Freitag, 13. Mai 2016

„Projekt Einheit“

Predigt am Pfingstmontag, 16.5.2016, über Genesis 11,1-9
(Erstmals gehalten am 16.5.2010)


Liebe Schwestern und Brüder,

Das waren noch Zeiten!
Als die Welt noch neu und nett war,
als das Wünschen noch geholfen hat
und aus Wünschen – einfach so – Tatsachen wurden.
Als nichts und niemand die selige Einheit störte,
alle eins und sich einig waren.
Als die Welt noch in den Kinderschuhen steckte
und nichts diese Harmonie bedrohte:
Einerlei Sprache und einerlei Worte.
Und, so darf man wohl ergänzen, einer für alle und alle für einen. 
Ein fast paradiesischer Zustand.
Ohne falschen Zungenschlag.
Alle gehören dazu, alle sind gleich, alle sind eins.

Und doch ist diese innige Einheit bedroht.
Vielleicht, weil es nicht zum Aushalten ist,
wenn alles sich versteht, alle gleich sind.
In ihrer glückseligen Harmonie der Einigkeit und des Einsseins ahnen die Menschen,
dass es noch etwas anderes gibt als diese fraglose Übereinstimmung, dieses Einerlei.
Sie ahnen, dass da ein „Mehr“, dass da noch Anderes ist,
dass dieses „Mehr“ ihre Einheit zerstören könnte, und sie haben Angst davor:

Sie sprachen:
- Auf! Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst über die ganze Welt zerstreut.“
Die selige Einheit scheint eine bedrohte Einheit zu sein.
Es gibt die dunkle Ahnung: „wir werden über die ganze Welt zerstreut.“
Die Einheit könnte aufgelöst werden in Vielheit,
wodurch und von wem auch immer.
Denn jenseits der symbiotischen Verbundenheit,
jenseits des paradiesischen Einheitstaumels gibt es das Andere, das Fremde.
Und das könnte die Harmonie zerstören,
auseinanderbrechen lassen.
Das, was als äußerliche Bedrohung erahnt wird,
setzt nach innen in Bewegung.
Die unbewusste, träumerische Einigkeit muss erarbeitet, erhalten und gegen mögliche Störenfriede behauptet werden.
Es braucht eine Aufgabe und ein Ziel,
um den Zusammenhalt untereinander zu sichern.
Und das ganze muss einen Namen bekommen
– jeder muss wissen, wie das Ganze heißt, zu dem er gehört.
Es gilt, sich gemeinsam einen Namen zu machen,
eine Identität zu erlangen.
Und so muss her, was seitdem immer wieder helfen soll,
Identität zu stiften, Verbundenheit zu zeigen:
Ein Projekt.
Ein Projekt muss her um das,
was selbstverständlich gegeben war:
einerlei Sprache und Worte, nach innen und außen zu behaupten.
Ein Projekt muss her, das die Einheit festigen – ja, neu begründen soll.
Ein Projekt, um sich einen Namen zu machen, um in die Geschichte einzugehen.
Ein Turm, ein riesiger Turm.

Und Gott sprach:
- Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr unausführbar sein von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Auf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner die Sprache seines Gefährten verstehe! So zerstreute sie Gott von dort über die ganze Welt, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“

Das wunderbare Projekt
- der Turm, der bis an den Himmel reicht -,
das die Einheit, die Identität
so anschaulich und einprägsam verkörpern sollte –
das Projekt misslingt.
Gott macht einen Strich durch die Rechnung der Menschen.

Aber warum?
Weil der Turm zu hoch werden könnte,
kratzen an den Wolken,
kratzen an Gottes Thron, an Gottes Geheimnis?
Weil Gott Sorge hätte,
die Menschen könnten ihm zu nahe kommen,
könnten sein Geheimnis ergründen,
seine Macht infrage stellen, es mit ihm aufnehmen wollen?
- Ach, was wäre Gott für ein kleinlicher,
was für ein allzu menschlicher Gott,
wenn er um seine Größe bangen müsste,
wenn er nur um dieser Größe willen
die Sprache der Menschen verwirrt hätte.
Wenn aber Neid nicht Gottes Beweggrund ist –
warum stoppt er dann das ehrgeizige Projekt der Menschen? 
Warum zerstört er mutwillig diese wunderbare Einheit?

Dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr unausführbar sein von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“
„Einigkeit macht stark.“
Wenn Menschen sich einig sind,
wenn alles auf ein Kommando hört,
dann sind wir zu allem fähig.

Gott kennt seine Menschen.
Gott kennt uns nur allzu gut:
Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“.
Eine unschuldige Einigkeit und Einheit
wie in seligen Säuglingszeiten gibt es unter uns Menschen nicht.
Wenn Gleichheit zum erklärten Ziel wird,
wenn der Rausch der totalen Harmonie ausbricht,
kann niemand mehr entrinnen.
„Seid umschlungen, Millionen“ -
diese Umarmung kann und wird Menschen erdrücken,
ihnen die Freiheit nehmen,
die sie brauchen wie die Luft zum Atmen.
Denn sprechen alle die gleiche Sprache,
dann marschieren auch bald alle im gleichen Schritt –
und dann müssen alle auch das gleiche denken.

Wenn der Traum von gegenseitiger Verständigung, Einheit und Brüderlichkeit zur grandiosen Idee wird,
eine weltumspannende Einheit sei herstellbar und machbar,
dann wird aus Sehnsucht Zwang,
aus Harmonie Tyrannei,
die sich mit Macht gegen alles durchsetzt, das ihr im Weg steht, 
und die dazu ohne Scheu über Leichen geht.
Weil es nun ein höheres gibt als das Leben des Einzelnen,
ein Ziel, dem alle dienen, alle sich unterordnen müssen:
Der Turm. Das Volk. Der Staat.

Wenn dieser große Rausch der totalen Harmonie um sich greift, 
muss man einen kühlen Kopf bewahren.
Muss man dem Rausch Grenzen setzen.
Muss man die Menschen vor sich selbst schützen,
indem man die Wirklichkeit ins Spiel bringt.
Die Wirklichkeit – das ist die Verschiedenheit, die Getrenntheit; 
die Wirklichkeit – das sind die Unterschiede, die Differenz.
Wir Menschen waren niemals eins.
Wir waren schon immer so, wie wir auch heute sind:
Keine und keiner ist so wie der andere,
nicht einmal die Geschwister einer Familie,
nicht einmal eineiige Zwillinge.
Das ist manchmal schmerzhaft und traurig,
denn oft sehnen wir uns nach fragloser, grenzenloser Einheit.
Gerade in Liebesbeziehungen sehnen wir uns nach diesem Einssein –
und gerade da schmerzt es besonders, wenn wir merken:
Dieses Einssein, das wir miteinander erleben,
gibt es nur in besonderen Momenten.
Im Alltag, in der Wirklichkeit, herrscht die Differenz, die Andersartigkeit –
gerade auch bei zweien,
die sich lieben und die gemeinsam durchs Leben gehen wollen. 
Völlige Einigkeit zwischen Menschen
kann und wird es niemals geben, nicht einmal zwischen zweien.

Gott kennt seine Menschen.
Und behält einen kühlen Kopf.
Gott schützt die Menschen vor sich selbst,
indem er die Wirklichkeit ins Spiel bringt.
Gott macht die Unterschiede, die es immer schon gab,
hörbar und spürbar:
Nicht alle sprechen die gleiche Sprache,
nicht alle träumen den gleichen Traum,
nicht alle arbeiten am gleichen Projekt,
die Menschen sind verschieden – Gott sei Dank!

Verklungen das Lied „alle Menschen werden Brüder“?
Aus der Traum von der weltumspannenden Einigkeit und Brüderlichkeit? -
Und das ausgerechnet an Pfingsten,
dem Fest des einen, des einenden Heiligen Geistes?
Des Geistes, der alle eins sein lässt,
egal, wer wir sind und woher wir kommen,
egal, welche Sprache wir sprechen?
Ist Pfingsten nicht die große Gegengeschichte zur Sprachverwirrung von Babel?

Nein und Ja.
Pfingsten ist nicht die große Gegengeschichte zu Babel,
weil auch in der Pfingstgeschichte
die Differenzen nicht einfach aufgehoben werden:
Sie fingen an zu predigen in anderen Sprachen“
und „Jeder hörte die Apostel in seiner eigenen Sprache reden“. 
Auch wenn der Heilige Geist über die Menschen ausgegossen wird – 
die gleiche Sprache sprechen sie noch lange nicht.
Im Gegenteil: Die Vielfalt bleibt erhalten –
ja, es kommen noch Sprachen hinzu:
Das Reden in Zungen, in unverständlichem Lallen und Brabbeln, das der Heilige Geist verleiht.

Die Unterschiede der Sprachen und Kulturen,
die Individualität der Menschen bleibt erhalten.
Und damit wird deutlich:
Der Mensch wird nicht etwas durch die Gruppe, zu der er gehört. 
Größe erlangt der Mensch nicht durch Zugehörigkeit oder Abstammung.
Der Satz „ich bin stolz, Deutscher zu sein“,
will wieder an Babel anknüpfen.
Aber der Turm zu Babel ist längst zu Staub zerfallen.
Nur der Name, den die Menschen sich damit machen wollten,
ist geblieben:
Daher heißt ihr Name Babel, weil Gott dort die Sprache der Welt verwirrt hat und sie von dort zerstreut hat über die ganze Welt.“
Babel steht für das gescheiterte Projekt
einer verordneten Brüderlichkeit,
eines gemeinsamen Ziels, dem sich alle unterordnen,
damit sie so eins und einig werden.

Und zugleich schreibt Babel die Verschiedenheit fest – Verschiedenheit:
die Basis unseres Reichtums an Gaben und Fähigkeiten,
die Basis unserer Schönheit.
Der Mensch ist nicht etwas durch die Gruppe, zu der er gehört. 
Der Mensch ist etwas, weil er Gott gehört.
Weil Gott ihn in einmaliger Schönheit und Besonderheit geschaffen und ins Leben gerufen hat,
und weil wir das von unserer Mutter Eva
und unserem Vater Adam geerbt haben:
Die Individualität, die Verschiedenheit,
die immer andere Sprache, die jede und jeder von uns spricht – 
auch wenn wir scheinbar alle die gleiche Sprache sprechen.

Und doch ist Pfingsten auch eine Gegengeschichte zu Babel.
Denn die Pfingstgeschichte zeigt,
dass Verschiedenheit nicht in die Zerstreuung führen muss, 
sondern dass auch Verschiedenheit eine Gemeinschaft begründen kann.
Die Unterschiede zwischen uns Menschen bleiben,
sie werden von Pfingsten nicht aufgehoben –
und dennoch ist Verständigung möglich.
Bezogen auf eine Mitte, bezogen auf Christus
müssen Unterschiede nicht aufgehoben,
sondern können ausgehalten werden.
Die ersehnte Einheit und Harmonie
kann nicht durch noch so fantastische Projekte erarbeitet,
nicht durch noch so fanatischen Glauben erzwungen werden.
Die Einheit ist eine geschenkte Einheit.
Eine Einheit in der Vielfalt.
Hergestellt nicht durch uns Menschen,
sondern durch den, der uns annimmt
und unsere Mitte ist und uns alle eins sein lässt:
durch Christus und seinen Heiligen Geist.

Amen.