Samstag, 9. Februar 2013

Blinde und Sehende


Predigt am Sonntag vor der Passionszeit, Estomihi, 10. Februar 2013, über Lukas 18,31-43:

Jesus nahm die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.
(Luther 1984)

Liebe Gemeinde,

zwei Geschichten werden hier erzählt.
Sie stehen nacheinander im Lukasevangelium
und scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben.

Die erste Geschichte erzählt,
dass Jesus den Jüngern sein Schicksal voraussagt.
Er tut es hier bereits zum dritten Mal:
er kündigt seine Passion, sein Leiden und Sterben,
und seine Auferstehung an.
Aber die Jünger verstehen auch bei diesem dritten Mal,
wie die beiden Male zuvor, nur Bahnhof.
Das wird sogar besonders betont,
indem das Nichtverstehen dreimal wiederholt wird:
"Sie begriffen nichts davon, 
und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, 
und sie verstanden nicht, was damit gesagt war."

Die zweite Geschichte handelt von der Heilung eines Blinden,
der im Markusevangelium "Bartimäus" heißt.
Bei dieser Geschichte springt ins Auge,
dass Bartimäus sich nicht kleinkriegen und nicht abwimmeln lässt,
obwohl er als Blinder ein Außenseiter ist.
Die Umstehenden zischen ihn nieder,
wollen ihn zum Schweigen bringen.
Er aber schreit um so lauter:
"Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"

Zwölf begriffsstutzige Jünger und ein schreiender Blinder.
Warum stehen diese beiden Geschichten hintereinander?
Ist es Zufall, oder gibt es da einen Zusammenhang?

I
Vom hohen Ross einer gelernten Christin oder eines gelernten Christen
schaut man etwas mitleidig auf die Jünger herab.
Sie, die doch ganz nah dran waren an Jesus,
haben überhaupt nichts kapiert.
Wir dagegen, trotz des zeitlichen Abstands von fast 2.000 Jahren,
wir haben voll den Durchblick.
Uns ist klar, wohin der Weg Jesu führt,
und wir können auf das scheinbare Ende dieses Weges,
auf das Kreuz, ganz gelassen blicken, denn wir wissen:
Danach kommt noch etwas. Das ist nicht das Ende.
Nach der Passionszeit kommt Ostern:
Es gibt ein Happy End, ganz am Schluss,
als die Jünger Jesus schon längst aufgegeben haben
- diese Jünger, die schon jetzt so furchtbar begriffsstutzig sind.

Aber verstehen wir wirklich, was Jesus da ankündigt,
oder sind wir gar am Ende genau so blind wie seine Jünger?

Was uns von den Jünger unterscheidet ist,
dass die Jünger das Ende noch nicht kennen können,
sie sind ja ein Teil der Geschichte,
während wir das ganze Evangelium schon längst kennen
und damit auch sein Ende, die Kreuzigung und die Auferstehung.
Aber zwischen dem Kennen, dem Wissen
und der Erfahrung besteht ein großer Unterschied.
Manche lesen neugierig zuerst das Ende eines Krimis,
weil sie wissen müssen, ob er gut ausgeht.
Aber die Spannung erlebt man nur,
wenn man sich Seite für Seite durch den Fall arbeitet,
in Sackgassen läuft oder sich vom Autor in die Irre führen lässt,
bis am Ende die Auflösung steht.

Ebenso wissen wir, dass wir krank werden können,
und dass wir eines Tages werden sterben müssen.
Aber was es bedeutet, krank zu sein,
das weiß man erst, wenn man es einmal durchleiden musste.
Und was der Tod bedeutet, das begreift man zum ersten Mal,
wenn man einen Menschen verliert, den man geliebt hat.
Damit ist dann aber noch nichts gewonnen, ganz im Gegenteil:
Dann beginnt erst ein oft mühevoller Prozess,
in dem man zu begreifen versucht,
dass dieser Mensch nicht mehr da ist,
dass man diese Krankheit durchgemacht hat
und nun unter ihren Folgen, unter den Einschränkungen leidet.
Und es braucht viel Zeit, bis man sagen kann,
nun wisse man, wie das ist -
wenn man das überhaupt je sagen kann.

Unser Wissen, dass Jesus am Kreuz stirbt
und nach drei Tagen aufersteht, nützt uns nichts.
Wir wissen, dass seine Geschichte am Ende gut ausgeht,
aber was hilft uns das? Was hat es mit uns zu tun?

II
Auf irgendeine Weise müssen wir diese Worte,
diese Geschichte von Jesus erleben und vielleicht sogar mitleiden,
damit daraus mehr entsteht als eine Kenntnis von
scheinbaren oder wirklichen Tatsachen.
Wir sollten uns eingestehen,
dass wir nicht viel klüger sind als die Jünger,
auch wenn wir zu verstehen glauben,
was Jesus mit diesen Worten meint:
"Der Menschensohn wird überantwortet werden den Heiden, 
und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 
und sie werden ihn geißeln und töten; 
und am dritten Tage wird er auferstehen."

Wie kommt man diesen Sätzen bei?
Wo ist der Punkt, an dem unsere Erfahrung ansetzen kann,
an dem wir mit unserem Leben vorkommen?

Da hilft uns nun die zweite Geschichte weiter:
Ein Blinder hört, dass viele Menschen zusammenkommen
und will wissen, was da los ist.
Man erzählt ihm: "Jesus von Nazareth geht vorbei."
Jesus von Nazareth, von dem hat man viel gehört,
deshalb bildet sich eine Menschentraube um ihn.
Auch der Blinde hat von ihm gehört,
deshalb fängt er an zu rufen:
"Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"

Auf Griechisch ruft er: Eléison!,
wie auch wir zu Beginn des Gottesdienstes gerufen haben.
Dieser Ruf ist nicht so sehr Bitte,
sondern vielmehr Huldigungsruf,
dem man nur einem entgegenbringen durfte:
dem allerhöchsten Herrscher, dem Kaiser.
Mit diesem Ruf pries man den Kaiser
als höchsten Herrn über Leben und Tod,
als Herrn auch über das eigene Leben.

Es scheint, als würde der Blinde um Hilfe rufen.
Aber dann riefe er Jesus von Nazareth,
den bekannten Helfer und Heiler und Wundertäter.
Er aber ruft mit seinem Eléison! den allerhöchsten Herrscher an -
allerdings nicht den weltlichen Kaiser,
sondern den, auf den alle Gläubigen warten: den Messias.
Bartimäus ruft den Messias, er ruft: Jesus, du Sohn Davids!

Der Messias ist ein Davidsohn.
Das haben die Propheten vorausgesagt.
Bartimäus erkennt, dass Jesus der Messias ist.
Er sieht es, obwohl er blind ist,
während die Jünger, die doch sehen können,
nichts erkennen und begreifen.

III
Woran liegt es, dass ausgerechnet ein Blinder,
der doch nichts sehen kann,
in Jesus den Messias erkennt,
während die Sehenden nichts begreifen?
Woran liegt es, dass Jesus die Kinder selig preist,
aber die Erwachsenen mahnt:
Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, 
der wird nicht hineinkommen?

Offenbar kann man nicht wissen,
dass Jesus der Messias ist in der Weise,
wie wir wissen, dass heute Sonntag ist,
dass Holz schwimmt oder eine Kerzenflamme heiß ist.
Offenbar geht es beim Glauben gar nicht darum,
etwas zu wissen, sondern - - -

Ja, worum geht es hier eigentlich?

Wie antwortet Jesus auf den Ruf des Blinden:
"Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"?
Er antwortet: "Dein Glaube hat dir geholfen."
Wozu hat er ihm geholfen?
Natürlich, dass er wieder sehend wurde!
Ist das wirklich so natürlich?

Es erscheint uns selbstverständlich,
dass man sich als Blinde oder Blinder nichts sehnlicher wünscht,
als endlich sehen zu können.
Deshalb sehen wir alle Menschen,
die nicht können, was wir "Gesunden" können,
die nicht so sind, wie wir "Normalen" sind,
als "behindert" an.
Ihnen fehlt etwas, das uns unentbehrlich erscheint -
das Augenlicht, das Gehör,
die Fähigkeit zu sprechen oder zu laufen,
die Gesundheit an Leib oder Seele.
Wir können uns nicht vorstellen, dass sie glücklich sind,
dass sie ein erfülltes Leben haben.
Wir sind der Überzeugung, dass sie leiden
und uns "Gesunde", "Normale" beneiden.
Und vielleicht ist das ja auch so.

Vielleicht aber sind diese Menschen glücklich,
trotz ihrer "Behinderung".
Vielleicht fühlen sie sich gar nicht so unvollkommen,
wie wir sie sehen;
vielleicht fehlt ihnen etwas,
aber sie vermissen es gar nicht so sehr, wie wir meinen
- weil sie es nie kennen gelernt haben,
oder weil sie statt dessen andere Fähigkeiten entwickelt haben,
die uns verschlossen und fremd sind.

Es ist ein langer und nicht selten leidvoller Weg,
bis man begreift, dass das Menschsein nicht darin besteht,
so zu sein wie alle anderen,
dass nicht "Gesundheit" oder "Normalität"
- was ist denn überhaupt "normal",
und wann ist man denn überhaupt "gesund"? -,
zu einem erfüllten Leben führen, sondern eine Entdeckung,
die der Blinde gemacht hat, bevor er sehend wurde.

IV
Diese Entdeckung ist, dass Jesus der Messias ist.

Und weil Jesus der Messias ist, und nicht ein Superheld,
aber auch kein Bürokrat oder ein obergestrenger Richter,
sondern das eine Wort dessen, der die Liebe ist,
und dieses eine Wort ist wiederum nichts anderes als: die Liebe -
weil also diese Liebe Gottes der Christus, der Messias ist,
darum ist unser Leben erfüllt, sobald wir Jesus erkennen.

Bartimäus ist die Liebe Gottes begegnet, bevor er geheilt wurde.
Diese Liebe Gottes hat ihn angenommen, wie er ist:
als Blinden, als in den Augen seiner Mitmenschen
Behinderten, Defizitären, Mangelhaften.
Die Liebe Gottes aber hat in ihm nicht den Mangel gesehen,
sondern den Menschen, das Ebenbild Gottes,
das sich auf unendlich verschiedene Weisen ausprägt
und die Fülle Gottes in ihrer Vielfalt wiederspiegelt.
Bartimäus hat erkannt, dass er niemand werden muss,
weil er schon längst jemand ist
und immer schon war, seit er auf der Welt ist.

Es geht in dieser Geschichte, es geht beim Glauben also darum,
Jesus als Messias anzunehmen.
Und damit anzunehmen, dass Gott uns liebt, so, wie wir sind,
und unsere Mitmenschen ebenso.
Es gilt zu lernen, uns selbst anzunehmen und zu lieben,
eben weil Gott uns so sehr liebt,
dass er seinen einzigen Sohn für uns gab.
Und es gilt zu lernen, unsere Mitmenschen anzunehmen und zu lieben,
eben weil Gott sie liebt.
Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Leicht ist das nicht.
So viel steht dem entgegen - Vorurteile, Gewohnheiten,
unser schlechtes Denken über uns selbst und über andere,
der Druck der Mehrheit, wer "Normal" ist,
wer "Richtig" und wer "gesund".
Man begibt sich auf einen langen und nicht selten mühevollen Weg,
wenn man versucht, Jesus als Messias anzunehmen.
Die Bibel nennt diesen Weg: Nachfolge.

V
Das Unverständnis der Jünger wurde auf dreifache Weise zum Ausdruck gebracht:
"Sie begriffen nichts davon, 
und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, 
und sie verstanden nicht, was damit gesagt war."
In ähnlicher Weise ist das Erkennen des Bartimäus ein Dreischritt:
"Sogleich wurde er sehend 
und folgte ihm nach 
und pries Gott."

Die Jünger sind wie Bartimäus: Sie sind blind.
Aber im Gegensatz zu ihm wissen sie es nicht.
Auch wir sind blind, solange wir Jesus nicht erkennen.
Aber eines Tages werden uns die Augen aufgetan.
Dann erkennen wir, wie blind wir waren.
Dann sehen wir aber auch Jesus
- nicht mit diesen Augen, sondern mit unseren Herzen.
Dann folgen wir ihm nach
auf seinem Weg der Liebe zu allen Menschen und zu uns selbst,
und diese Nachfolge schließlich wird ein Loblied für Gott sein.
Amen.