Samstag, 8. Dezember 2012

Rache und Vergeltung


Predigt am 2. Advent, 9.12.2012, über Jesaja 35,3-10:

Stärkt die schlaffen Hände,
und die zitternden Knie stärkt.
Sagt den klopfenden Herzen:
seid stark, fürchtet euch nicht.
Seht: Euer Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und euch helfen.
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden
und die Ohren der Tauben.
Dann wird der Lahme springen wie der Hirsch,
und jubeln wird die Zunge des Stummen.
Denn in der Wüste brechen Wasserläufe hervor,
und Bäche in der Steppe.
Und wo das Flirren der Hitze wie Wasser aussieht,
soll ein Schilftümpel sein,
und in wasserlosem Gebiet wird Wasser quellen.
Wo Schakale hausen und lagern,
wächst Schilf für Schilfrohre, und Papyrus.
Und es wird dort eine Straße und ein Weg sein,
"heiliger Weg" wird man ihn nennen;
Unreine dürfen nicht auf ihm gehen,
er ist für die bestimmt, die schon auf dem Weg gehen,
aber die Toren werden nicht auf ihm umherirren.
Es wird dort kein Löwe sein
und Raubtiere werden nicht zu ihm hinaufsteigen;
sie werden dort nicht gefunden,
sondern die Erlösten gehen auf ihm.
Die Losgekauften des Herrn kehren zurück
und kommen zum Zion mit Jubel.
Ewige Freude wird auf ihren Häuptern sein.
Jubel und Freude wird sie einholen,
aber Kummer und Seufzen werden fliehen.

(Eigene Übersetzung, vgl. Offene Bibel)

Liebe Gemeinde,

"du musst jetzt sehr stark sein."
Dieser Satz kündigt eine schreckliche Nachricht an.
Wer ihn hört, der macht sich auf das Schlimmste gefasst.
Dem ergeht es dann so, wie es der Predigttext beschreibt:
die Hände werden schlaff. Die Knie zittern.
Und das Herz klopft zum Zerspringen.
"Setz dich besser erst mal hin", heißt es dann,
und man setzt sich 
und erwartet jeden Moment den Schlag,
den die Nachricht einem versetzen wird.

I
"Du musst jetzt sehr stark sein."
Das haben wir uns auch schon oft gesagt.
Auch wenn wir zum Glück nur selten 
eine schlechte Nachricht verkraften mussten,
stark müssen wir trotzdem oft sein.
Es wird viel von uns verlangt.
Wir müssen unsere Kräfte mobilisieren,
noch einmal in die Hände spucken, 
die schon nicht mehr richtig zupacken können;
die Beine, die vom Laufen müde sind
oder vom vielen Stehen schon schmerzen,
noch einmal anspannen;
das vor Anstrengung klopfende Herz beruhigen.

Schülerinnen und Schüler schreiben
in diesen Wochen vor den Weihnachtsferien
eine Arbeit nach der anderen;
Eltern werfen sich nach der Arbeit ins Getümmel
der Kaufhäuser und Weihnachtsmärkte,
stehen im Stau beim Warten auf einen Platz im Parkhaus
und im Stau bei der Fahrt nach Hause.
Alleinstehende fürchten die Einsamkeit dieser dunklen Tage besonders.

Alle haben jetzt mehr zu tun, mehr auszuhalten als sonst,
haben kaum Gelegenheit, 
die freudige Erwartung zu empfinden und auszuleben,
die sich doch mit der Adventszeit verbindet.

Bis zum Weihnachtsfest müssen wir sehr stark sein
und alle Kraft zusammennehmen.
Erst dann ist es soweit:
erst dann können wir das Fest genießen,
uns an den Geschenken und am Miteinander freuen.

II
Irgendwann kann man aber einfach nicht mehr.
Man hat sich schon so oft zusammengerissen,
hat zu oft die letzten Kräfte mobilisiert,
zu oft in die Hände gespuckt,
zu selten die Beine hochlegen können,
hat zu viel auf dem Herzen.

Irgendwann funktioniert man nur noch,
fast wie eine Maschine.
Steht morgens auf, fährt zur Schule oder zur Arbeit,
bringt den Tag irgendwie herum
und fällt abends todmüde, leer und ausgebrannt ins Bett.

Irgendwann weiß man nicht mehr,
wie man sich jetzt noch einmal motivieren,
noch einmal zusammenreißen und Kraft gewinnen soll.
Da hilft kein "Knoppers",
keine "lila Pause" und auch kein "Kinder-Pingui".
Auch keine Zigarette und kein Alkohol.

Woher bekommt man Kraft,
wenn man sich selbst am Ende seiner Kräfte fühlt?
Wer oder was macht einem Mut,
wenn man selbst mutlos geworden ist?
Worauf kann man sich noch freuen,
wenn der Alltag zur freudlosen Pflicht verkommen ist?

Der Predigttext ruft dazu auf,
den Kopf aus den Händen zu nehmen
und aufzublicken, hochzusehen:
"Seht: Euer Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und euch helfen."

III
Rache und Vergeltung - 
darf man in einer Kirche davon überhaupt sprechen?
Gerade zur Advents- und Weihnachtszeit,
in der es friedlich-schiedlich zugehen soll,
will man die Worte "Rache" und "Vergeltung" nicht hören.
Sollten wir als Christinnen und Christen der Rache nicht abschwören?
Sollten wir nicht unsere Feinde lieben
und dem, der uns schlägt, auch die andere Wange hinhalten?

Das stimmt. Schließlich heißt es in der Bibel:
"Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr."
(5. Mose 32,35)
Aber wenn Jesus dazu auffordert, die Feinde zu lieben,
verlangt er damit nicht, 
dass man sie zu Freunden machen muss.
Jesus vertuscht nicht, dass sie Feinde sind.
Er möchte nur, dass wir in ihnen auch den Mitmenschen sehen
und dass wir ihre Feindschaft nicht erwidern,
nicht Böses mit Bösem vergelten.
Das heißt nicht, dass es nichts Böses gibt,
oder dass man das Böse nicht so nennen dürfte.

Damit wir aufblicken und Gott kommen sehen können,
müssen wir zunächst das sehen,
was unser Leben und das Leben anderer beschwert.
Wir müssen, obwohl wir doch schon so müde sind,
obwohl die Vorweihnachtszeit alles mit Zuckerguss
und Jingle Bells zukleistert,
sehen, wer und was uns so müde und kraftlos macht.

Auf dem Lebensweg, den wir gehen,
gibt es Schakale und Löwen.
Es gibt die Toren, die darauf herumirren,
und die Raubtiere, die uns verletzen, vernichten wollen.
Wenn man hinsieht, entdeckt man sie
in den Mitschülern, die einen ausnutzen, 
aber, wenn man sie braucht, nicht helfen;
die Druck ausüben, lästern und mobben.
Man entdeckt sie in den Kolleginnen und Kollegen,
die einem den Erfolg nicht gönnen,
die einem Stöcke zwischen die Beine werfen
und ihre Intrigen spinnen.
In den Institutionen und Behörden,
die einem mit Verordnungen und Auflagen das Leben schwer machen,
die sich nicht für das interessieren, was man leistet,
sondern nur ihre Regeln und Paragraphen kennen.

IV
Wer sieht, wer und was einem das Leben schwer macht,
wer sich diesen Anblick zumutet - gerade in der Adventszeit,
die ja eine Buß- und Fastenzeit ist, eine Zeit der Besinnung:
der Besinnung nicht nur auf die eigenen Fehler und Defizite,
sondern auch darüber, warum die Welt so ist, wie sie ist,
und ob das alles so sein und bleiben muss -
wer sich diesen Anblick zumutet,
dem wird die Nachricht Mut machen,
dass Gott zur Rache kommt und Vergeltung üben wird.

Dem wird es Kraft geben,
dass Gott nicht zulässt,
dass Leute seinen Weg verschandeln und zerstören,
dass Leute die Menschen, die darauf gehen, 
zu behindern und zurückzuhalten suchen.

Gott, so verkündet unser Predigttext,
will, dass alle, die auf seinem Weg gehen,
diesen Weg unbeschadet und ungestört gehen können.
Gott will, dass Leben aufblühen kann 
und Verwüstungen geheilt werden.
Gott will, dass Menschen sich freuen können -
freuen an den Fähigkeiten und Gaben, die Gott ihnen geschenkt hat,
freuen am Erfolg und den Früchten, die ihre Mühen haben,
freuen am Leben, das sie spenden, wenn sie auf Gottes Wegen gehen.
Gott wird sich an all denen rächen,
die den Nachfolgerinnen und Nachfolgern seines Sohnes
- all denen, die auf seinem heiligen Weg gehen - 
Beschwer machen, und er wird es ihnen vergelten.

V
Es fällt einem nicht leicht,
diese Worte von Rache und Vergeltung zu hören,
wenn man gelernt hat, dass ein Christenmensch so etwas nicht tun,
ja nicht einmal denken darf.
Aber der Zorn und die Trauer sind ja da -
Zorn und Trauer über die Knüppel, 
die einem zwischen die Beine geworfen,
die Intrigen, die gegen einen gesponnen,
die falschen Dinge, die über einen verbreitet wurden.
Zorn und Trauer darüber,
dass man seine Gaben nicht einbringen darf,
dass es um Beziehungen, und nicht um Fähigkeiten geht,
und dass Einsatz für andere nicht gefördert,
sondern behindert wird.
In der Schule. Am Arbeitsplatz. Auch hier in der Kirche.

Aber es geht dabei nicht um unsere Rache.
Gott wird uns rächen,
und er tut das nicht, indem er Feuer und Schwefel regnen lässt,
sondern indem er uns auf seinem Weg gehen lässt.
Es ist ein Weg durch die Wüste - aber wer ihn geht,
in dessen Fußstapfen bilden sich kleine Oasen.
Es ist ein Weg voller Gefahren - aber wer ihn geht,
dem können sie nichts anhaben.

Jesus ist diesen Weg gegangen,
er hat ihn uns sozusagen gebahnt.
Und auf die Frage des Johannes,
ob man das denn glauben könne,
ob Gott tatsächlich bei uns ist auf dem Weg
und ob die blühenden Landschaften, die dieser Weg schaffen soll,
tatsächlich mehr sind als die leeren Phrasen der Politiker,
hat Jesus mit einem Zitat dieses Textes geantwortet.
Er hat gesagt:
"Blinde sehen und Lahme gehen, 
Aussätzige werden rein und Taube hören, 
Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt;
und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert."
(Matthäus 11,3)

Wenn wir Jesus nachfolgen,
bringen wir die Wüste zum Blühen,
machen wir Menschen Mut,
schaffen wir Frieden und Gerechtigkeit.
Nicht für die ganze Welt.
Aber für die kleine Welt um uns herum.
Wir säen überall Senfkörner aus,
die vielleicht zu einem großen Baum heranwachsen;
wir sind die kleine Menge Sauerteig,
der den ganzen Teig verwandeln kann
in duftendes, schmackhaftes, Leben spendendes Brot.

Wir müssen nicht stark sein.
Wir müssen nicht einmal glauben.
Wir müssen nur aufsehen, dann sehen wir:
"Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und uns helfen."

Es ist Advent.
Gott kommt.

Amen.