Mittwoch, 21. Oktober 2015

Kein Vergleich

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 25.10.2015, über Matthäus 5,38-48

Liebe Schwestern und Brüder,

normalerweise besitzt man ein sicheres Gespür für das, was gerecht und was ungerecht ist. Wer Geschwister hatte, achtete früh darauf, dass das Eis in genau gleiche Portionen aufgeteilt wurde - und lernte zugleich, dass auch die anderen Geschwister sehr genau darauf schauen, dass niemand mehr bekommt als der andere.
In der Schule lernt man, sich selbst im Verhältnis zu den anderen einzuschätzen. Wenn ein Mitschüler für die gefühlt gleiche Leistung besser benotet wird als man selbst, ist das ungerecht. Andererseits empfindet man es selten als ungerecht, wenn man besser bewertet wird als die Mitschülerin.

Unser Sinn für Gerechtigkeit entwickelt sich früh und reagiert sehr sensibel, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen. Manche Menschen können es gut aushalten, wenn andere Menschen ungerecht behandelt werden, gehen aber sofort auf die Barrikaden, wenn sie sich selbst ungerecht behandelt wähnen. Die zahlreichen Protestierer, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen Woche für Woche auf die Straße gehen, sind ein gutes Beispiel dafür. Ihr Antrieb ist nicht, wie sie vorgeben, die Sorge um unser christliches Abendland - weder sind sie praktizierende Christen, noch sind sie der deutschen Sprache besonders mächtig. Sie werden angetrieben von dem Gefühl, dass ihnen Unrecht geschieht, weil andere etwas bekommen - und seien es Almosen -, und sie nicht.

Und dann gibt es den interessanten Fall, dass sich unser Gerechtigkeitssinn sozusagen schlafen legt. Ein schönes Beispiel dafür sind die Spielfilme um den Gentleman-Gauner Danny Ocean, Ocean's 11, 12 und 13. Als Zuschauer wird man Zeuge galanter, perfekt geplanter und trotz aller Widrigkeiten bravourös durchgeführter Einbrüche. Man fiebert mit den Einbrechern mit, dass ihnen der Coup gelingen und man sie nicht im letzten Moment erwischen möge. 
Dabei handelt es sich ganz klar um Straftaten, schwere Straftaten sogar. Was sie für den Zuschauer akzeptabel macht ist, dass die Ganoven so gut aussehen, so witzig und charmant sind, und dass es immer einen unfairen, fiesen Bösewicht trifft, der es nicht besser verdient hat. Einem Robin Hood vergeben wir gern seine Ungerechtigkeit - solange er uns nicht bestiehlt.

Diese drei Fälle - das Teilen unter Geschwistern und das bewertet Werden in der Schule, der Neid auf das, was andere haben oder bekommen, und die Schadenfreude, wenn ein Bösewicht hereingelegt wird, stecken das Feld ab, in dem sich die beiden Abschnitte der Bergpredigt vom Vergelten und von der Feindesliebe bewegen.

In diesen beiden Abschnitten erwartet Jesus nicht weniger von uns, als dass wir unseren Sinn für Gerechtigkeit dauerhaft abschalten sollen - nicht nur für den Fall eines Gentleman-Ganoven, sondern auch dann, wenn ein ganz besonders fieser, unsympathischer Mensch uns Unrecht tut.

Allerdings sollen wir das nur tun in Bezug auf Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren. Dabei würde uns der Verzicht auf das Registrieren von Ungerechtigkeiten unseren Mitmenschen gegenüber viel leichter fallen. Manchen gelingt es, wie gesagt, problemlos, darüber hinwegzusehen, dass andere ungerecht behandelt werden. Je weiter entfernt von uns jemand Unrecht erleidet, desto weniger bekümmert es uns. Um z.B. die Ungerechtigkeit zu erkennen, die unsere Wirtschaftsordnung in den Staaten der sogenannten "Dritten Welt" verursacht, und um unsere Mitschuld daran zu empfinden, bedarf es schon einer enormen Anstrengung. 

Sie ist aber nichts im Vergleich zu der Anstrengung, die es uns kostet, das zu tun, was Jesus von uns verlangt: Auf Gerechtigkeit für uns zu verzichten. Nicht anderes steckt hinter dem Verzicht auf Vergeltung. Aber wer kann sich so beherrschen, dass er nicht zurückschlägt, wenn er geschlagen oder beleidigt wird, sich nicht wehrt, wenn man ihm das letzte Hemd nehmen will?

Auch beim Gebot, unsere Feinde zu lieben, geht es letzlich um den Verzicht auf unsere Gerechtigkeit. Wenn sich jemand uns zum Feind gemacht hat, tat er uns Unrecht, schweres Unrecht sogar. Statt dieses Unrecht zu verfolgen und durch Bestrafung Gerechtigkeit herzustellen, will Jesus, dass wir das Unrecht nicht nur geschehen lassen, sondern die, die so etwas tun, auch noch lieben
Das ist uns ja nicht einmal bei unseren Geschwistern gelungen - und da ging es nur darum, wer die größte Portion bekam. Es gelang und gelingt uns nicht bei unseren Freundinnen und Klassenkameraden, als es um die Schulnoten ging. Und es gelingt uns auch da nicht, wo die meiste und größte Liebe im Spiel ist: in unseren Beziehungen sehen wir nicht ein, zurückzustecken, wenn wir uns im Recht wähnen oder das Gefühl haben, die Partnerin, der Partner nehme sich mehr heraus, als ihr oder ihm zusteht.

Was Jesus da von uns verlangt: der Verzicht auf Gerechtigkeit für uns, das ist uns unmöglich. Mit größter Willensanstrengung schaffen wir es in dem einen oder anderen minderen Fall vielleicht, einmal Fünfe gerade sein zu lassen. Aber dauerhaft zurückstecken, immer nachgeben, sich jedes Mal auf die Zunge beißen, wenn man sein Recht einfordern möchte? Das ist unmöglich. Das kann Jesus nicht von uns verlangen!

Wie kommt er eigentlich dazu, eine so unrealistische Forderung an uns zu stellen? Jesus erklärt es im letzten Satz: "Seid vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist."
Was sagt Jesus da? Sollen wir etwa so sein wie Gott? Endet solch Übermut nicht immer böse, wie das Märchen vom Fischer und seiner Frau demonstriert: Jeden Wunsch seiner Frau erfüllt der Butt dem Fischer, sie wird Königin, sogar Päpstin. Doch als sie so sein will wie Gott, da landet sie wieder dort, wo sie hergekommen ist: in ihrem Pisspott.

Die Bibel hat der Warnung davor, wie Gott sein zu wollen, einen Namen und eine Gestalt gegeben: Der Erzengel Michael trägt diese Warnung im Namen: Mi-cha-el, diese hebräische Frage heißt auf Deutsch: Wer ist wie Gott? Die Antwort darauf lautet natürlich: niemand, nicht einmal ein Engel. Der Engel, der es sein wollte, Luzifer, wurde vom Himmel gestürzt. Auch diese Geschichte vom Engelssturz ist eine Warnung vor dem Hoch- und Übermut, wie Gott sein zu wollen.

Hier sei noch angemerkt, dass der Engel mit der Warnung im Namen der Nationalheilige der Deutschen ist: der "deutsche Michel". Offenbar haben wir Deutschen, die wir ja schon einmal von einem tausendjährigen Reich träumten, mit schrecklichen, verheerenden Folgen für die Welt - es besonders nötig, vor solchem Hoch- und Übermut gewarnt zu werden.

Wenn wir aber nicht wie Gott sein sollen und es ja auch nicht können, warum verlangt Jesus es trotzdem von uns? Will er uns damit, wie auch mit seiner unmöglichen Forderung, auf unsere Gerechtigkeit zu verzichten, in die Verzweiflung stürzen? Will er, dass wir jeden Tag auf's Neue scheitern, uns als Versager, als schlecht, klein, schuldig und unfähig fühlen?
Dieses Gefühl ist Christinnen und Christen über Jahrhunderte von ihrer Kirche geradezu eingebläut worden. Martin Luther wurde dadurch zu seiner reformatorischen Entdeckung getrieben, weil er das Gefühl der Unwürdigkeit, der Schuld und des Kleingemachtwerdens, das ihm seine Kirche vermittelte, nicht mit den Worten und dem Handeln Jesu überein bringen konnte.

Wir haben Jesus gründlich missverstanden, wenn wir glauben, er wolle uns demütigen und klein machen. Das Gegenteil ist der Fall: vom Zöllner Zachäus bis zur Ehebrecherin holt Jesus Menschen aus den Ecken, in die sie von anderen gestellt wurden oder in die sie selbst sich stellten.
Die Vollkommenheit, die Jesus sich von uns wünscht, besteht demnach nicht darin, so zu sein wie Gott. Sie besteht in einer Ähnlichkeit oder Übereinstimmung mit Gottes Vollkommenheit: "Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist". 

Worin aber besteht Gottes Vollkommenheit? Darin, dass seine Sonne über Bösen und Guten scheint, dass er regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Gott ist dabei nicht der große Gleichmacher, der nicht unterscheiden würde zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse, und dem alles gleichgültig wäre. Gott unterscheidet, und seit dem Sündenfall können auch wir diese Unterscheidung treffen: Wir wissen, was gut und was böse, was gerecht und was ungerecht ist. 

Gott unterscheidet, aber Gott zieht keine Konsequenzen. Gottes Sonne scheint über allen Menschen, und auch der Regen kommt allen Menschen zugute. Wir finden das ungerecht, und die Psalmbeter des Alten Testaments klagen Gott deswegen an, dass es den gottlosen Menschen gut geht, während die Frommen leiden müssen. 
Wir wissen nicht, warum Gott das tut. Die Bibel erzählt davon, dass beim Jüngsten Gericht die Bösen und Ungerechten von Gott bestraft werden. Aber eigentlich kann uns das gleichgültig sein, denn es ändert nichts am Hier und Jetzt: Hier und jetzt scheint Gottes Sonne auch über ihnen. 

Wir mögen das nicht fair, mögen das ungerecht finden. Aber es ist nicht unsere Sache, über unsere Mitmenschen zu urteilen, sondern allein Gottes. Wenn wir über andere Menschen richten, dann nehmen wir Gott, was allein ihm gebührt, dann wollen wir sein wie Gott - und tun, was wir nicht sollen. Es ist schwer, das auszuhalten, aber Jesus möchte, dass wir damit aufhören; dass wir aufhören, über andere zu urteilen. 

Wir sollen aufhören, uns mit anderen zu vergleichen: Was hat der andere, was ich nicht habe? Warum hat er mehr als ich, Besseres als ich? Uns stört ja nur, wenn jemand mehr und Besseres hat; nicht, wenn es jemandem schlechter geht. 
Wir sollen aufhören, zu vergleichen und statt dessen das Leben annehmen, das wir nun einmal leben, und uns nicht ein anderes, vermeintlich besseres wünschen. 
Wir sollen unseren Körper annehmen, wie er ist, mit all seinen Fettpölsterchen, Falten und Zipperlein, und nicht neidisch auf die Luxuskörper der Models schielen, oder an unserem Körper herumbasteln und herumschnippeln, um ihn einem Ideal ähnlicher zu machen.

Darin besteht die Vollkommenheit, die Jesus sich von uns wünscht: Dass wir das Urteilen Gott überlassen und darauf verzichten, uns ständig mit anderen zu vergleichen. In diesem Verzicht auf den Vergleich sind wir tatsächlich Gott ähnlich: So wie der Erzengel Michael uns daran erinnert, dass niemand wie Gott ist, so haben wir alle einen Engel, der uns daran erinnert, dass niemand so ist wie wir.

Amen.