Montag, 19. Oktober 2015

In die Falle getappt

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 18.10.2015, über Markus 10,2-12

Liebe Schwestern und Brüder,

Fragen können eine Falle sein. Wenn z.B. eine Frau fragt: "findest du mich zu dick?", dann darf ihr Freund oder Ehemann auf keinen Fall antworten: "du hast in letzter Zeit etwas zugenommen, aber "dick" würde ich das nicht nennen". Aber was soll er statt dessen auf ihre Frage antworten? Sagt er: "du siehst super aus, Schatz", ist es zwar ein Kompliment, aber es hat ihre Frage nicht beantwortet, und sie wird bestimmt nachhaken. Sagt er: "du bist doch nicht dick!", dann glaubt sie, er lügt, selbst, wenn er es ehrlich meint. Es wird also gehen, wie es immer geht: er wird sich um Kopf und Kragen reden, und sie wird sich heimlich über sein Bemühen, ihr etwas Nettes zu sagen, freuen.
Es ist aber beileibe nicht so, dass nur Frauen solche Fangfragen stellen! Männer können das mindestens genauso gut, wenn sie die Zuneigung ihrer Freundin oder Frau testen wollen oder hungrig nach einem Kompliment sind.
Und auch im alltäglichen Miteinander stellen wir uns oft solche Frage-Fallen, wie sie die Pharisäer Jesus stellen.

Wo aber haben die Frager im Predigttext ihre Falle versteckt? Zunächst sieht  es nach einer ganz normalen theologischen Diskussion aus, wie sie zwischen einem Rabbi und seinen Schülern oder Fragestellern üblich war: Es wird ein Problem aufgeworfen - hier: die Frage der Ehescheidung - und die dazu maßgebliche Bibelstelle angeführt, die lautet: Mose hat die Scheidung erlaubt. Damit wäre die Frage beantwortet, die Unterhaltung könnte beendet sein. Aber sie hat noch gar nicht richtig begonnen. Den Fragern wie Jesus geht es nämlich darum, wie man diese Bibelstelle *richtig* versteht. Die Frager wollen Jesus provozieren, weil er sich so strikt gegen die Ehescheidung ausspricht, und ihn dazu bringen, Moses zu widersprechen. Jesus erklärt dagegen, das "Dürfen" sei keine generelle Erlaubnis, sondern eine Ausnahme für den Notfall der "Herzenshärte". Diese "Herzenshärte" kann sich so unscheinbar zeigen, wie es Erich Kästner in seinem Gedicht "Sachliche Romanze" beschreibt:

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Herzenshärte kann sich auch in eisigem Schweigen zeigen, mit dem Partner einander mürbe machen, oder in einem heißen Konflikt, der bis zu einem Rosenkrieg eskaliert und am Ende unendliches Leid und die Trümmer einer Beziehung hinterlässt.

Es kommt vor, dass Beziehungen scheitern. Es ist jedesmal schmerzhaft, nicht nur für die Betroffenen, auch für ihre Angehörigen und Freunde. Niemand kann sicher sein, dass die eigene Beziehung davor bewahrt bleibt. Niemand kann das Versprechen lebenslanger Liebe und Treue aus eigener Kraft erfüllen. Dafür, meint Jesus, für diesen schmerzlichen Ausnahmefall, dass die Liebe abhanden kommt und die Beziehung zerbricht, hat Mose die Möglichkeit der Scheidung eröffnet. Nicht aber, um eine Beziehung zu beenden, weil man keine Lust mehr, eine bessere Partie oder eine jüngere, attraktivere Partnerin gefunden hat.

Auch damit könnte die Unterhaltung beendet sein. Jesus hat das Mosewort auf die Ausnahme eingeschränkt, die nicht die Regel darstellen soll. Aber Jesus geht noch einen Schritt weiter: Er führt Verse aus der Schöpfungsgeschichte an, die belegen sollen, dass zwei Menschen, die eine Beziehung eingehen, etwas Neues schaffen. Aus zwei vormals getrennten Menschen wird "ein Fleisch" oder Leib. Die Beziehung hat beide so verändert, dass sie nun nicht mehr auseinanderzuhalten sind, sondern eine untrennbare Einheit bilden.

Warum ist Jesus das wichtig? Kann es dem Glauben darum gehen, zu regeln, wie Menschen in einer Beziehung zusammen leben? Wenn Jesus z.B. mit biblischen Belegen die Vielehe, die Polygamie, vertreten hätte: würden wir dann mit mehreren Partnern zusammen leben? Doch wohl eher nicht, auch wenn von Abraham bis Jakob die biblischen Väter mehrere Frauen hatten. 

Wie Sie wissen, hatte Jesus eine sehr extreme Auffassung, was Beziehungen angeht. In der Bergpredigt sagt er: "Ihr wisst, dass es heißt: 'Du sollst nicht die Ehe brechen!' Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau mit begehrlichem Blick ansieht, hat damit in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen." (Matthäus 5,27-28)
Man hat Jesus wegen dieser Worte Leib- und Lustfeindlichkeit unterstellt. Wenn man Jesu Worte als Gebot auffassen wollte, dann könnte man nur noch mit verbundenen Augen durch's Leben gehen - oder sich in ein Kloster zurückziehen. Aber auch dort sind andere Männer bzw. Frauen, die Begierden wecken können, und die Geschichte lehrt, dass das ja durchaus regelmäßig geschah. Wir Menschen sehen einander auch als mögliche Geliebte an. So singt Wolf Biermann:

Das mit den Männern und den Fraun
ich kann nie nicht kein Weib anschauen
ganz ohne mich zu fragen ob
sie mit mir könnte, ich mit ihr?
Wir können nicht anders, das ist Teil unseres Menschseins. Wer uns das nehmen wollte, der wollte, dass wir keine Menschen mehr sind. 

Diese extreme Haltung Jesu wurde oft auch missverstanden als Verschärfung des sechsten Gebotes "Du sollst nicht ehebrechen". Daraus entwickelte sich eine protestantische Prüderie, die Jugendlichen den Besuch der Disco und sexuelle Erfahrungen vor der Ehe verbot, die von den Gläubigen "züchtige" Bekleidung forderte und Männlein und Weiblein in der Kirche strikt trennte. 
Aber Jesus verbietet uns nicht das Flirten, sondern weist uns auf eine Ordnung hin, der wir unterworfen sind. Dabei geht es ihm nicht darum, eine neue Ordnung aufzustellen und Gebote zu erlassen, die ein Mensch unmöglich erfüllen kann. Ihm geht es darum, die bereits bestehende Ordnung in Erinnerung zu rufen, die besagt: eine Beziehung ist etwas Besonderes. Sie verändert die beiden Menschen, die daran beteiligt sind. Sie wirkt so tiefgreifend, dass dabei etwas Neues entsteht. Dieses Neue soll man schätzen und schützen und nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. 
Jesus möchte, dass man sich an diese Ordnung der Beziehung ohne Ausflüchte und Hintertüren hält. Dazu braucht er nicht einmal die zehn Gebote. Es reichen ihm ganze zwei: "Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst". 

Jesus hat keine "Überregulierung" im Sinn, sondern den Abbau von Regeln. Das funktioniert aber nur, wenn wir Menschen mitspielen. Normalerweise verstehen wir Regeln als Einschränkung unserer Freiheit. Sie provozieren uns zum Widerspruch. "Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden", sagt man. 
Regeln übertreten hat seine Zeit: Heranwachsende müssen Grenzen austesten und überschreiten - ihre, und die der anderen -, um zu wissen, wer sie sind und wie das Leben funktioniert. Und Regeln halten hat seine Zeit: Eines Tages ist man erwachsen. Eines Tages lernt man, dass Ordnung und Regeln einen Sinn haben; jeder Mensch braucht sie zum Leben. Solange man sich aber weigert, erwachsen zu werden, und Regeln weiterhin als Einschränkung seiner Freiheit verstehen will, wird man nach immer neuen Schlupflöchern und Ausnahmen suchen, um diese Regel doch nicht befolgen zu müssen, um angebliche Freiheit für sich zu gewinnen. Weil man immer wieder die Ausnahme von der Regel sucht und sein will, kommt es zur Überregulierung: das Schlupfloch, das jemand gefunden und genutzt hat, wird mit einer neuen Regel zugestopft - doch dabei entsteht wieder eine neue Lücke, die man schließen muss, und so geht es immer weiter. Auf diese Weise wurde auch der Scheidebrief missbraucht: eigentlich sollte er eine Ausnahme regeln. Doch er wurde zum Mittel, die Ausnahme zur Regel werden zu lassen. Jesus dagegen möchte, dass die Ausnahme eine Ausnahme bleibt, dass wir beim Eingehen einer Beziehung nicht schon mit deren Scheitern rechnen oder es gar mit einplanen. 

Jesus möchte, dass wir die Gebote nicht als Mauern und Grenzen sehen, die unsere Freiheit einschränken, sondern dass wir sie als Fundament unserer Freiheit entdecken. Wenn es z.B. ums Flirten geht, dann sollen wir wissen, was wir tun. Wir sollen uns nichts vormachen, als wären ausgerechnet wir immun gegen die Blicke und die Schönheit eines anderen Menschen. Sondern wenn wir Blicke werfen oder erwidern, sollen wir dabei ehrlich sein und die Beziehung, in der wir uns befinden, nicht verleugnen. Wir sollen Grenzen respektieren - unsere, und die des anderen Menschen. So haben wir die Freiheit, einem anderen Menschen zu zeigen, dass wir ihn nett finden, attraktiv, sympathisch, ohne dass der andere uns missverstehen oder sich von uns bedrängt fühlen muss.

Jetzt verstehen wir, glaube ich, besser, was Jesus über Scheidung und Ehebruch sagt. Er stellt keine Ordnung für die Ehe auf, verkündet auch nicht die Unauflöslichkeit der Ehe, sondern will, dass wir liebevoll miteinander umgehen und unsere Liebe nicht verraten. Jesus will, dass wir uns für die Liebe einsetzen, uns ihr anvertrauen, sie leben - in unserer Beziehung, wie im Alltag. 

Das versteht Jesus unter Gebotserfüllung: wir sollen das Gebot nicht als Einschränkung erleben, sondern als Basis, auf der alles andere aufbaut. Die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe sollen uns erfüllen und jeden unserer Schritte bestimmen. Dann reichen auch diese beiden Gebote aus:
Wer von der Nächstenliebe erfüllt ist, der wird nicht überlegen, wie er sich vor dem Helfen drücken kann, sondern zupacken, wenn er gebraucht wird. 
Wer von der Gottesliebe erfüllt ist, wird Gott nicht nur auf den Sonntag und die Kirche beschränken, sondern die ganze Welt als Gottes Schöpfung begreifen, und alle Menschen und Tiere als Gottes Geschöpfe, unsere Geschwister.

Zum Erwachsensein gehört, Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Erst, wenn man Grenzen anerkennt, ist man wirklich frei. Und zum Erwachsensein gehört, diese Grenzen nicht als Einschränkung, sondern als Ermöglichung meiner Freiheit anzunehmen. 

Ein theologisches Streitgespräch zwischen Jesus und den Pharisäern über das Recht zur Ehescheidung führt weit über Ehe und Partnerschaft hinaus. Es führt uns zum Fundament unseres Zusammenlebens, unserer Beziehungen untereinander, und zu Gott. Dieses Fundament wird gebildet durch das Respektieren von Grenzen. Der Grenzen untereinander: Ich bin ich, und du bist du. Du musst nicht so sein, denken, handeln und fühlen wie ich, und ich muss nicht so sein, denken, handeln und fühlen wie du. Und der Grenzen zwischen Gott und Mensch: Gott ist Gott, damit der Mensch Mensch bleiben kann. Wir müssen nicht so sein wie Jesus. Wir können es gar nicht. Wir sollen und dürfen Menschen sein dund Menschen bleiben. Menschen mit ihren Irrtümern und Fehlern. Menschen, die manchmal gierig und neidisch, manchmal wütend und ungerecht, manchmal egoistisch und manchmal voller Selbstmitleid sind. Menschen, die Grenzen haben. Wenn wir um unsere Begrenztheit wissen und sie annehmen, finden wir die Freiheit, anders zu handeln. Freigiebig sein statt gierig, uns am Glück oder Erfolg anderer freuen, statt sie zu beneiden. Vergeben, statt auf den anderen wütend zu sein, und fair handeln, statt ungerecht. An andere denken, statt an uns selbst, und Mitgefühl zeigen, statt in Selbstmitleid zu versinken.

Nicht die Frager stellen Jesus eine Falle. Jesus stellt ihnen und uns eine Falle: Er will uns dazu verleiten, unsere Grenzen anzunehmen, um uns so zur wahren Freiheit der Kinder Gottes zu verhelfen. In diese Falle möchte er uns locken - gebe Gott, dass wir hineintappen!
Amen.