Freitag, 25. Dezember 2015

Gott versteckt sich

Predigt zur Christvesper am 24.12.2015 über Jeremia 29,13

Liebe Gemeinde,

I
eins der ersten Spiele, das ein kleines Kind lernt und von dem es gar nicht genug bekommen kann, ist Verstecken. Dieses Versteckspiel der Kleinen ist anders als das der größeren Kinder: nicht so anstrengend, ohne das Zählen, ohne die hektische Suche nach einem möglichst guten Versteck, ohne den Wettlauf, wenn man gefunden wurde … Man braucht sich dabei nicht zu bewegen - es reicht, die Hände vors Gesicht zu halten: Jetzt bin ich weg - jetzt bin ich wieder da; jetzt bin ich versteckt - jetzt wieder da …

Ältere Kinder und Erwachsene amüsieren sich über die Einfalt dieses Spieles: Das Kind muss doch wissen, dass man da ist. Oft sitzt es bei diesem Spiel ja sogar auf dem Schoß - und trotzdem funktioniert es. Offenbar ist es nicht entscheidend, dass Mama oder Papa, Oma oder Opa da sind. Entscheidend ist es, ihr Gesicht zu sehen. Das ist wie mit der Sonne - die ist ja auch immer da, auch wenn sie sich hinter Wolken versteckt. Trotzdem sagen wir dann: "Die Sonne scheint nicht", obwohl sie doch scheint - nur eben über den Wolken.

II
Wie bin ich jetzt auf's Verstecken gekommen? Das gehört doch eigentlich zum Osterfest, wo die Eier versteckt werden. An Weihnachten liegen die Geschenke nach der Bescherung offen unter dem Weihnachtsbaum. Vorher allerdings, da sind sie versteckt … Wo? Tja, das ist und bleibt ein Geheimnis …
Ach ja: Auf's Verstecken kam ich wegen des Kindes in der Krippe!
Ob Jesus wohl auch so Verstecken gespielt hat wie wir? Eigentlich erübrigt sich die Frage, Jesus war doch ein Mensch wie wir. Also wird er auch dieses menschlichste aller Spiele gespielt haben. Aber irgendwie stellt sich die Frage trotzdem, denn - ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: mir fällt es schwer, mir Jesus als "richtigen" Menschen vorzustellen. Als Baby, das schreit, weil es Hunger hat; das bäuert und in die Windeln macht; das nicht einschlafen kann und von Maria oder Josef stundenlang geschuckelt oder auf der Schulter durch den Stall getragen werden muss … Das ist so …  menschlich. Aber Jesus ist doch Gottes Sohn, ein göttliches Kind, ein "lieber Stern" (EG 37,6), ein "holder Knabe in lockigem Haar" (EG 46,1), "viel schöner und holder, als Engel es sind" (EG 43,2)!

III
Wenn ich es mir richtig überlege, hat das Verstecken doch sehr viel mit Weihnachten zu tun. Denn eigentlich ist Gott es, der sich an Weihnachten versteckt. - Ein eigenartiger Gedanke, nicht? Dass Gott sich verstecken könnte … Und zugleich eine ganz vertraute Erfahrung: Hat man nicht manchmal das Gefühl, Gott habe sich versteckt? Gott scheint sich immer gerade dann zu verstecken, wenn man ihn am nötigsten braucht. Wenn man für die Matheklausur nicht gelernt hat, aber auf gar keinen Fall eine 5 schreiben darf, dann hilft alles Bitten und Beten nicht: Gott ist nicht zu erreichen, kein Anschluss unter dieser Nummer. Aber auch, wenn man sich Sorgen um einen Menschen macht, wenn jemand schwer krank geworden ist oder gar im Sterben liegt, wenn man selbst Schlimmes erlebt: Dann scheint Gott nicht da zu sein. In solchen Situationen zweifelt man, ob es Gott überhaupt gibt, verzweifelt an der beharrlichen Weigerung Gottes, sich zu melden, das Schicksal zu wenden, ein Wunder zu tun, wenigstens einmal.

IV
Wie aber wäre es, wenn Gott sich gar nicht versteckt hat, sondern wir das bloß denken, weil wir ihn nicht finden? Man sagt ja manchmal, der "sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht", wenn man etwas nicht sieht, obwohl man fast mit der Nase darauf stößt.
Ein jüdischer Gelehrter erzählt eine Geschichte von einem Jungen, der mit seinen Freunden Verstecken spielt. Er hat ein so gutes Versteck gewählt, dass seine Freunde ihn nicht finden. Doch statt weiter zu suchen, geben sie die Suche auf, spielen etwas anderes und lassen ihren Freund in seinem Versteck zurück. Da läuft das Kind weinend zu seinem Großvater. Als der erfährt, dass die Freunde seines Enkels ihn nicht suchen wollten, schießen ihm die Tränen in die Augen und er sagt: „So spricht auch Gott: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.“
(nach: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (Manesse) 1990, S. 191)

Ist es nicht verständlich, dass man die Suche aufgibt, wenn der, der sich versteckt hat, einfach nicht zu finden ist - vielleicht gar nicht gefunden werden will? Aber das Versteck, das Gott sich gewählt hat, ist wirklich kinderleicht - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir stoßen sozusagen mit der Nase darauf. Gott liegt in der Krippe! Dieses kleine, hilflose, wärme- und liebesbedürftige Menschlein ist Gott! - Kein Wunder, dass wir ihn nicht finden. Was soll man schon mit so einem Gott anfangen? Wie soll ein Baby in der Krippe bei der Matheklausur helfen? Was soll es ausrichten gegen Krankheit, Schmerz und Tod? Wie kann es helfen, wenn es selbst hilfebedürftig ist?

V
Eben darum haben wir das Gefühl, Gott habe sich versteckt: Weil wir nach einem ganz anderen Gott suchen als den, der sich uns im Kind zeigt. Wir suchen so etwas wie Supermann, Batman, die X-men: Wir suchen einen, der auf wunderbare Weise alles wieder in Ordnung bringt, was wir nicht schaffen. Wir suchen einen, der mal eben für uns die Naturgesetze außer Kraft setzt - das müsste für Gott doch ein Kinderspiel sein, wenn es den Supermännern und -frauen schon so leicht fällt.
Gott aber weigert sich, ein Supermann zu sein. Als Jesus am Kreuz hängt und provoziert wird, er solle doch herabsteigen vom Kreuz, wenn er Gottes Sohn ist, da rettet er sich nicht. Gott wird Mensch, das bedeutet: Es gibt keinen allmächtigen Gott mehr. Keinen Blitzeschleuderer und Weltveränderer, keinen, der die Naturgesetze außer Kraft setzt, die er selbst gemacht hat. Als Gott Mensch wurde, hat er sich selbst diesen Gesetzen unterworfen. Er hat sich selbst sogar dem Leiden und dem Tod unterworfen. Warum hat er das getan? Er hätte lieber Gott bleiben sollen: Ein allmächtiger Gott nützt uns mehr als ein kleines Menschlein in der Krippe.

VI
Als wir Kinder waren, da waren unsere Eltern Superfrauen und -männer für uns. Was die alles konnten! Wie oft sie uns aus der Patsche halfen, uns trösteten, wenn wir uns weh taten; uns Geld zusteckten, wenn wir mal wieder knapp bei Kasse waren; einen Rat für uns hatten, wenn wir nicht weiter wussten; uns notfalls auch mal beim Lehrer oder beim Ausbilder 'raushauten, wenn es Ärger gegeben hatte.
Als wir selbst erwachsen wurden, mussten wir allein klarkommen. Das gehört zum Erwachsensein dazu, und das wollten wir auch. Inzwischen sind viele von uns selbst Eltern, die das für ihre Kinder tun, was ihre Eltern für sie taten. Und auch unsere Kinder werden eines Tages ohne unsere Hilfe auskommen müssen und wollen.

So ist es auch im Glauben. Als Kind stellt man sich Gott so vor wie Mutter oder Vater - nur eben viel größer und mächtiger, mit Rauschebart und so. Wenn man älter wird, erlebt man die Enttäuschung, dass Gott nicht so ist, wie man ihn sich als Kind vorstellte. Die einen geben enttäuscht ihren Glauben an einen Gott auf, der sich scheinbar weigert, für sie da zu sein. Die anderen finden Gott im Kind in der Krippe und verstehen. 
Sie verstehen, dass Gott Mensch wurde, damit wir Menschen sein können: freie, selbständige Menschen, keine großen Kinder.

VII
Gott versteckt sich in einem kleinen Kind. Dieses Versteck ist so gut, weil wir nie darauf kämen, Gott dort zu suchen. Dort ist Gott zu finden: an den Orten, bei den Menschen, wo wir ihn nicht vermuten würden. Deshalb hat sich Jesus mit Fischern abgegeben, mit Zöllnern, mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft standen, nicht mit den Schönen, Reichen und Berühmten. Wer Gott finden will, muss sich bücken, darf sich nicht zu schade dazu sein, sich auch mal die Finger schmutzig zu machen - z.B. beim Wechseln einer vollen Windel … 

Gott versteckt sich, damit wir ihn finden. Wenn wir ihn gefunden haben, kann er uns mit seiner Liebe überwältigen, wie es ein kleines Kind tut. Wenn man beim Versteckspiel die Hände vom Gesicht nimmt, dann lacht und strahlt das Kind, dass man selber lächeln muss, ob man will oder nicht. Ein kleines Kind schenkt einem so viel Liebe, so viel Glück, dass man alle Sorgen vergisst. 
Das ist Gottes Weihnachtsgeschenk für uns. Alle Jahre wieder schenkt sich Gott uns als Kind in der Krippe, dass uns das Herz aufgeht und wir ganz weiche Knie bekommen und dieses Strahlen im Gesicht vor Glück und vor Liebe.
Amen.