso wie die Weihnachtsgeschichte.
Ein Märchen erzählt etwas gänzlich Unwirkliches -
von sprechenden Ziegen
und Wölfen, die mit Kreide ihre Stimme verstellen;
dass es Goldtaler vom Himmel regnet
oder ein Haus aus Lebkuchen gebaut ist.
Aber das Märchen wird nicht nur zur Unterhaltung erzählt,
es hat eine Moral; man kann und soll etwas daraus lernen.
Der Predigttext aus dem Propheten Jesaja aber
und die Weihnachtsgeschichte haben keine Moral.
Es sind einfach nur gut erzählte,
aber völlig an der Wirklichkeit vorbeigehende Geschichten.

Und doch hat die Geschichte vom Tierfrieden
einen Anhalt an der Wirklichkeit;
man bemerkt ihn aber erst auf den zweiten Blick.
Die Geschichte beschreibt, wie es ist im Leben,
indem sie sagt, was das Reis aus dem Stamm Isais nicht tun wird:
Über andere nach dem Augenschein urteilen,
ohne zu fragen, ob der Schein vielleicht trügt;
Gerüchten vertrauen schenken, ohne sie zu überprüfen
- und vor allem, ohne den zu fragen, über den geredet wird.
Arme und Unwissende bekommen weniger oft und weniger leicht Recht
als Einflussreiche und Wohlhabende.
Denken Sie nur daran, wie sehr man sich über angeblich faule und arbeitsscheue Hartz IV-Empfänger erregt
und fordert, der Sozialhilfesatz müsse auf jeden Fall unter dem Mindestlohn bleiben,
sonst wolle ja gar keiner mehr arbeiten,
während man den oberen Gehaltsklassen ihr Einkommen bestenfalls neidet,
aber niemals auf die Idee käme,
von ihnen mehr Bescheidenheit und Solidarität zu fordern.

Wer Kinder hat, weiß nur zu gut,
wo überall Gefahren für sie lauern:
Nicht nur Ottern und Nattern,
die es bei uns zum Glück nur selten gibt,
können Kindern gefährlich werden.
Auch die schönen roten Beeren;
Blätter, die ein Kind sich in den Mund steckt;
Messer, Gabel, Schere, Licht,
vom Straßenverkehr ganz zu schweigen.

III
Jesaja beschreibt, was das Reis aus dem Stamm Isais nicht tun wird
- und beschreibt so seine Wirklichkeit vor zweieinhalbtausend Jahren,
die von unserer nicht so sehr verschieden ist, wie wir meinen.
Der beim ersten Hören utopische und unrealistische Text
zeigt beim genaueren Hinsehen,
dass er die Wirklichkeit sehr scharf in den Blick nimmt
und benennt, was nicht gut ist.

Aber woher weiß Jesaja das?

In der Antike war es über Jahrhunderte,
wenn nicht Jahrtausende hinweg selbstverständlich,
dass es Sklaven gab: Menschen, die anderen Menschen gehörten
und nicht frei entscheiden konnten.
In Amerika wurden Schwarzafrikaner als Sklaven gehalten
und galten als Menschen zweiter Klasse.
In Europa waren Frauen das Eigentum ihrer Väter,
dann ihrer Ehemänner, und hatten kaum eigene Rechte.
Das alles war selbstverständlich und wurde kaum hinterfragt.
Jede und jeder, der anders dachte, wurde als Phantast,
als Spinner, als weltfremd angesehen.
Erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts
erstritten Frauen das Wahlrecht;
erst in den 60er Jahren die gesetzliche Gleichheit in der Ehe;
seitdem gibt es erst Pastorinnen in der Ev. Kirche.
Und obwohl die Sklaverei in Amerika 1865 abgeschafft wurde,
dauerte es noch einmal einhundert Jahre,
bis die Rassentrennung aufgehoben wurde.

Wie ist es dazu gekommen,
dass eine Sklavin auf die Idee kam,
sie sei nicht weniger wert als ihr Herr?
Wie kam es dazu, dass ein Afroamerikaner feststellte,
dass seine Hautfarbe ihn nicht zu einem schlechteren Menschen machte als die Weißen?
Wie entdeckten Frauen, dass sie nicht zur Hausfrau und Mutter bestimmt sind,
sondern sich genauso frei entfalten dürfen wir die Männer?
Wie konnte es zu solchen Entdeckungen kommen,
wenn die Wirklichkeit eine ganz andere war,
wenn diesen Menschen von klein auf ihre Minderwertigkeit,
ihr Anderssein, ihre Abhängigkeit und Unfreiheit eingeimpft wurde?

IV
Wenn man genau hinsieht und gut beobachtet,
merkt man, wie es zugeht in der Welt.
Man merkt, dass Jesaja schon damals einen scharfen Blick hatte:
Es wird übervorteilt und betrogen,
es wird nach dem Hörensagen und dem Augenschein geurteilt.
Die Gewalt siegt, und wem nichts heilig ist, der hat Erfolg.

In der Tierwelt ist es nicht anders: Nur die Starken überleben.
"Survival of the fittest" nannte Charles Darwin das.
Und auch wenn er etwas anderes damit meinte,
dieser Satz wurde zum Glaubenssatz aller Macher und Erfolgreichen.
Rücksichtnahme, Fairness, Menschlichkeit, Solidarität
kann man sich im Kampf jeder gegen jeden nicht leisten.
Wer in diesem Kampf nicht bestehen kann,
der muss eben ans untere Ende der Hühnerleiter,
und wer sich nicht wehren kann, geht unter und wird gefressen.
Das war so zu Zeiten Jesajas, und es ist heute nicht anders.

Der scharfsichtige Jesaja bemerkte aber nicht nur,
wie es zugeht in der Welt.
Er sah auch, wie es den Opfern erging,
und er fühlte mit ihnen.
Und plötzlich fand er sich nicht auf der Seite der Gewinner wieder,
sondern war solidarisch mit den Verlierern dieses Kampfes,
mit denen am unteren Ende der Leiter.

Und er erkannte,
dass auch Gott an diesem Ende der Leiter zu finden ist,
und nicht am oberen Ende.
Und so kam er auf die Idee,
die Verhältnisse umzudrehen
und seinen Traum von einer anderen Welt aufzuschreiben:
Seine Utopie von umgekehrten Verhältnissen,
die aber nicht einfach umgekehrt sind,
so dass die Reichen jetzt arm wären
und die Einflussreichen ohnmächtig.
Sondern von einer Gerechtigkeit,
die jeder und jedem Gutes gönnt.

V
An Weihnachten ist etwas ganz und gar Unrealistisches geschehen:
Eine Frau hat ohne das Zutun eines Mannes
ein Kind zur Welt gebracht,
und dieses Kind hat, als es heranwuchs,
die Welt auf den Kopf gestellt:
hat sich zu den Menschen ans untere Ende der Leiter begeben,
ihnen gezeigt, dass sie nicht weniger wert sind
als die Großkopferten, die Schönen,
die Mächtigen und Reichen.
Er hat ihnen ihren eigenen Wert und ihre eigene Schönheit gezeigt;
er hat ihnen gesagt und gezeigt, dass sie dazugehören
und ihnen versprochen, dass sie das Reich Gottes erben werden.
Er wurde dafür hingerichtet, ist gestorben
und in den Augen der Welt mit seiner Mission gescheitert:
Auch nur so ein Spinner, der die Welt verändern wollte,
aber genauso wenig gegen die Macht der Fakten ankam
wie die Weltverbesserer vor und nach ihm.

Aber er ist nicht im Tod geblieben.
Er ist auferstanden, das Leben hat den Tod besiegt.
Die Liebe hat sich als stärker erwiesen als alle Macht der Welt.
Das ist es, was Menschen zu allen Zeiten Hoffnung gegeben hat
und Mut machte, für sich die gleichen Rechte zu fordern,
wie sie für andere galten.
Das ist Auferstehung im Leben.

VI
Mein Freund Antonio Marino
ist nicht lange in unserem Dorf geblieben.
Ich weiß nicht, warum seine Eltern weggezogen sind.
Vielleicht, weil sie bei uns nicht heimisch werden konnten.
Zum Abschied hat er mir ein Büchlein der Zeugen Jehovas geschenkt.
Mir ist davon das Bild vom Tierfrieden in Erinnerung geblieben:
die Hoffnung, dass eines Tages Starke und Schwache,
Löwen und Lämmer in Frieden miteinander leben können;
die Hoffnung, dass wir eines Tages keinen Unterschied mehr machen
zwischen Einheimischen und Zugereisten,
zwischen Deutschen und Ausländern,
zwischen Zeugen Jehovas, Protestanten, Katholiken,
Juden und Muslimen,
zwischen Männern und Frauen,
sondern allen die gleichen Rechte gönnen,
die gleichen Freiheiten,
die Zugehörigkeit zu uns und
ein glückliches Leben unter uns.

Amen.