Samstag, 26. Januar 2013

Untröstlich


Eine Traueransprache über Jesaja 38,17:
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.


Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,

"I'm moving up to Gloryland" haben wir eben gehört,
"Ich ziehe ein in das Gelobte Land",
so haben Sie es übersetzt.
Der Sänger ist fest davon überzeugt,
dass er in den Himmel kommen und dort Christus begegnen wird.
Er darf mit seinen Händen die Nagelmale berühren
wie der ungläubige Thomas
und so erfahren, dass wahr ist,
was er Zeit seines Lebens glaubte, ohne es zu sehen.
Und er freut sich darauf, die Menschen wiederzusehen,
die er geliebt hat, seine Freunde, seine Familie,
und mit ihnen über die Milchstraße zu flanieren.

Ein schönes, überwältigendes Bild.
Aber ist es nicht ein bisschen zu schön,
ist es nicht ein bisschen kitschig?
Dieses Bild vom Gelobten Land reizt dazu,
nach einem Haar in der Suppe zu suchen,
nach einem Widerspruch.

Ein Zitat des Theologen Karl Barth fällt mir dabei ein:
Er wurde einmal von einer Dame gefragt,
ob sie denn im Himmel all ihre Lieben wiedersehen würde.
"Nicht nur Ihre Lieben", antwortete Karl Barth,
"alle anderen auch!"
(Quelle: Eberhard Busch, Glaubensheiterkeit: Karl Barth, Erfahrungen und Begegnungen, Neukirchener Verlag, 1986, S. 91)

Aber auch Karl Barth war nicht frei von Schwärmerei,
was den Himmel betraf:
Er war fest davon überzeugt,
dass im Himmel nur Mozart gespielt werden würde.
Ich hoffe sehr für Ihren Bruder, Ihren Vater,
dass Karl Barth sich irrte
- oder dass wenigstens ab und zu im Himmel
auch mal etwas Southern Gospel gesungen wird.

I
"Lieber Gott, mach mich fromm,
dass ich in den Himmel komm",
war eines der Kindergebete früherer Zeiten.
Ihr Bruder, Ihr Vater hat es vielleicht auch gelernt;
vielleicht hat er es sogar mit Ihnen gebetet.
Die Sehnsucht nach dem Himmel gehört zum Glauben dazu.
Wir alle träumen davon,
dass Gott abwischen wird alle Tränen,
dass der Tod,
den Christus mit seiner Auferstehung schon überwunden hat,
endgültig besiegt sein wird,
sodass es kein Leid mehr gibt und keinen Schmerz.
Wir alle malen uns aus,
"wie wird's sein, wie wird's sein, 
wenn wir ziehn in Salem ein, 
in die Stadt der goldnen Gassen ...",
wie es in einem alten Lied heißt.

Wir träumen wohl alle davon,
ins Gelobte Land zu kommen.
Für manche erfüllt sich dieser Traum manchmal zu Lebzeiten:
dann, wenn sie einen Ort finden,
an dem sie glücklich sind und sich zuhause fühlen,
an dem es ihnen an nichts fehlt
und an dem es Menschen gibt, die sie akzeptieren und lieben.

(...)

II
(...)

Ihre Eltern trennten sich und ließen sich scheiden.
Diese Scheidung zerriss die Familie.
Ihre Mutter verletzte die Trennung so sehr,
dass sie ihrem Mann nicht mehr begegnen wollte.
Weil er sie in ihren Augen verlassen hatte,
musste er die Gemeinde verlassen.
Er war schuld, und er trug diese Schuld
in den Augen Mancher ein Leben lang.

Heute wissen wir es besser.
Heute wissen wir, dass eine Trennung niemals
die Schuld eines Einzigen ist,
sondern dass beide Partner Anteil daran haben,
auch wenn einer den ersten Schritt macht.
Aber damals war es nicht möglich, so zu denken;
es war nicht möglich, zu verstehen, zu vergeben.

Darf denn jemand, der schuldig geworden ist,
vom Himmel träumen?
Kann jemand, dem Menschen nicht vergeben können,
trotzdem auf Vergebung hoffen?

III
Beim Propheten Jesaja heißt es:
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.

Gott wirft unsere Sünden hinter sich,
damit sie nicht zwischen uns und Gott stehen.
Er tut das gratis, sola gratia, aus Gnade.
Nicht, weil wir es verdient hätten.
Nicht, weil wir bekannt, bereut, gesühnt hätten,
es wieder gut gemacht hätten
oder durch unseren vorbildlichen Lebenswandel bewiesen hätten,
dass wir Vergebung verdienen.
Sondern weil er uns liebt
und nicht will, dass unsere Seele verdirbt.

Wer von anderen Menschen als schuldig angesehen wird,
wem Vergebung versagt wird,
wer aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen wird,
kann in ein tiefes Loch fallen,
aus dem er möglicherweise nicht mehr heraus findet.
Er sieht dann nur noch Dunkel und Schwärze und Hoffnungslosigkeit,
aber kein Licht am Ende dieses Tunnels,
und verzweifelt am Leben.
Gott aber hat uns unser Leben geschenkt,
damit wir uns daran freuen,
auch, wenn wir andere verletzt und weh getan haben.
Denn wir Menschen sind nun mal so;
wir können nicht anders.

Ihr Vater und Großvater hat das eines Tages für sich entdeckt.
Er hat entdeckt, dass er in den Himmel kommt,
auch wenn er in den Augen mancher Menschen
dafür nicht fromm genug war.
Ihr Vater hat entdeckt, dass Gott ihn schon längst vergeben,
sich schon längst mit ihm versöhnt hatte,
und so konnte auch er sich mit seinem Leben versöhnen
und das Schöne genießen,
das dieses Leben für ihn bereit hielt.

(...)

IV
Ach ja, die Eisenbahn.
Das war auch eine Leidenschaft von N.
Mit einer Dampflokfahrt haben Sie ihm eine riesengroße Freude gemacht.
An diese Fahrt wird er gern zurückgedacht haben,
wenn er das Lied "Glory Train" hörte,
das wir auch gleich hören werden.

In diesem Lied ist davon die Rede,
dass es ein Zug ist, der den Menschen in den Himmel bringt,
der Glory Train, der Wunderbare Zug.
In diesen Zug ist N. nun eingestiegen.
Er hatte eine Fahrkarte:
Das war sein Glaube.
Sein Glaube, dass Gott ihn annimmt, wie er ist, und ihm vergibt,
weil er ihn über alles liebt.
Es ist nicht leicht, diesen Glauben zu bewähren.
Viel leichter ist es, schlecht von sich zu denken,
sich für ungenügend, unzureichend, sündig zu halten.
Aber genau dadurch missachtet man Gottes Liebe.

Gott hat Ihren Bruder, Ihren Vater und Großvater
in seine Arme geschlossen und ihm das Ewige Leben geschenkt
- ein Leben, von dem wir nur träumen können,
von dem wir singen in etwas kitschigen Liedern,
die uns so viel Mut und Hoffnung machen.

Und die uns trösten, wenn wir traurig sind,
weil N. nicht mehr bei uns ist.
Er lebt in einem neuen Leben in Gottes Reich,
und er lebt weiter in Ihren Herzen.
Denn ihm wie uns gilt das Wort des Propheten:
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.
Amen.


(Der Name des Verstorbenen und persönliche Anspielungen wurden entfernt; ebenso Abschnitte zur Biografie des Verstorbenen. Die zitierten Stücke stammen vom Southern Gospel-Quartett The Cathedrals. Sie wurden auf Wunsch der Angehörigen vor bzw. nach der Ansprache gespielt; die Texte in englischer Sprache und in deutscher Übersetzung waren auf dem Liedblatt mit abgedruckt)