Sonntag, 23. Dezember 2012

Wer liegt da eigentlich in der Krippe?


Predigt in der Christnacht am Heiligen Abend, 24.12.2012, über Johannes 7,28+29:

Jesus rief laut im Tempel,
lehrte und sprach:
"Ihr wisst, wer ich bin,
und ihr wisst auch, woher ich komme.
Aber ich bin nicht aus eigenem Antrieb gekommen,
sondern ich wurde gesandt von dem, der wahrhaftig ist,
den ihr nicht kennt.
Ich kenne ihn,
weil ich von ihm komme,
und er mich gesandt hat."
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

an Weihnachten wird Gottes Sohn Mensch.
Das eine Wort Gottes, mit dem Gott die Welt geschaffen hat,
wie es im Prolog des Johannesevangeliums heißt,
wird von Maria als Menschenjunges in Bethlehem zur Welt gebracht,
wächst in Nazareth auf, lernt von Joseph,
seinem gesetzlichen Vater, das Handwerk des Zimmermanns,
wird dann von Johannes im Jordan getauft,
zieht predigend durch Israel,
gewinnt Jüngerinnen und Jünger
und stirbt schließlich einen qualvollen Tod am Kreuz.

Soweit, in aller Kürze, die Fakten.

Gott wird Mensch, Gott offenbart sich in einem Menschen.
Gott lüftet sein ewiges Geheimnis,
indem er anschaulich wird, fassbar, greifbar
- begreifbar und angreifbar.
Wissen wir dadurch, wer Gott ist?
Kennen wir Gott jetzt, oder kennen wir ihn zumindest besser,
seit er sich begreifbar und angreifbar gemacht hat?

Eine Künstlerin hat sich in einer Performance
einmal so begreifbar und angreifbar gemacht:
Sie hat sich auf den Boden gelegt und erklärt,
sie übernehme die Verantwortung für alles,
was mit ihr geschehe - kurz: man könne mit ihr machen,
was man wolle.
Zunächst wurde sie gestreichelt, sanft berührt.
Dann begannen die Umstehenden,
ihre Kleidung zu zerreisen und sie nackt auszuziehen,
sie zerkratzten ihre Haut, bis sie blutete
und taten andere schmerzhafte, schreckliche Dinge mit ihr.
Sie hätten sie umgebracht,
wenn ihre Assistenten nicht eingeschritten wären.

Auch Jesus hat sich so angreifbar gemacht.
Auch er hat sich in die Hände der Menschen begeben,
aber seine Assistenten, seine Jünger, sind nicht eingeschritten,
- konnten, durften nicht einschreiten.
Man hat ihn schließlich ans Kreuz genagelt.

I
Wenn wir Menschen etwas genauer untersuchen,
machen wir es dabei oft kaputt.
Kinder reißen Insekten aus Neugier die Flügel ab oder die Beine aus,
pflücken Blumen und zerpflücken sie dann;
Wissenschaftler sezieren Pflanzen,
setzen Tiere in Versuchen Schmerzen und Qualen aus,
um herauszufinden, welche Nerven was bewirken,
ob ein Wirkstoff gut verträglich ist oder nicht,
oder ob eine Creme tatsächlich die Falten glättet.

Wie gehen wir mit Gott um,
wenn wir wissen wollen, wer er ist?
Müssen wir mit dem Kind in der Krippe experimentieren,
um herauszufinden, wer es in Wirklichkeit ist?
Werden wir es mit unserem scharfen Verstand sezieren?
Leuchten wir ihm mit dem Licht der Vernunft ins Gesicht
und testen seine Reflexe?

Das Kind würde es geschehen lassen
- es ist ja gerade erst geboren und ganz hilflos,
es kann und wird sich nicht wehren.
Aber wir merken,
dass wir mit unseren wissenschaftlichen Methoden
nichts über dieses Kind herausfinden werden.
Wir merken auch,
dass wir Skrupel bekommen oder es sogar ablehnen,
so über dieses Kind zu denken.
Nicht einmal in einem Gedankenexperiment
würden wir ihm so etwas antun.

II
Es bleibt also ein Geheimnis,
wer dieses Kind in der Krippe ist.
Es bleibt das Geheimnis, das jeder Mensch ist.
Denn selbst die Menschen, die wir über alles lieben
- unsere Partnerin, unseren Partner,
unsere Kinder, unsere Eltern -,
selbst die kennen wir nicht.
Ja, je länger wir zusammen sind,
je besser wir uns eigentlich kennen müssten,
desto stärker wird uns bewusst,
wie wenig wir voneinander wissen.
Jeder Mensch ist ein Geheimnis,
und wenn wir diesen Menschen lieben,
dann respektieren wir ihr oder sein Geheimnis.
Wir versuchen nicht, alles über ihn zu wissen,
jeden seiner Schritte zu kennen und jeden Gedanken.

Dieses kleine Neugeborene, das da in der Krippe liegt,
ist ein Mensch, eine Person, die wir niemals wirklich kennen werden,
so sehr wir uns auch mit ihr beschäftigen,
so gründlich wir ihr Leben und Denken ausforschen.
Sie hat ein Geheimnis, und das macht ihr Menschsein aus,
das macht sie erst zu einem Menschen,
und es gehört zu ihrer Freiheit, ein Geheimnis zu haben.

Das bedeutet aber:
Wir wissen so gut wie nichts über Jesus.
Wir wissen, wer er ist - der Sohn des Zimmermanns,
und woher er kommt - aus Nazareth in Galiläa,
woher, wie die Tradition es behauptet, noch nie Gutes kam.
Aber das, was wir wissen, hilft uns nicht weiter.

In derselben Weise "wissen" wir etwas über andere Menschen.
Aber dieses sogenannte "Wissen" nehmen wir sehr wohl in Anspruch,
um ein Urteil über andere zu fällen.
Die Herkunft spielt da durchaus eine Rolle,
der Beruf ist keineswegs gleichgültig.
Je besser die Herkunft, je angesehener der Beruf,
desto höher denken wir, desto mehr erwarten wir von ihm.
Es spielt auch eine Rolle, dass wir wissen, dass er gelogen hat,
dass sie Geld veruntreute,
dass er neulich nicht grüßte,
oder dass sie immer so komische Sachen trägt.
Durch dieses "Wissen" gewinnen wir ein Bild von anderen,
so wie sie ein Bild von uns gewinnen.
Diese Bilder bauen wir als Wände zwischen uns auf.
Wände, die uns den Blick aufeinander verstellen.
Wir sehen nicht mehr einander,
sondern nur noch die Bilder, die wir voneinander haben.

III
Auch von Gott machen wir uns Bilder.
Gott ist lieb. Gott ist gut.
Gott sieht alles. Gott bestraft die Sünde.
Gott ist zornig über uns. Gott wird uns alle richten.
Gott ist allmächtig. Gott hilft oft nicht.
Gott ist oft nicht da, wenn man ihn braucht.
Gott erhört nicht jede Bitte.
Manche erhört er, und bei manchen erhört er mehr als bei anderen.
Manche, die werden nie erhört, obwohl sie sich alle Mühe geben.

Viele geben Gott irgendwann auf,
weil Gott sich nicht so verhält, wie sie es von ihm erwarten
oder wie man es ihnen erzählt hat,
weil Gott nicht dem Bild entspricht, das sie von ihm haben.
Ein Schicksalsschlag, eine Ungerechtigkeit
oder einfach die beharrliche Weigerung Gottes,
sich irgendwie "beweisen" zu lassen,
bringen Menschen dazu, den Glauben an Gott aufzugeben,
oder sogar den Gedanken, dass es Gott überhaupt gibt.

Wenn wir aber ehrlich sind,
wissen wir gar nichts über Gott.
Hilflos versuchen wir, dieses Unwissen zu kaschieren,
indem wir uns darüber Gedanken machen,
ob Gott nun ein Er oder eine Sie ist - oder gar ein Es,
ob Gott "jenes höhere Wesen, das wir verehren" ist,
eine Art Energie oder Kraft,
oder einfach nur ein Hirngespinst.

Wenn Gott aber lebendig ist - so lebendig, dass er einen Sohn hat,
dann ist er eine Person.
Und zu dieser Person gehört, dass sie ein Geheimnis hat.
Dass sie ein Geheimnis haben darf; das ist ihre Freiheit.
Wenn wir Gott diese Freiheit lassen wollen,
dann müssen wir akzeptieren,
dass Gott, wie jede andere Person, manchmal Dinge tut,
die wir nicht verstehen, die wir nicht billigen, die wir nicht mögen.

IV
Versuchen wir einmal, nur probehalber,
alles gelernte Wissen über Gott und über den Glauben
beiseite zu schieben.
Versuchen wir, nicht schon zu wissen,
was Gott über uns denkt, wie Gott ist und was er tun wird.
Tun wir, nur probehalber, einmal so,
als ob wir heute zum ersten Mal von Gott hören würden,
als würde er uns heute vorgestellt,
wie man einen Unbekannten
auf einem Empfang oder einer Party vorstellt,
und wir wüssten noch gar nichts über ihn.

Um uns das vorzustellen, müssen wir nur
einen Blick in die Krippe wagen.
Das Neugeborene, das dort liegt, hat noch keine Geschichte.
Es ist, wie jedes Neugeborene, ein Nobody, ein Niemand.
Und doch ist es für seine Eltern ein Somebody, ein Jemand
- ja, für sie ist es das größte Glück der Welt.

Wenn wir in die Krippe schauen,
sehen wir da ein Neugeborenes liegen.
Wenn wir Glück haben, sieht es uns an.
Dann geht uns unser Herz auf, ob wir wollen oder nicht.
Dann gibt es kein Entrinnen vor der Liebe,
die wir in diesem Moment empfinden.
Und dann wissen und spüren wir es zugleich:
Gott ist die Liebe.
Jesus hat das gesagt.
Und dabei geht es nicht um eine theoretische Abhandlung,
wie Erich Fromm sie geschrieben hat.
Es geht um dieses überwältigende Gefühl.

V
Wenn wir wissen wollen,
wer da in der Krippe liegt, und wer Gott ist,
müssen wir wagen zu fühlen und unserem Gefühl zu vertrauen,
und zwar unserem Mitgefühl.
Wenn wir uns in dieses Menschlein in der Krippe hineinversetzen,
uns fragen, was ihm gut täte, was es braucht,
dann wissen wir, wer es ist.

Wir wissen, dass wir mit Menschen behutsam umgehen müssen.
Wir wissen, dass Tiere und Pflanzen unsere Mitgeschöpfe sind,
die unseren Respekt verdienen,
eine Behandlung, die ihnen gerecht wird
und die ihre Freiheit anerkennt.
Wir wissen, dass wir die Tatsache, dass sich jemand nicht wehrt
oder nicht wehren kann,
nicht ausnutzen dürfen, indem wir ihr oder ihm schaden.
Wir wissen es, weil wir es fühlen,
sobald wir uns in ihn, in sie hineinversetzen.

Gott ist die Liebe.
Gott ist dieses Mitgefühl.
Wenn wir lieben, wenn wir mit anderen fühlen,
dann spüren und wissen wir, wie Gott ist.

Gott war so mutig, sich als kleines, hilfloses Kind
in unsere Hände zu begeben und sich nicht zu wehren.
Er hat das für uns getan.
Dafür lieben wir ihn.

Amen.