Samstag, 23. Februar 2013

Dass ich es bin


Predigt am 2. Sonntag der Passionszeit, Reminiszere, 24. Februar 2013, über Johannes 8,21-25.28-29:

Jesus redete nun wiederum zu den Juden:
"Ich gehe weg und ihr werdet mich suchen
und an eurer Sünde sterben.
Wohin ich gehe, könnt ihr nicht gehen."
Da sagten die Juden:
"Er wird sich doch nicht selbst töten?
Weil er sagt: Wohin ich gehe, könnt ihr nicht gehen."
Und er sagte zu ihnen:
"Ihr seid von unten, ich bin von oben.
Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.
Ich sagte euch nun, dass ihr an euren Sünden sterben werdet.
Wenn ihr nämlich nicht glaubt, dass ich es bin,
werdet ihr an euren Sünden sterben."
Da fragten sie ihn:
"Wer bist du?"
Jesus antwortete ihnen:
"Zunächst das, was ich euch auch sage. [...]
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet,
dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin.
Und von mir selbst tue ich nichts,
sondern wie mich der Vater gelehrt hat, das rede ich.
Und der mich gesandt hat, ist mit mir.
Er lässt mich nicht allein,
weil ich immer das tue, was ihm lieb ist."


Liebe Gemeinde,

wenn man den Führerschein macht,
lernt man, dass man regelmäßig in den Rückspiegel schauen muss,
um den Verkehr hinter sich zu beobachten.
Wenn man den Führerschein dann erstmal hat,
kontrolliert keiner mehr, ob man das auch tatsächlich tut.
Manche, so scheint es, benutzen den Rückspiegel nur noch zum Einparken.
In Paris, so hörte ich, soll es sogar geradezu verpönt sein, nach hinten zu schauen;
dort achtet jede und jeder nur auf den Vordermann,
und das funktioniert sehr gut - solange sich alle daran halten.

Es kann aber durchaus sinnvoll sein,
die Lehre aus Fahrschulzeiten zu beherzigen
und ab und zu auch mal zurück zu schauen.
Denn viele Dinge erkennt und begreift man erst im Rückblick.
Und auch was ein Mensch war, was man an ihr, an ihm hatte,
erkennt man oft erst, wenn dieser Mensch nicht mehr da ist.

I
Erinnern Sie sich noch an die Rateserie "Was bin ich?"
mit Robert Lembke und Guido, dem "Ratefuchs",
mit Hans, Annette und Marianne und der immergleichen Frage:
"Welches Schweinderl hätten'S denn gern?"
Bei diesem "heiteren Beruferaten" ging es darum,
einen seltenen oder ungewöhnlichen Beruf zu erraten,
wobei der Kandidat nur mit "Ja" oder "Nein" antworten durfte.
In der letzten Runde kam dann der Stargast.
Das Rateteam musste sich vorher Masken aufsetzen,
damit es sie oder ihn nicht sehen konnte,
und der Gast sprach auch nicht,
sondern nickte nur oder schüttelte den Kopf,
wobei Robert Lembke die Antworten für das Rateteam,
das ja nichts sehen konnte, "übersetzte".

Wie ein Ratequiz kann einem auch der Predigttext vorkommen:
Ein Quiz, in dem es um das Rätsel geht, wer Jesus ist.
Die Juden, mit denen Jesus spricht, bemühen sich,
aus seinen Anspielungen schlau zu werden.
Jesus macht es ihnen aber nicht leicht.
Im Gegenteil - finden Sie nicht auch,
dass er sich hier ganz schön arrogant verhält?
Wie Jesus sein Anderssein betont, indem er sagt,
dass sie ihm nicht folgen können
und dass sie nicht aus derselben Sphäre stammen wie er!
Und dann diese Geheimniskrämerei um seine Identität,
dieses Reden um den heißen Brei, diese Rätsel ...

Jesus kann auch sonst manchmal ziemlich schroff sein:
seine Mutter kanzelt er ab mit den Worten:
"Weib, was geht's dich an, was ich tue?"
- so redet man doch nicht mit seiner Mutter!
Er nimmt seinen Gegnern gegenüber kein Blatt vor den Mund,
bezeichnet sie sogar als "getünchte Gräber",
und bei einem Wutausbruch im Tempel stürzt er sogar die Tische der Händler um.

Warum reagiert Jesus so schroff, wenn es um die Frage geht, wer er ist?
Selbst seinen Jüngern erlaubt er nicht, zu erzählen, was doch jeder weiß
und was er nicht verbergen kann:
Dass er der Christus, der Messias ist.

II
Auch wir "wissen" das. Aber wissen wir auch, was es bedeutet?
Meistens hören wir den Titel "Christus" nicht als das, was er ist:
die griechische Übersetzung des Titels "Messias", Gesalbter.
Wir hören ihn eher als eine Art Name:
Vorname: Jesus, Nachname: Christus.
Dass mehr dahinter steckt als ein bloßer Name,
darauf sollen uns die geheimnisvollen,
unverständlichen und auch etwas ärgerlichen Sätze stoßen,
die Jesus den Juden sagt:
"Ich gehe weg und ihr werdet mich suchen 
und an eurer Sünde sterben."

Es geht um mehr als einen Namen,
es geht auch um mehr, als zu erraten, wer Jesus in Wirklichkeit ist.
Es geht darum, ob man "an seiner Sünde stirbt" - oder lebt.

Es wird wohl keine Ärztin, kein Arzt jemals festgestellt haben:
"er, sie, ist an seiner Sünde gestorben".
Und auch in den vielen Kriminalserien im Fernsehen
ist meines Wissens "Sünde" noch nie als Todesursache vorgekommen
(wenn man darunter nicht die vielen moralischen Fehltritte
und die Verbrechen zählen will, die Ursache so manchen Mordes sind).
Man stirbt am Herzinfarkt. Am Krebs.
An einer der unzähligen Krankheiten.
An der Sünde kann man nicht sterben.
Aber vielleicht geht es hier gar nicht um den leiblichen Tod,
sondern um ein Sterben ganz anderer Art.

Wir sagen manchmal: "der, die ist für mich gestorben",
obwohl die Betreffende noch lebt.
Wir wollen dann mit ihr, mit ihm nichts mehr zu tun haben.
Er, sie ist für uns, als wäre sie tot.
Und auch wenn wir nicht so weit gehen würden,
ihr tatsächlich den Tod zu wünschen:
es ist uns gleichgültig, ob sie lebt oder stirbt
(auch wenn wir uns dann manchmal eines anderen besinnen
und uns diesem Menschen wieder zuwenden,
wenn es ihr oder ihm schlecht geht).

"An der Sünde sterben" könnte also bedeuten,
dass man, wie man die Beziehung zu einem Menschen abbricht,
der "für einen gestorben ist",
ebenso die Gemeinschaft mit Gott verliert:
Gott wendet sich ab, weil Gott eine nicht mehr kennen will.
Gott bricht die Beziehung ab, weil Gott nichts mehr von einem wissen will.
Man ist für Gott "gestorben".

III
Ich kann nicht glauben, dass Gott so ist wie wir.
Auch wenn die Bibel an vielen Stellen sagt,
dass Gott die Sünde hasst und darüber zornig ist,
so unterscheidet Gott doch immer zwischen "Sünde" und "Sünder".
Gott hasst, was wir an Schlechtem tun, aber er hasst uns nicht.
Für Gott sind wir nie gestorben, und selbst im Tod lässt er uns nicht:
Jesus ist gestorben und "hinabgestiegen in das Reich des Todes",
damit wir selbst im Tod nicht allein und ohne Trost sind,
sondern auf die Auferstehung, auf ein neues Leben hoffen dürfen.

Und trotzdem können wir an der Sünde sterben: Wenn wir das nicht erkennen.
Wenn wir nicht wissen - nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen -,
dass Gott zwischen uns und unseren Taten unterscheidet.
Dass er manches, was wir taten, verurteilt, uns aber nicht,
sondern uns vergibt und gerecht spricht.

Wir sterben an der Sünde, wenn wir das nicht für uns gelten lassen wollen.
Wenn wir uns selbst rechtfertigen wollen,
aus eigener Anstrengung unser Leben zurecht bringen wollen.

Wir sterben an der Sünde, wenn wir Gott verkennen und verwechseln
und die falschen Götter für Gott halten:
Das Geld. Unsere Leistungsfähigkeit.
Die Lebensversicherung. Unser Aussehen, unsere Gesundheit.

Damit uns das nicht passiert, ist es wichtig zu erkennen, wer Jesus ist.
Leicht ist das nicht.
Wie Robert Lembkes Rateteam beim Stargast die Augen verbinden musste,
so sind auch unsere Augen sozusagen verbunden,
"gehalten", wie es so schön in der Emmausgeschichte heißt,
so dass wir Jesus nicht einmal dann erkennen würden,
wenn er direkt vor uns stünde.

IV
Jesus sagt den Juden, dass sie ihn erst erkennen werden, wenn sie ihn "erhöhen" werden.
Was für seine damaligen Gesprächspartner eine harte Nuss war,
ist für uns ziemlich leicht zu verstehen:
Jesus wurde im wahrsten Sinne des Wortes "erhöht":
er wurde an einer langen Stange aufgehängt,
hoch über den Köpfen: am Kreuz.
Gleichzeitig ist die Kreuzigung auch im übertragenen Sinne eine Erhöhung:
Durch das, was damals die schmählichste Art des Todes war,
mit der nur die schlimmsten, widerlichsten Verbrecher hingerichtet wurden,
ist Jesus den Weg des Menschseins bis zum absoluten Tiefpunkt gegangen.
Er hat bewusst das Missverständnis in Kauf genommen,
das sich mit seinem Kreuzestod verband,
um uns tatsächlich in allem gleich zu werden.

Oft erkennen wir erst, was wir an einem Menschen hatten,
wenn er nicht mehr da ist - wenn er gestorben
oder auf andere Weise für uns nicht mehr erreichbar ist.
Dann fühlen wir schmerzhaft, was wir versäumt haben.
Was wir an ihr, an ihm hatten, als sie noch da war.
Und wünschten uns, wir hätten die Zeit besser genutzt.

In den Menschen, mit denen wir zusammenleben, begegnet uns Jesus.
Solange wir mit ihnen auf dem Weg sind, können wir an ihnen, durch sie erfahren,
wer und wie Jesus für uns ist.
"Denn was ihr einer von diesen 
meinen geringsten Schwestern und Brüdern getan habt", sagt Jesus,
"das habt ihr mir getan."

Dass in einem Menschen etwas von Jesus aufgeblitzt ist,
erkennt man nicht im Moment der Begegnung.
Das erkennt man, wenn überhaupt, nur im Rückblick.
"Brannte nicht unser Herz?", fragen sich die Emmausjünger,
als Jesus verschwunden ist.
Dass unser Herz brannte,
dass Menschen uns für einen Moment bessere Menschen sein ließen,
dass sie uns ein Lächeln ins Gesicht zauberten
oder uns glücklich machten, das könnte ein Indiz dafür sein,
dass uns in ihnen Jesus begegnet ist.

Wissen können wir es nicht.
Jesus wird es uns eines Tages verraten,
aber dann werden wir nicht mehr hier sein.
Aber wir können es glauben.
Wir können es voneinander annehmen,
wir können voneinander das Beste annehmen:
dass uns in dem Menschen, der uns begegnet,
Jesus gegenüber tritt, den wir nicht erkennen,
weil wir ihn nicht richtig sehen können.
Der aber unser Herz zum Brennen bringen,
der unser Leben erfüllen kann.

V
"Ihr werdet erkennen, dass ich es bin."
Wir werden nicht an unseren Sünden sterben.
Selbst wenn wir unser ganzes Leben den falschen Göttern nachlaufen,
selbst wenn wir taub und blind durchs Leben tappen
und jede Begegnung mit Jesus verpassen,
sind wir für Gott doch nicht gestorben.
Selbst, wenn wir von ihm nichts wissen wollten,
hört Gott nicht auf, an uns zu glauben,
an unsere Fähigkeit, das Richtige zu tun.
Zu lieben, und zu empfinden, dass unser Herz brennt.

"Ihr werdet erkennen, dass ich es bin."
Wenn wir ab und zu mal zurückschauen,
werden wir erkennen, wie oft wir Jesus begegnet sind.
Dann werden wir nicht bis zum Ende warten müssen,
um beim Rückblick auf unser Leben zu erkennen,
dass wir nicht allein waren.
Schon jetzt können wir wissen, glauben und erkennen,
dass Gott bei uns ist und uns liebt,
weil wir erkennen und erkannt haben, dass es Jesus ist.
Amen.