Samstag, 15. Dezember 2012

Trost


Predigt am 3. Advent, 16.11.2012, über Jesaja 40,1-11:

Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. 

Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet. 

Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. 

Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! 
Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
(Luther 1984)


Liebe Gemeinde,

manchmal braucht man Trost.
Da muss man seinen Kopf in den Schoß
von Mutter oder Vater legen,
sich an der Brust der Liebsten oder des Liebsten bergen
und weinen - und dann eine vertraute, beruhigende Stimme hören,
die einem versichert, dass alles gut werden wird,
dass man selbst gut ist und richtig und geliebt.

Manchmal braucht man Trost,
und dieses Bedürfnis richtet sich nicht nach dem Kalender.
Auch kurz vor Weihnachten,
das man so gar nicht mit Trauer und Trost in Verbindung bringt,
muss man manchmal getröstet werden.
Denn auch das Leid richtet sich nicht nach dem Kalender.
Wir haben gerade Szenen aus Newtown in Connecticut gesehen,
wo Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer,
aber auch viele Außenstehende nach Trost suchten
und sich die Frage stellten, 
die bis jetzt nicht beantwortet werden kann: Warum?
Warum erschießt ein junger Mann 20 Kinder und 7 Erwachsene?
Warum ändern die 31 Amokläufe seit dem von Columbine
nichts an den US-amerikanischen Waffengesetzen,
während ein einziger sog. "Schuhbomber" erreichte,
dass seitdem an allen Flughäfen die Schuhe ausgezogen werden müssen?

I
Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.

Neben der Frage nach dem Warum, nach dem Motiv des Täters,
fragen viele Menschen auch danach,
wie Gott das zulassen konnte.
Auch in Newtown wird diese Frage gestellt.
Wenn etwas so Unbegreifliches passiert
wie dieser Amoklauf in einer Grundschule -
aber auch die Nachricht von der unheilbaren Erkrankung
oder vom Tod eines Menschen, den man liebt -,
stellt sich die Frage ganz von selbst:
Wie kann Gott das zulassen?

Man erstarrt fast, wenn man im heutigen Predigttext hört:
Sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.
Kann es sein, wäre es möglich,
dass Gott solche Schrecken nicht nur zulässt,
sondern sogar veranlasst, als Strafe - wofür auch immer?
Kann es sein, muss man sich das so vorstellen,
dass Gott uns Menschen leiden lässt
für Fehler, die wir begangen haben?

Nein, das kann nicht sein. Und das ist auch nicht so.
Gott bestraft uns nicht für unsere Fehler,
Gott vergibt sie uns.
Zwar wird Gott in der Bibel als Persönlichkeit dargestellt,
die zornig werden kann; die so enttäuscht ist von den Menschen,
vom Volk Israel, dass sie bereut, ihnen Gutes getan zu haben;
die unberechenbar ist und dunkle, unverständliche Seiten hat.
Aber zu Gott gehört seine Vergebung,
seine Barmherzigkeit und sein Mitleid.
Gott ist diese Vergebung, diese Barmherzigkeit.
Gott ist die Liebe, sagt Jesus.
Gott straft nicht, Gott vergibt.

II
Allerdings kann es sein,
dass man selbst das Gefühl hat,
von Gott bestraft zu werden.

Ein Kind, das von Mutter oder Vater getröstet wird,
erlebt doch auch, dass seine Eltern ziemlich sauer werden können;
das sie manchmal launisch sind, kurz angebunden, reizbar.
Und es fragt sich, ob es daran schuld ist,
was es falsch gemacht haben könnte, dass die Eltern so sind.
Und vergisst dabei, dass seine Eltern es über alles lieben
und dass sie sehr traurig würden, wenn sie wüssten,
was ihr Kind da gerade denkt.

Und so ist es auch in Beziehungen:
Wir interpretieren das Verhalten unserer Partnerin, unseres Partners
oft als Reaktion auf unser Verhalten,
denken in Kategorien von Schuld und Strafe.
Dabei gab es einfach nur Ärger auf der Arbeit,
oder der Partner ärgert sich über sich selbst,
aber man merkt das nicht, bezieht es auf sich
und vergisst, dass einen die Partnerin, der Partner über alles liebt
und sich schämen würde, wenn er wüsste,
was man da gerade denkt.

Das Volk Israel fühlt sich von Gott bestraft,
weil es seine Heimat verloren hat,
weil Jerusalem und der Tempel zerstört wurden
und es ins Exil verschleppt worden war.
Wie konnte Gott das zulassen?

Gott diskutiert nicht mit seinem Volk.
Er sagt nicht: Ihr seht das völlig falsch,
ich habe damit nichts zu tun.
Gott hält es aus, dass man ihn verantwortlich macht,
dass man ihm die Schuld gibt an der Misere.
Aber wenn Gott schuld ist, kann er nicht trösten.
Ein Vater, der sein Kind ausgeschimpft hat,
kann es nicht anschließend in den Arm nehmen.
Es rennt erst einmal zur Mutter
und sucht Trost in ihrem Arm.
So bittet Gott um Trost für sein Volk:
Tröstet, tröstet mein Volk!
Gott sucht nach jemandem, der es trösten kann,
der die Tränen und die Verzweiflung aushält
und später einmal, wenn der größte Kummer vorbei ist,
zeigen kann, dass nicht Gott schuld war.

III
Gott ist nicht schuld.
Aber, so kann man jetzt gemeinerweise fragen,
wenn Gott für das Leid und die Schrecken nicht verantwortlich ist, wenn er nichts damit zu tun hat,
kann er dann überhaupt etwas bewirken?
Ist die Rede von den Tälern, die erhöht werden sollen 
und den Bergen und Hügeln, die erniedrigt werden sollen,
anders als symbolisch zu verstehen?

Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! 
Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen.
Gott ist nicht schuld.
Gott greift aber auch nicht ein.
Gott entreißt dem Attentäter nicht die Waffe,
Gott besiegt nicht den Krebs,
Gott verhindert nicht den Unfall, den Tod.
Gott, so scheint es, bewirkt gar nichts.
Er greift nicht ein, er verändert nichts.

Aber warum spricht dann der Prophet davon,
dass Gott gewaltig kommt?
Warum singt Maria im Magnificat,
das wir vor der Predigt gehört haben
und dass wir auch nach der Predigt noch einmal hören werden,
davon, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzen wird
und die Niedrigen erhöht?
Er hat die Niedrigkeit seine Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Über diese vollmundigen Worte Marias
würden ihre Zeitgenossen, wenn sie sie gehört hätten,
die Köpfe geschüttelt haben.
Maria war bis zu ihrem Tode eine einfache Frau aus dem Volk.
Es ist nach menschlichen Maßstäben nichts aus ihr geworden.
Und doch wurde wahr, wovon sie sang:
Alle Generationen seitdem preisen sie selig.
Unsere Kirche ist nach ihr benannt,
und überall auf der Welt werden täglich ihre Worte angestimmt.

IV
Gott kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
Gottes Gewalt ist so ganz anders als die Gewalt,
die von Pistolen und halbautomatischen Waffen ausgeht.
Es ist die Gewalt eines kleinen, hilflosen Neugeborenen,
der im Stroh einer Futterkippe in einem Stall liegt.
Ohnmächtiger, abhängiger, hilfloser kann man nicht sein.
Und doch geht eine Macht von ihm aus,
die jeder, der kein Unmensch ist, sofort spürt:
So ein kleines Kind löst sofort Beschützerinstinkte aus.
Man will ihm um jeden Preis helfen, für es da sein.

Und so ein kleines Kind weckt eine unglaubliche Freude -
nicht umsonst kann sich kaum ein Erwachsener beherrschen,
nicht in einen Kinderwagen zu schauen
und sich wie ein Schneekönig zu freuen,
wenn das Kleine im Wagen reagiert, gar lächelt.

Die Macht des Kindes ist hilflos gegen die Macht der Gewehre.
Sie kann leicht, allzu leicht besiegt werden.
Dennoch ist sie eine Macht, die eine unwiderstehliche Gewalt entfaltet.
Eine Macht, die Berge einebnen und Täler erhöhen kann.
Denn sie gibt uns Menschen Hoffnung und Ziel.
Sie lässt uns an das Gute glauben, zu dem Menschen fähig sind,
an das Gute, zu dem Gott seine Welt bestimmt hat,
und gibt uns die Kraft,
das Gute in kleinen Schritten Wirklichkeit werden zu lassen.

So schrecklich und unbegreiflich der Amoklauf in Newtown war -
sofort waren Menschen da, die halfen, die trösteten,
die sich empörten gegen die Waffenlobby.
Im Internet kursierten Aufrufe zum Gebet für die Opfer
und für ihre Hinterbliebenen, für die Lehrer der Schule.
Menschen teilten ihre Fassungslosigkeit mit
und trösteten einander.

Die Macht der Liebe kann mit Gewehren leicht besiegt werden.
Es ist eine ohnmächtige Macht.
Aber sie ist stärker als jedes Gewehr,
weil sie uns Menschen ans Herz geht,
uns barmherzig macht 
und uns Hoffnung gibt.

V
Tröstet, tröstet mein Volk!
Auch in der Adventszeit braucht man manchmal Trost.
Und man findet ihn - bei Mutter und Vater,
bei der Liebsten, beim Liebsten.
Und beim Kind in der Krippe,
das in seiner Armut und Hilflosigkeit
die Welt verändert hat
und zum Trost für alle wurde.
Dieses Kind hat uns Macht gegeben:
die Macht der ohnmächtigen Liebe,
mit der wir einander Trost spenden
und Hoffnung geben über Weihnachten hinaus:
Hoffnung auf Frieden auf Erden
und darauf, dass wir Menschen einander nicht den Tod bringen,
sondern Trost.
Amen.