Montag, 1. April 2013

Wer wird denn weinen? Eine Predigt zum Abschied


Predigt am Ostermontag, 1. April 2013, zur Verabschiedung als Pfarrer an der Klosterkirche Riddagshausen, über Jesaja 25,8-9

"Ach!", sagte der Fuchs, "ich werde weinen."
"Das ist deine Schuld", sagte der kleine Prinz,
"ich wünschte dir nichts Übles,
aber du hast gewollt, dass ich dich zähme ..."
"Gewiss", sagte der Fuchs.
"Aber nun wirst du weinen!", sagte der kleine Prinz.
"Bestimmt", sagte der Fuchs.
"So hast du also nichts gewonnen!" [1]

Liebe Gemeinde,

die Aussicht, sein Freund könnte weinen,
erschreckt den kleinen Prinzen.
Für ihn sind Tränen etwas Fremdes, Bedrohliches.
Das geht wohl allen Kindern so,
die Erwachsene weinen sehen.
Weil Erwachsene so selten und nur heimlich weinen,
- und, wenn sie es gar nicht verhindern können,
dabei ihr Gesicht verbergen -, erschrecken sich Kinder,
wenn sie ihre Eltern doch einmal weinen sehen und befürchten,
dass etwas Schlimmes, etwas Ungewöhnliches geschehen sein muss.

Auch wir erschrecken, wenn wir jemanden weinen sehen.
Man ist ganz verdattert und hilflos
und reagiert entweder mit sofortigem Mitleid und dem Wunsch,
zu trösten und zu helfen, die Tränen zu vertreiben,
oder mit sofortiger Ablehnung und Verachtung vor so wenig Selbstbeherrschung.
So oder so: Tränen, wenn sie nicht vor Freude geweint werden,
wenn sie einem nicht beim Zwiebelschneiden
oder vor Lachen in die Augen schießen,
Tränen sind etwas Schlimmes.
Denn sie deuten darauf hin, dass etwas Schlimmes passiert ist.

I
So denkt offenbar auch der Predigttext für den Ostermontag,
der beim Propheten Jesaja im 25. Kapitel steht.
Ich lese eine eigene Übersetzung:

Gott wird den Tod vernichten für immer,
und abwischen wird er die Tränen von allen Gesichtern.
Und die Schmähung seines Volkes wird er aufheben von der ganzen Erde, denn er hat es versprochen.
Und man wird sagen an diesem Tag:
"Sieh, das ist unser Gott.
Wir haben auf ihn gehofft, und er hat uns geholfen.
Das ist der Herr, auf ihn haben wir gewartet.
Lasst uns jubeln und fröhlich sein über seine Hilfe!"

Tod und Tränen in einem Satz, in einem Atemzug.
Hier werden keine Krokodilstränen vergossen,
hier ist den Menschen großes Leid widerfahren.
Einen ganz ähnlichen Satz lesen wir oft bei Trauerfeiern und Beerdigungen vor,
aus dem Buch der Offenbarung des Johannes:
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, 
und der Tod wird nicht mehr sein.

Ich finde dieses Bild sehr tröstlich:
Gott, der wie eine Mutter, wie ein Liebender
behutsam die Tränen aus dem Gesicht wischt.
Da ist Gott ganz auf der Seite der Trauernden, der Leidenden.
Teilt ihre Fassungslosigkeit, ihre Verzweiflung,
und hat keine Antworten auf die Frage nach dem Warum parat,
keinen höheren Sinn, der den Tod dieses Menschen rechtfertigt,
sondern nur Mitgefühl und Trost.

Aber so bange einem um Trost sein kann,
frage ich mich doch:
Was ist so schlimm an Tränen,
dass man sie nicht zeigen darf
und, kaum sind sie geweint, wieder abwischen muss?

II
Am dritten Tage auferstanden von den Toten,
so sprechen wir im Glaubensbekenntnis.
Und tatsächlich sind es von Karfreitag bis Ostersonntag drei Tage.
Aber schon als Kind habe ich das nicht verstanden
und immer wieder nachgezählt.
Denn wenn man die Zeit von der Kreuzigung am Freitag Nachmittag
bis zur Auferstehung am Ostermorgen misst
und nicht die Anzahl der Wochentage zählt,
dann sind es bestenfalls zwei Tage - eigentlich nur anderthalb.
Nicht, dass ich hier zum Pfennigfuchser werden will oder meine,
Jesus hätte längere Zeit im Reich des Todes verbringen müssen.
Aber auffällig ist es doch,
dass wir die Grabesruhe Jesu offenbar nur schwer aushalten können
und deshalb abkürzen müssen.
Schon der Karfreitag ist für viele eine Zumutung.
Aber am eigentlichen Tag der Grabesruhe, dem Karsonnabend,
da muss schnell wieder eingekauft werden,
da muss das Leben wieder seinen gewohnten Gang gehen.
Dieser eine Tag Unterbrechung ist genug.
Es kann nicht schnell genug Ostern werden,
wir können nicht früh genug
die erlösende Botschaft von der Auferstehung hören.
Wir können die Totenstille nicht aushalten.

So ist es auch mit den Tränen.
Wenn jemand weint, dann ist es schwer,
das mit anzusehen, ihn oder sie weinen zu lassen.
Hilflos versuchen wir, den Tränenfluss zu stoppen,
sagen: "Du musst doch nicht weinen", reichen Taschentücher.
Dabei hilft es doch,
wenn die Trauer mit den Tränen herausgeschwemmt wird,
wenn die Gefühle, die einem wie ein Kloß im Hals sitzen,
sich Bahn brechen können
und man - vielleicht zum ersten Mal - spürt,
was einem fehlt, was einem so weh tut.

Tränen, Krankheit, Leid, Schmerz und am Ende der Tod
gelten als schrecklich, als etwas, das man nicht verdient hat.
Und so ist es: Niemand hat verdient, zu leiden.
Niemand verdient es, krank zu sein,
einen geliebten Menschen zu verlieren.
Niemand verdient es, zu sterben.
Und doch kann dem niemand entgehen.
Es gehört zu unserem Menschsein, zu unserem Leben dazu,
dass wir Leid und Schmerz erleben und empfinden,
dass wir Abschied nehmen müssen und anderswo neu anfangen,
dass wir krank werden und alt,
dass wir geliebte Menschen durch den Tod verlieren
und eines Tages selbst sterben müssen.
Niemandem bleibt das erspart.
Niemand hat einen Anspruch, ein Recht auf ein Leben,
das von all dem unbeschwert ist,
das nur Gesundheit kennt, Erfolg und glückliche Tage
und an dessen Ende ein sanfter Tod steht.
Aber wir alle träumen davon und, wenn wir ehrlich sind,
erwarten wir, dass es uns genau so ergeht.
Wenn es aber nicht so kommt - und das ist die Regel -,
dann hadern wir mit Gott und fragen,
warum er so grausam zu uns ist,
warum er uns dieses schwere Schicksal nicht erspart,
warum er uns leiden lässt.

III
Gott wird den Tod vernichten für immer,
und abwischen wird er die Tränen von allen Gesichtern.
Und die Schmähung seines Volkes wird er aufheben von der ganzen Erde, denn er hat es versprochen.
Dieses Versprechen Gottes bezieht sich nicht auf unsere Gegenwart.
Es bezieht sich auf einen Tag, von dem Jesus sagt,
dass er kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.
Ein Tag, den viele Fromme sehnlichst erwartet haben,
der immer wieder berechnet wurde und doch nicht angebrochen ist.

Ich bin ganz froh darüber, dass er noch nicht angebrochen ist.
Denn das würde ja das Ende, den Untergang der Welt bedeuten.
Ich bin froh, dass ich in dieser Welt leben darf -
auch, wenn das bedeutet, dass ich leide,
dass ich Schmerz empfinde, krank und alt werde,
Menschen verliere, die ich liebe und eines Tages selbst sterben werde.

Aber diese Welt ist die schönste aller Welten,
weil ich sie mir "gezähmt" habe, wie Saint-Exupery es nennt:
Ich habe mir Bäume, Blumen, Wasser und Wolken vertraut gemacht;
ich habe Menschen kennen gelernt und mich mit ihnen angefreundet;
ich habe die wunderbarsten Eltern und Geschwister, die es gibt;
die schönste und klügste aller Frauen
und die zauberhafteste Tochter,
die man sich nur vorstellen kann.
Ich durfte in dieser so anrührend schönen und erhabenen Kirche arbeiten
in einem Team von engagierten und professionellen Mitarbeitern, die auch noch ganz wunderbare Menschen sind;
mit einem Kantor, der ein großer Künstler ist;
mit Menschen, die unglaubliche Mengen an Zeit und Kraft und Herzblut in diese Gemeinde, in diese Kirche investieren.
Ich bin über die Maßen begnadet und beschenkt worden.

Und Sie sind es auch.

Denn auch Sie haben wunderbare Partnerinnen und Partner,
auch Ihre Kinder lieben Sie über alles,
auch Ihre Kirche, Ihre Gemeinde ist die beste und schönste der Welt.

Aber - wenn alle so besonders sind:
dann ist niemand besonders.

Nein, so ist es nicht.
Sondern:
man erkennt das Wunder, das jeder einzelne Mensch ist,
erst dann, wenn man sie "gezähmt",
sich mit ihnen vertraut gemacht hat:
Wenn man sie oder ihn zu sehen lernt, wie sie ist,
und wenn man sie oder ihn dafür zu lieben lernt,
dass sie genau so ist, wie sie ist,
und sie nicht anders haben will.

Wer die Einmaligkeit eines Menschen entdeckt,
die Schönheit eines Ortes, der Pflanzen und Tiere,
indem er sie "zähmt", sich mit ihnen vertraut macht,
zahlt einen hohen Preis: die Tränen beim Abschied.

Menschen, die wir lieben, verletzten oder verlassen uns.
Orte verändern sich. Tiere sterben. Bäume werden gefällt.
Wir verändern uns. All das ist schmerzhaft, tut weh.

Irgendwann müssen wir das,
was wir uns vertraut gemacht haben, zurücklassen.
Das tut sehr weh.
Denn wir wissen nicht, wie das Neue sein wird.
Ob da überhaupt noch etwas kommt.

IV
Man wird sagen an diesem Tag:
"Sieh, das ist unser Gott.
Wir haben auf ihn gehofft, und er hat uns geholfen.
Das ist der Herr, auf ihn haben wir gewartet.
Lasst uns jubeln und fröhlich sein über seine Hilfe!"

Heute feiern wir die Auferstehung.
Wir jubeln und sind fröhlich darüber,
dass noch etwas gekommen ist.
Dass unser Warten nicht enttäuscht wurde.
Gott hat versprochen, eines Tages den Tod zu vernichten
und alle Tränen abzuwischen.
An diesem Tag werden wir sagen, dass Gott uns geholfen hat.
Noch ist es nicht so weit.
Noch leben wir in dieser Welt,
die keinesfalls die beste aller Welten ist.
Aber so schön, so wunderbar,
dass sie für jede und jeden von uns ein Paradies sein könnte,
wenn wir nur wollten.

"Sieh, das ist unser Gott.
Wir haben auf ihn gehofft, und er hat uns geholfen.
Das ist der Herr, auf ihn haben wir gewartet.
Lasst uns jubeln und fröhlich sein über seine Hilfe!"
Diese Hilfe Gottes hat einen Namen.
Hilfe heißt nämlich auf Hebräisch "Jeschua".
Jeschua - bei diesem Namen klingelt etwas:
Es ist der hebräische Name dessen, den wir "Jesus" nennen
und der an Ostern auferstanden ist.
Gottes Hilfe hat einen Namen,
eine Gestalt und ein Gesicht.
Und weil Jesus auferstanden ist,
ist sie tatsächlich, leibhaftig da.

V
"Ach!", sagte der Fuchs, "ich werde weinen."
"Das ist deine Schuld", sagte der kleine Prinz,
"ich wünschte dir nichts Übles,
aber du hast gewollt, dass ich dich zähme ..."
"Gewiss", sagte der Fuchs.
"Aber nun wirst du weinen!", sagte der kleine Prinz.
"Bestimmt", sagte der Fuchs.
"So hast du also nichts gewonnen!"
"Ich habe", sagte der Fuchs, "die Farbe des Weizens gewonnen."

Viele Menschen, viele Dinge begegnen uns auf unserem Lebensweg.
Sie begleiten uns ein kurzes oder langes Stück unseres Weges,
dann müssen wir sie zurücklassen und ohne sie weiter gehen.
Wenn wir sie uns vertraut gemacht haben, werden wir weinen.
Es wird schmerzhaft sein, uns von ihnen zu trennen.
Aber wir nehmen etwas mit, das sie uns geschenkt haben.
Die Farbe des Weizens bedeutet uns etwas,
weil der, den wir liebten, weizenblondes Haar hatte.
Wir haben Farben gewonnen, Töne;
mit allen Sinnen, mit unserem Herzen sind wir berührt worden,
und diese Berührung wirkt noch lange fort und verändert uns.

Sie verändert die Welt.
Ein Weizenfeld ist nicht mehr nur ein Weizenfeld,
sondern eine anfangs schmerzliche,
später immer glücklichere Erinnerung an den Menschen,
den wir lieben.

Sterne sind nicht nur einfach Sterne,
sondern Schellen, aus denen das silberhelle Lachen tönt,
das wir so sehr vermissen;
wir haben Sterne, die lachen können.

Brot ist nicht nur einfach Brot,
und Wein ist nicht nur einfach Wein.
Sie sind Zeichen der Gegenwart dessen,
der in Brot und Wein unter uns, lebendig bei uns ist
und der eines Tages behutsam die Tränen von unseren Augen abwischen wird.

Das ist wohl der Tränen wert.

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[1] Antoine de Saint-Exupery, Der kleine Prinz, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, München (DTV), 1985, S. 554