Samstag, 26. Januar 2013

Ein spanischer Prinz

Traueransprache über Römer 1,16:

Ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes,
die selig macht alle, die daran glauben.


Diego Velasquez, Las Meninas

Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,


als N. noch ein Kleinkind war, da war er ein unglaublich hübsches Kind. In einem Bild, an das Sie sich erinnern, sieht er aus wie ein spanischer Prinz.
Ein spanischer Prinz - aus diesem Bild spricht Ihre Liebe zu Ihrem Sohn und Ihr Stolz auf ihn. Aus diesem Bild sprechen auch all die Hoffnungen, die sie für dieses kleine Menschenkind hatten, und all ihre Pläne. (Obwohl sie noch nicht wissen, welche Gaben und Begabungen ihr Kind hat und entwickeln wird, machen Eltern sich Vorstellungen davon und Hoffnungen, was aus ihrem Kind einmal werden soll. Oft wünscht man sich, das Kind solle einmal genauso viel - oder womöglich sogar mehr - können und erreichen wie man selbst).

Ein spanischer Prinz ist aber auch ein Mensch aus einer anderen, einer uns vielleicht fremden Welt. So fremd, wie die Gemälde des spanischen Malers Diego Velasquez aus dem 17. Jahrhundert auf uns Heutige wirken. Auf einem seiner berühmtesten Portraits der königlichen Familie, Las Meninas genannt, steht nicht ein spanischer Prinz im Mittelpunkt, wohl aber eine Prinzessin. Im Hintergrund, an der Wand, kann man in einem Spiegel verschwommen die Eltern erkennen, die ihr Kind anschauen.
(So sind Kinder in gewisser Weise Spiegel der Hoffnungen und Träume ihrer Eltern. Sie enttäuschen ihre Eltern oft, wenn sie eigene Persönlichkeiten werden und eigene Pläne schmieden, die manchmal gar nicht zu den Plänen und Träumen der Eltern zu passen scheinen. Je älter Kinder werden, je mehr sie ihre eigenen Besonderheiten und Stärken erkennen und entwickeln, desto fremder werden sie den Eltern auch).

Auf dem Bild des Diego Velasquez ist neben der Prinzessin noch ein weiterer besonderer - und zugleich fremder - Mensch zu sehen: Es ist ein behindertes Mädchen, eine Zwergin, die zwar nicht im Mittelpunkt steht, aber genauso ernst wie die Prinzessin den Betrachter anblickt - und Blicke auf sich zieht, mehr noch als die Hauptperson.

Als N. in die Schule kam, wurde seine Behinderung deutlich erkennbar. Sie hatten viele Untersuchungen angestrengt, um herauszufinden, was die Ursache dafür war. Als es dann fest stand, dass N. sich nicht in gleicher Weise entwickeln würde wie seine Altersgenossen, war das ein schwerer Schlag für Sie. Und es tat Ihnen weh, dass anderen Menschen an Ihrem Sohn, Ihrem spanischen Prinzen, nur das Fremde aufzufallen schien. Sie fühlten die Blicke, hörten, was geredet wurde und erlebten, wie seine Mitschüler sich ihm gegenüber verhielten.
Und auch N. merkte, dass er das Lerntempo der anderen nicht mithalten konnte. Auch er bemerkte die Blicke, ihn verletzten die Worte und das Verhalten seiner Mitschüler.
Dass er ein besonderes Kind war, durfte er nicht als Stärke erleben, sondern musste es als Mangel erleiden, weil er nicht dasselbe leistete wie alle anderen.
Nur zuhause erlebte er es anders. (...)

Zuhause war es anders. Und auch bei den Pfadfindern, bei denen er Mitglied wurde. Hier erlebte er - zumindest als Ideal und Anspruch - ein anderes Menschenbild: eines, das sich nicht an der Norm orientierte, sondern das Besondere in jedem Menschen zu sehen bemüht war. Und eine Gemeinschaft, die sich nicht auf Herkunft und Leistung, sondern auf gegenseitigen Respekt und gegenseitige Hilfe gründen wollte.

Diese andere Seite seines Lebens und Erlebens drückt auch N.s Konfirmationsspruch aus, der als Bibelwort über dieser Trauerfeier steht:
Ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes,
die selig macht alle, die daran glauben.
Ich schäme mich nicht - aus diesen Worten spricht ein Selbst­bewusstsein, das sich nicht um die Normen der Gesellschaft kümmert. Was Paulus verkündigte, das Evangelium von der Kraft Gottes, die in den vermeintlich Schwachen mächtig ist, erntete bei den Gebildeten seiner Zeit Kopfschütteln und Stirnrunzeln, während seine Glaubensbrüder entsetzt über seine Lehre waren.
Dabei ist das das wahrhaft Befreiende am Evangelium: Nicht auf eigene Leistung und Stärke zu vertrauen, sondern alles von Gott zu erwarten. Und so die Schwäche als eigentliche Stärke zu entdecken, weil sie ermöglicht, dass Gott mir helfen und nah sein kann.

Ich schäme mich nicht - um das sagen zu können, muss man seiner selbst sehr sicher sein. Gerade besonderen Menschen fällt das schwer. Denn weil sie besonders sind, ziehen sie die Blicke ihrer Mitmenschen auf sich. Weil sie besonders sind, erfüllen sie andere als die gängigen Normen, sind sie in den Augen der anderen die "Schwachen". Weil sie besonders sind, klaffen eigene Wünsche und Vorstellungen und die Wirklichkeit - das, was möglich und machbar ist - manchmal weit auseinander.

N. ist es wohl schwer gefallen, so wie Paulus "ich schäme mich nicht" zu sagen. Er hat wohl darunter gelitten, dass er seine Vorstellungen vom Leben mit dem Leben, wie es war, nur selten zusammen­bringen konnte.
Sie haben es mit ansehen und mit erleben müssen, Sie haben sich Sorgen gemacht, haben versucht, ihn zu unterstützen, und Sie haben ihm auch Grenzen gesetzt. Und ihn ermutigt, seinen Lebensweg zu finden, indem Sie ihm Vieles ermöglichten: (...)
N. konnte seinen eigenen Weg durchs Leben nicht mehr finden und gehen. Ohne jedes Anzeichen einer Krankheit ist er zuhause gestorben - auf dem Sofa sitzend. Er hat seinen Tod offenbar selbst nicht geahnt.
So blieb ihm auch keine Möglichkeit mehr, in seinen, in Ihren und in unseren Augen der spanische Prinz zu werden, der er als kleines Kind einmal war. Und das leider macht uns Menschen alle gleich: Dass wir das Bild, das andere von uns haben - und das Bild, das wir selbst von uns haben -, oft nicht mehr korrigieren können.

Gott sieht - zum Glück! - mit anderen Augen auf uns: Mit den Augen einer liebenden und stolzen Mutter oder eines Vaters sieht er auf uns, und so sah er zeitlebens N. als den spanischen Prinzen, der er war. Und das erinnert an die Worte eines anderen kleinen Prinzen: Dass man nur mit dem Herzen gut sieht, weil das Wesentliche für die Augen unsichtbar ist.

"Ich schäme mich nicht", sagt Paulus. Nein, für die Schwestern und Brüder Jesu gibt es keinen Grund, sich zu schämen, denn "er schämt sich auch nicht, sie Schwestern und Brüder zu nennen", wie es im Hebräerbrief heißt (Hebräer 2,11).
Gott hat N.s Leben angenommen so, wie es war: mit allen Schwächen - und mit allen Stärken, wie seiner Gabe, zu erzählen. Mit allen Irrtümern und Verletzungen und Fehlern - und mit allem, was schön war, allen goldenen und glücklichen Stunden. Das "Ja", das Gott bei seiner Taufe zu N. sagte, galt immer, sein Leben lang, und gilt bis heute.

Und so lebt N. jetzt bei Gott: In einem Leben, das das verwirklicht, was als Gabe in ihm war. Einem Leben, das alle Wunden heilt - die seelischen, die ihm zugefügt wurden, und auch die, die er anderen zugefügt hat.

Weil Gott ihm ewiges Leben schenkt, wird er auch in Ihnen und unter uns weiterleben. Als der Mensch, der er war und als den wir ihn erinnern. Und als der Mensch, der in ihm war, der aus ihm hervor leuchtete und der er in Gottes Augen ist: ein geliebter, stolzer spanischer Prinz.

Und wie N. es bei seiner Konfirmation vorgesprochen wurde und er es innerlich nachgesprochen hat, so dürfen auch wir es nachsprechen und glauben:
Ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes,
die selig macht alle, die daran glauben.
Amen.