Ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes,
die selig macht alle, die daran glauben.
Diego Velasquez, Las Meninas
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9a/Diego_Velázquez_Las_Meninas_Die_Hoffräulein.jpg
Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,
als
N. noch ein Kleinkind war, da war er ein unglaublich hübsches
Kind. In einem Bild, an das Sie sich erinnern, sieht er aus wie ein
spanischer Prinz.
Ein
spanischer Prinz - aus diesem Bild spricht Ihre Liebe zu Ihrem Sohn
und Ihr Stolz auf ihn. Aus diesem Bild sprechen auch all die
Hoffnungen, die sie für dieses kleine Menschenkind hatten, und all
ihre Pläne. (Obwohl sie noch nicht wissen, welche Gaben und
Begabungen ihr Kind hat und entwickeln wird, machen Eltern sich
Vorstellungen davon und Hoffnungen, was aus ihrem Kind einmal werden
soll. Oft wünscht man sich, das Kind solle einmal genauso viel -
oder womöglich sogar mehr - können und erreichen wie man selbst).
Ein
spanischer Prinz ist aber auch ein Mensch aus einer anderen, einer
uns vielleicht fremden Welt. So fremd, wie die Gemälde des
spanischen Malers Diego Velasquez aus dem 17. Jahrhundert auf uns
Heutige wirken. Auf einem seiner berühmtesten Portraits der
königlichen Familie, Las Meninas genannt, steht nicht ein spanischer
Prinz im Mittelpunkt, wohl aber eine Prinzessin. Im Hintergrund, an
der Wand, kann man in einem Spiegel verschwommen die Eltern erkennen,
die ihr Kind anschauen.
(So
sind Kinder in gewisser Weise Spiegel der Hoffnungen und Träume
ihrer Eltern. Sie enttäuschen ihre Eltern oft, wenn sie eigene
Persönlichkeiten werden und eigene Pläne schmieden, die manchmal
gar nicht zu den Plänen und Träumen der Eltern zu passen scheinen.
Je älter Kinder werden, je mehr sie ihre eigenen Besonderheiten und
Stärken erkennen und entwickeln, desto fremder werden sie den Eltern
auch).
Auf
dem Bild des Diego Velasquez ist neben der Prinzessin noch ein
weiterer besonderer - und zugleich fremder - Mensch zu sehen: Es ist
ein behindertes Mädchen, eine Zwergin, die zwar nicht im Mittelpunkt
steht, aber genauso ernst wie die Prinzessin den Betrachter anblickt
- und Blicke auf sich zieht, mehr noch als die Hauptperson.
Als
N. in die Schule kam, wurde seine Behinderung deutlich erkennbar.
Sie hatten viele Untersuchungen angestrengt, um herauszufinden, was
die Ursache dafür war. Als es dann fest stand, dass N. sich nicht
in gleicher Weise entwickeln würde wie seine Altersgenossen, war das
ein schwerer Schlag für Sie. Und es tat Ihnen weh, dass anderen
Menschen an Ihrem Sohn, Ihrem spanischen Prinzen, nur das Fremde
aufzufallen schien. Sie fühlten die Blicke, hörten, was geredet
wurde und erlebten, wie seine Mitschüler sich ihm gegenüber
verhielten.
Und
auch N. merkte, dass er das Lerntempo der anderen nicht mithalten
konnte. Auch er bemerkte die Blicke, ihn verletzten die Worte und das
Verhalten seiner Mitschüler.
Dass
er ein besonderes Kind war, durfte er nicht als Stärke erleben,
sondern musste es als Mangel erleiden, weil er nicht dasselbe
leistete wie alle anderen.
Nur
zuhause erlebte er es anders. (...)
Zuhause
war es anders. Und auch bei den Pfadfindern, bei denen er Mitglied wurde. Hier erlebte er - zumindest als
Ideal und Anspruch - ein anderes Menschenbild: eines, das sich nicht
an der Norm orientierte, sondern das Besondere in jedem Menschen zu
sehen bemüht war. Und eine Gemeinschaft, die sich nicht auf Herkunft
und Leistung, sondern auf gegenseitigen Respekt und gegenseitige
Hilfe gründen wollte.
Diese
andere Seite seines Lebens und Erlebens drückt auch N.s
Konfirmationsspruch aus, der als Bibelwort über dieser Trauerfeier
steht:
Ich
schäme mich des Evangeliums nicht;
denn
es ist eine Kraft Gottes,
die
selig macht alle, die daran glauben.
Ich
schäme mich nicht - aus diesen
Worten spricht ein Selbstbewusstsein, das sich nicht um die
Normen der Gesellschaft kümmert. Was Paulus verkündigte, das
Evangelium von der Kraft Gottes, die in den vermeintlich Schwachen
mächtig ist, erntete bei den Gebildeten seiner Zeit Kopfschütteln
und Stirnrunzeln, während seine Glaubensbrüder entsetzt über seine
Lehre waren.
Dabei
ist das das wahrhaft Befreiende am Evangelium: Nicht auf eigene
Leistung und Stärke zu vertrauen, sondern alles von Gott zu
erwarten. Und so die Schwäche als eigentliche Stärke zu entdecken,
weil sie ermöglicht, dass Gott mir helfen und nah sein kann.
Ich
schäme mich nicht - um das
sagen zu können, muss man seiner selbst sehr sicher sein. Gerade
besonderen Menschen fällt das schwer. Denn weil sie besonders sind,
ziehen sie die Blicke ihrer Mitmenschen auf sich. Weil sie besonders
sind, erfüllen sie andere als die gängigen Normen, sind sie in den
Augen der anderen die "Schwachen". Weil sie besonders sind,
klaffen eigene Wünsche und Vorstellungen und die Wirklichkeit - das,
was möglich und machbar ist - manchmal weit auseinander.
N. ist es wohl schwer gefallen, so wie Paulus "ich schäme mich
nicht" zu sagen. Er hat wohl darunter gelitten, dass er
seine Vorstellungen vom Leben mit dem Leben, wie es war, nur selten
zusammenbringen konnte.
Sie
haben es mit ansehen und mit erleben müssen, Sie haben sich Sorgen
gemacht, haben versucht, ihn zu unterstützen, und Sie haben ihm auch
Grenzen gesetzt. Und ihn ermutigt, seinen Lebensweg zu finden, indem
Sie ihm Vieles ermöglichten: (...)
N. konnte seinen eigenen Weg durchs Leben nicht mehr finden und gehen.
Ohne jedes Anzeichen einer Krankheit ist er zuhause gestorben - auf
dem Sofa sitzend. Er hat seinen Tod offenbar selbst nicht geahnt.
So
blieb ihm auch keine Möglichkeit mehr, in seinen, in Ihren und in
unseren Augen der spanische Prinz zu werden, der er als kleines Kind
einmal war. Und das leider macht uns Menschen alle gleich: Dass wir
das Bild, das andere von uns haben - und das Bild, das wir selbst von
uns haben -, oft nicht mehr korrigieren können.
Gott
sieht - zum Glück! - mit anderen Augen auf uns: Mit den Augen einer
liebenden und stolzen Mutter oder eines Vaters sieht er auf uns, und
so sah er zeitlebens N. als den spanischen Prinzen, der er war.
Und das erinnert an die Worte eines anderen kleinen Prinzen: Dass man
nur mit dem Herzen gut sieht, weil das Wesentliche für die Augen
unsichtbar ist.
"Ich
schäme mich nicht", sagt
Paulus. Nein, für die Schwestern und Brüder Jesu gibt es keinen
Grund, sich zu schämen, denn "er schämt sich auch
nicht, sie Schwestern und Brüder zu nennen",
wie es im Hebräerbrief heißt (Hebräer 2,11).
Gott
hat N.s Leben angenommen so, wie es war: mit allen Schwächen -
und mit allen Stärken, wie seiner Gabe, zu erzählen. Mit allen
Irrtümern und Verletzungen und Fehlern - und mit allem, was schön
war, allen goldenen und glücklichen Stunden. Das "Ja", das
Gott bei seiner Taufe zu N. sagte, galt immer, sein Leben lang,
und gilt bis heute.
Und
so lebt N. jetzt bei Gott: In einem Leben, das das verwirklicht,
was als Gabe in ihm war. Einem Leben, das alle Wunden heilt - die
seelischen, die ihm zugefügt wurden, und auch die, die er anderen
zugefügt hat.
Weil
Gott ihm ewiges Leben schenkt, wird er auch in Ihnen und unter uns
weiterleben. Als der Mensch, der er war und als den wir ihn erinnern.
Und als der Mensch, der in ihm war, der aus ihm hervor leuchtete und
der er in Gottes Augen ist: ein geliebter, stolzer spanischer Prinz.
Und
wie N. es bei seiner Konfirmation vorgesprochen wurde und er es
innerlich nachgesprochen hat, so dürfen auch wir es nachsprechen und
glauben:
Ich
schäme mich des Evangeliums nicht;
denn
es ist eine Kraft Gottes,
die
selig macht alle, die daran glauben.
Amen.