Samstag, 26. Januar 2013

Erwartungen


Predigt am Sonntag Septuagesimae, 27. Januar 2013, über Matthäus 9,9-13:

Als Jesus von dort wegging, sah er jemanden im Zollamt sitzen,
Matthäus mit Namen, und sprach ihn an: folge mir!
Der stand auf und folgte ihm.

Und als er im Haus zu Tische lag, sieh,
da kamen viele Zöllner und Sünder
und legten sich zu Tisch mit ihm und seinen Jüngern.
Als die Pharisäer das sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern:
Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern?

Der aber hörte das und sprach:
Nicht die Gesunden brauchen den Arzt,
sondern die, denen es schlecht geht.
Geht aber und lernt, was das bedeutet:
"Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer" (Hosea 6,6).
Denn ich bin nicht gekommen, die Gerechten einzuladen,
sondern die Sünder.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

wir sehen uns ständig Erwartungen ausgesetzt;
man könnte vielleicht sogar überspitzt sagen:
das Leben besteht aus erfüllten und enttäuschten Erwartungen.
Mit der frühesten Kindheit beginnt es:
Da schauen Eltern ängstlich,
ob ihr Kind sich entwickelt, wie man es von ihm erwartet:
ob die Zähnchen im richtigen Monat kommen,
ob es zur selben Zeit krabbelt, läuft und zu sprechen beginnt wie alle anderen.
Man macht sich Sorgen, wenn das Kind später dran ist -
während es eigenartigerweise gar nicht zu früh sein kann,
dass ein Kind Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch und Latein lernt;
am besten soll damit schon im Kindergarten begonnen werden.

Während ein Kind heranwächst, die Welt und das Leben entdeckt und kennen lernt,
wird es mit Erwartungen konfrontiert, wie es zu sein und sich zu verhalten hat.
Später richten sich die Erwartungen auf seine schulischen Leistungen,
seine Mitarbeit und sein Sozialverhalten.
Anschließend muss es möglichst schnell und möglichst gut
Ausbildung oder Studium abschließen,
damit es auf eigenen Füßen stehen, Geld verdienen kann.

Aber wer meint, mit dem Erwachsensein würden die Erwartungen aufhören, sieht sich getäuscht:
Selbstverständlich erwartet der Arbeitgeber Einiges von seinem Angestellten -
oft mehr, als man billigerweise fordern oder leisten kann.
Auch die Eltern erwarten noch Einiges,
der Freundeskreis, und irgendwann auch Partner oder Partnerin.
Und während man unter diesen ganzen Erwartungen ächzt und stöhnt,
wird einem bewusst, dass man selbst eine ganze Menge erwartet
- vom Job, vom Leben, von den Mitmenschen, vom Partner oder der Partnerin, von den Kindern.

I
Wir erwarten Einiges, und wir werden mit Erwartungen konfrontiert.
Viele dieser Erwartungen kleiden sich in das Gewand einer angeblichen Selbstverständlichkeit:
"Man" macht das so.
So war es früher selbstverständlich, dass die Frau zuhause blieb
und die Heimkehr ihres Mannes freudig erwartete;
dass sie ihm eine warme Mahlzeit bereitet
und dass sie Haus und Kinder gut im Griff hatte,
sodass Vater sich darum nicht zu kümmern brauchte,
sondern seinen wohlverdienten Feierabend genießen konnte.
Frauen, die diesen Erwartungen nicht mehr entsprechen wollten,
wurden schief angesehen oder sogar offen kritisiert;
man zeigte mit dem Finger auf sie und bemitleidete ihren Ehemann.
Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, dass es mal so war,
dabei ist das noch gar nicht lange her.

Wir werden täglich mit Erwartungen konfrontiert,
und genauso regelmäßig enttäuschen wir sie.
Wir erwarten viel von unseren Mitmenschen
und werden oft enttäuscht.
Oft liegt das einfach daran, dass man nicht zwei Dinge zugleich tun,
an zwei Orten zugleich sein kann,
oder dass die Erwartung des anderen
und mein Bedürfnis sich widersprechen:
mein Kind will mit mir spielen
- ich möchte mich auf's Sofa legen und mich ausruhen.
Ich möchte von meiner Arbeit erzählen
- meine Partnerin ist müde von ihrer.

II
Wie geht man mit Erwartungen um?
Zwei Möglichkeiten gibt es.

Die eine Möglichkeit schildert die Geschichte vom Mann, seinem Sohn und dem Esel:
"Ein Vater geht mit seinem Sohn auf einen Viehmarkt, um dort einen Esel zu kaufen. Nachdem sie nach langer Suche einen Esel gekauft haben, machen sie sich auf den Weg nach Hause. Zunächst gehen sowohl der Vater als auch sein Sohn zu Fuß neben dem Esel her, bis sie ein entgegenkommender Wanderer auslacht und fragt: „Ihr habt einen Esel, aber warum reitet keiner auf ihm?“ Nach kurzer Überlegung setzt sich nun der Sohn auf den Esel, und so setzen sie ihren Heimweg fort, bis ihnen der nächste Wanderer entgegenkommt und zu dem Sohn sagt: „Junger Mann, du solltest dich schämen. Du hast junge Beine und reitest auf dem Esel, während dein Vater laufen muss!“ So setzt sich nun der Vater auf den Esel, und der Sohn geht zu Fuß. Nun treffen sie einen weiteren Wanderer, der zu dem Vater sagt: „Du solltest dich schämen, du mit deinen starken Beinen reitest auf dem Esel, während der zarte Junge zu Fuß gehen muss!“ – Also setzen sich beide auf den Esel, und setzen so den Heimweg fort, bis ihnen abermals ein Wanderer entgegenkommt, der sie beschimpft: „Ihr solltet euch schämen! Ihr beide sitzt faul auf dem Esel, und das arme Tier muss die ganze Strecke die schwere Last von euer beider Gewicht tragen!“ Daraufhin entschließen sich Vater und Sohn, den Esel an eine Stange zu binden, und tragen nun den Esel bis nach Hause. Als sie dort ziemlich spät und völlig erschöpft ankommen, sagt die Frau: „Ihr seid vielleicht zwei Dummköpfe! Warum lasst ihr den Esel nicht selber zu seinem neuen Stall laufen?“
(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Polylemma)

Man kann versuchen, alle Erwartungen zu erfüllen.
Auf diese Weise muss man nur selten jemanden enttäuschen,
alle sind zufrieden und haben einen gern.
Viele versuchen, so zu leben,
und in ihrem Bemühen, es allen recht zu machen,
geht es ihnen wie dem Hodscha und seinem Sohn:
am Ende stehen sie als Dummköpfe da.

Das andere Extrem bezeichnet ein Ausspruch
des Psychologen Fritz Perls:
"Ich bin ich und du bist du.
Ich bin nicht dafür da, deine Erwartungen zu erfüllen,
und du bist nicht dafür da, meine Erwartungen zu erfüllen."
(Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Gestalt_prayer)

Diese Sätze wurden von vielen Menschen als befreiend empfunden:
Es ist in Ordnung, sagte Fritz Perls,
wenn man Erwartungen nicht erfüllt,
und wenn man an andere Menschen keine Erwartungen stellt.
Wer sich als Außenseiter der Gesellschaft fühlte
oder sich aus Protest gegen die an ihn gestellten Erwartungen
an den Rand der Gesellschaft begab,
wie die Hippies in den 60er oder die Punker in den 80er Jahren,
der sah sich von diesen Sätzen bestätigt.

Aber wer von anderen nichts mehr erwartet
und nicht bereit ist, Erwartungen anderer zumindest gelten zu lassen,
der verliert den Kontakt zu seinen Mitmenschen,
der kann nicht in Beziehungen zu anderen Menschen leben.
In jeder Beziehung stehen sich zwei Menschen
mit Erwartungen aneinander gegenüber,
und nur, wenn nicht alle Erwartungen enttäuscht werden,
bleibt die Beziehung bestehen.

III
Wie sieht der Mittelweg aus,
der mir auf der einen Seite die Freiheit lässt,
zu leben und zu sein, wie ich will,
ohne von den Erwartungen anderer völlig eingeengt zu werden,
und der mich auf der anderen Seite fähig zu Beziehungen macht,
indem ich spüre, was andere von mir erwarten,
und diese Erwartungen so gut ich kann erfülle?

Auf den ersten Blick sieht es so aus,
als ob Jesus eher zu den Aussteigern zu zählen ist,
die alle an sie gestellten Erwartungen boykottieren:
ein Hippie, oder ein Punker:
Jesus verhält sich keineswegs so,
wie man es von einem Menschen erwarten kann,
der fromm sein und die Gebote erfüllen will,
wie die Pharisäer es tun.
Allein schon die Gesellschaft mit Menschen,
die einen Gläubigen verunreinigen können,
so dass er nicht mehr am Gottesdienst teilnehmen darf,
müsste Jesus meiden.
Hinzu kommt aber noch, dass es sich um moralisch
höchst zweifelhafte Gestalten handelt:
Jesus isst gemeinsam mit Prostituierten;
mit Sündern - Menschen,
die aus gutem Grund wegen eines gravierenden Fehlverhaltens
aus der Gemeinde ausgeschlossen worden waren,
und mit Kollaborateuren - den Zöllnern,
die mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeiteten
und davon profitierten.

Und es sieht so aus,
als ob auch die Menschen, mit denen Jesus da zusammen ist,
zu denen gehören, die sich weigern,
die in sie gesetzten Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen.
Es sind die Hippies und Punker ihrer Zeit,
die Ausgestoßenen, die aber auch nicht dazu gehören wollen
und die vielleicht sogar stolz darauf sind, anders zu sein
als die gutbürgerliche Gesellschaft um sie herum.

IV
Jesus, so scheint es, grenzt sich selbst aus der Gesellschaft aus,
indem er sich mit diesem Gesindel zusammentut.
Er stößt die frommen Pharisäer absichtlich vor den Kopf,
indem er tut, was man als gläubiger Mensch niemals tun darf.

Gleichzeitig begründet Jesus eine neue Gemeinschaft.
Er sitzt mit denen an einem Tisch,
die aus der Gesellschaft und aus der Gemeinde ausgeschlossen sind.
Er lässt sie spüren, dass sie dazugehören
und dass er möchte, dass sie dazugehören sollen.
Und das verändert sie.
Denn Beziehung, das haben wir vorhin festgestellt,
gibt es nicht, ohne dass man von anderen etwas erwartet
und nicht, ohne dass man Erwartungen erfüllt.
Wie schnell diese Veränderung geht,
zeigt das Beispiel des Zöllners Matthäus:
Jesus, der Rabbi, spricht den Zöllner an,
für den keiner der Gläubigen ein gutes Wort hatte,
und sofort lässt er seinen Schlagbaum hinter sich und folgt Jesus.
Er gibt seinen Beruf, seinen Lebensunterhalt,
ja sein ganzes bisheriges Leben auf,
weil ihm jemand seine Freundschaft angeboten hat,
weil jemand mit ihm Gemeinschaft haben will.

V
Wir können es nicht allen recht machen.
Wir können nicht jede Erwartung erfüllen.
Abgesehen davon, dass es schon an sich unmöglich ist,
geben wir uns bei dem Versuch selbst auf;
wir gehen kaputt daran.

Wir sind aber selbst nicht ohne Erwartungen an andere,
und wenn wir mit anderen zusammenleben wollen,
müssen wir auf ihre Erwartungen eingehen
und die wichtigsten von ihnen erfüllen, wenn es uns möglich ist.

Was uns dabei leiten kann, ist das Bibelwort,
das Jesus den Pharisäern mit auf den Weg gibt:
Geht aber und lernt, was das bedeutet: 
Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.

Die Liebe ist die Richtschnur und der Mittelweg.
Aus Liebe entsteht Barmherzigkeit,
die fünf gerade sein lässt und auch den Sünder annimmt.
Die nicht fragt, ob der andere es verdient,
sondern was der andere braucht.
Die in jedem Menschen den Mensch zu entdecken versucht,
auch im Gegner, auch im Feind,
auch in dem, der mich verletzt, mir weh getan hat.

Die mich aber auch lehrt,
mich selbst zu lieben und mit mir selbst barmherzig zu sein.
Mir zu vergeben, wenn ich nicht alle Erwartungen erfüllte,
und den Mut zu finden, anders zu sein,
anders zu handeln, als man es von mir erwartet.

In der Balance der Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst,
der Barmherzigkeit mit anderen wie mit sich selbst
liegt der rechte Umgang mit den Erwartungen.
Es ist ein lebenslanges Lernen, das man da vor sich hat.
Jesus aber, der die Sünder angenommen hat,
der nimmt auch uns an.
Auch dann, wenn wir noch nicht ganz perfekt sind.
Immer wieder sagt er uns freundlich vor:
Geht aber und lernt, was das bedeutet: 
Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.
Amen.