Donnerstag, 2. Juni 2016

Der Traum von der Aufhebung der Unterscheidungen

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juni 2016, über Epheser 2,17-22:

17 Christus ist gekommen und hat Frieden verkündigt euch, den Fernen, und Frieden den Nahen.
18 Denn durch ihn haben wir beide in einem Geist Zugang zum Vater.
19 Also seid ihr nicht mehr Fremde und Beisassen, 
sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Gottes Mitbewohner,
20 erbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, 
dessen Eckstein Christus Jesus ist,
21 durch den der ganze Bau zusammengeführt wird 
und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn,
22 durch den auch ihr zusammengebaut werdet zu einer Wohnung Gottes im Geist.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

wo Menschen zusammenwohnen, geht es nicht immer friedlich zu. Wer als Soldat in der Kaserne, als Azubi im Wohnheim oder als Studentin in einer WG gewohnt hat; wer zur Untermiete oder in einem Mietshaus wohnte oder wohnt, kennt das und kann ein Lied davon singen. Unterschiedliche Lebensgewohnheiten und -rhythmen zusammenzubringen, kann so anstrengend sein! Da übt der eine Klavier, wenn die Nachbarin von der Nachtschicht nach Hause kommt und schlafen will. Da feiert die andere eine wilde Party, doch der Nachbar hat morgen früh einen wichtigen Termin. Da muss die dritte für eine Prüfung lernen, während der Nachbar auf seinem Recht besteht, laut Musik zu hören. Und in der vierten Familie ist der kleine Schreihals nach stundenlangem Weinen endlich eingeschlafen, da wirft der Nachbar den Rasenmäher an …

Es grenzt an ein Wunder, dass das Zusammenleben unter einem Dach überhaupt funktioniert, wo es so viele Gelegenheiten gibt, sich in die Haare zu kriegen: Wer mit der Hauswoche oder dem Müll dran ist; dass der Hund sein Geschäft nicht im Garten verrichten darf; wo Fahrräder oder Kinderwagen abzustellen sind; wie man den Müll trennt; wer den Parkplatz benutzen darf.
Ohne Humor, ohne Gutmütigkeit und Geduld kann das Zusammenleben nicht funktionieren. Wo sie fehlen: Wo, statt die Dinge mit Humor zu nehmen, Haare gespalten werden; wo man über jeden Fehler Buch führt und jede Kleinigkeit aufrechnet, statt mal ein Auge zuzudrücken; wo sofort kritisiert wird, statt geduldig zu sein, kommt es schnell zum Streit, der manchmal sogar in einen Kleinkrieg ausartet.

I
Wo mehrere Parteien unter einem Dach wohnen, gibt es Krach - das ist im großen Haus Europa nicht anders als im Mietshaus. Besonders in jüngster Zeit, seit viele Flüchtlinge sich vor den Toren unseres gemeinsamen europäischen Hauses drängen und um Aufnahme und einen Platz zum Leben bitten. Viele können sich nicht vorstellen, mit diesen Fremden zusammenzuleben, manche weigern sich von vornherein, solche Leute, die anders reden, anders aussehen, sich anders kleiden als wir, zu Nachbarn zu haben. Wie vehement und brutal sie dieser Weigerung Ausdruck geben, haben wir oft in den Nachrichten sehen müssen. Dazu gehören auch Aussagen wie die, dass man den Fußballer Jerome Boateng nicht zum Nachbarn haben will. Er ist, wohlgemerkt, Deutscher. Aber er hat eine dunkle Haut, und das scheint hier den Ausschlag zu geben. Leute, die andere Menschen aufgrund eines äußeren Merkmals abwerten, wie z.B. der Hautfarbe, nennt man übrigens Rassisten. Aber es ist nicht nur die Hautfarbe, die manchen nicht passt. Andere, Männer vor allem, meinen, dass es Berufe und Ämter gibt, die Frauen nicht zustehen; solche Leute nennt man Chauvinisten. Wieder andere haben eine Abneigung gegen eine bestimmte Religion, z.B. das Judentum, das ist der Antisemitismus, oder gegen die Herkunft aus einem bestimmten Land, was man ebenfalls Chauvinismus nennt.

Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus sind die schlimmen Auswüchse einer Haltung, die niemandem von uns fremd ist: Wir machen Unterschiede.
Wir unterscheiden zwischen „uns“ und „denen“, zwischen denen, die dazugehören, den „Nahen“, und denen, die außen vor bleiben, den „Fernen“. Aber es genügt uns nicht, diesen Unterschied zu treffen. Wir müssen auch die abwerten, die wir nicht zu uns zählen.
Erst wird unterschieden, und die Menschen werden in Gruppen eingeteilt: „wir“ und „die“.
Dann wird die andere Gruppe verächtlich gemacht, abgewertet, diskriminiert, verteufelt und verfolgt.
Und dann gibt es Krieg.
Manche erinnern sich vielleicht noch an den Bürgerkrieg zwischen englischen Protestanten und irischen Katholiken in Nordirland; an das Massaker der Hutu an den Tutsi in Ruanda; an die Ermordung tausender bosnischer Muslime durch serbische Soldaten in Srebrenicza.
Am Donnerstag hat der Bundestag beschlossen, die Vernichtung der armenischen Christen durch die Türken als das zu bezeichnen, was es war: ein Völkermord. Es war nicht der erste Völkermord der jüngeren Geschichte. Der wurde 1904 von den Deutschen am Volk der Herero in Namibia begangen.

II
„Christus hat Frieden verkündigt euch, den Fernen, und Frieden den Nahen“. Vor fast 2.000 Jahren wurde dieser Satz aufgeschrieben. Seitdem sind aus dieser Unterscheidung zwischen „Fernen“ und „Nahen“ ungezählte Konflikte, Kriege, Verfolgungen und Völkermorde hervorgegangen, und es hat nicht den Anschein, als wäre ein Ende des Mordens in Sicht. Bis heute dient diese Unterscheidung als Vorwand dazu, einander zu hassen, zu vertreiben, die Köpfe einzuschlagen.

Wir stehen wie unter Zwang, wir können nicht anders, als die Menschen, mit denen wir zu tun haben, einzuteilen in Nahe und Ferne, Freunde und Feinde, Gute und Böse, Einheimische und Fremde. Die Macht, die dieser Zwang zur Unterscheidung auf uns und andere ausübt, ist so groß, dass der Frieden, den Jesus verkündigte, bis heute ungehört verhallte. Die wenigen, die das Wort Jesu vom Frieden aufnahmen und weitersagten, wurden selbst zu Opfern der Gewalt, wie Dr. Martin Luther King, der einst träumte, dass seine dunkelhäutigen Kinder eines Tages selbstverständlich mit weißen Kindern zusammen spielen würden.

Warum muss dieser Friede zwischen den Nahen und Fernen bis heute ein Traum bleiben?
Woher überhaupt der Zwang, zwischen „uns“ und „denen“ zu unterscheiden, zwischen „Nahen“ und „Fernen“?
Vielleicht handelt es sich dabei um ein Relikt aus den Zeiten, als wir noch auf den Bäumen hockten. Tiere leben in Gruppen, Rudeln oder Schwärmen. Und sie verteidigen ihr Revier, ihre Lebensgrundlagen gegen andere Artgenossen, die sie ihnen streitig machen wollen. Vielleicht ist unsere Aggression gegen die Fremden also einfach nur Futterneid: die Angst, man könne zu kurz kommen, wenn man etwas abgeben und teilen muss.

III
Wir hocken nicht mehr auf den Bäumen, zum Glück sind wir „zivilisiert“. Aber wie man an den brennenden Asylbewerberheimen und den wutverzerrten Gesichtern der PEGIDA-Demonstranten sieht, ist die Zivilsation nur ein dünner Lack. Von gewissenlosen Demagogen aufgestachelt und in der Masse Gleichgesinnter geht die Menschlichkeit verloren.

„Christus hat Frieden verkündigt euch, den Fernen, und Frieden den Nahen“. Jesu Botschaft vom Frieden ist so ganz anders als das, was man auf den Transparenten der PEGIDA-Demos lesen und was man in den Reden der AfD-Politiker hören muss. Das Evangelium wurde nicht herausgebrüllt. Die gute Nachricht diente nicht dazu, Menschen gegen andere Menschen aufzuhetzen. Und die Predigerinnen und Prediger des Evangeliums waren und sind keine Über- und Herrenmenschen, als die sich die Demagogen gern gerieren. Paulus hatte Schwächen, er war kränklich, und er war kein großer Redner.
Das Evangelium wird von Leuten verkündigt, die eher dem glimmenden Docht gleichen, der dennoch nicht verlischt, und dem geknickten Rohr, das gerade eben noch nicht zerbricht.
Auf diese Weise kann sich das Wort vom Frieden kaum Gehör verschaffen. Wie soll es sich durchsetzen, wenn es von solchen Leuten und in so leisem Ton vorgetragen wird? Man muss schon sehr gutwillig sein - humorvoll, gutmütig und geduldig -, um es überhaupt wahrzunehmen.

IV
Woher soll dieser gute Wille kommen? Oder, anders gefragt, warum soll man sich diese Mühe machen, dem Frieden Christi Gehör zu schenken, wenn uns das Trennen und Unterscheiden, das Hassen, Neiden und Ausgrenzen so viel näher sind, so viel leichter fallen? Warum strengen wir uns so an, die Menschlichkeit zu bewahren? Soll der Stärkere sich doch durchsetzen. Wer zu schwach ist, wer nicht für sich selbst sorgen, sich nicht wehren kann, der muss eben auf der Strecke bleiben …

Wer die Geschichte kennt, weiß, zu welch unmenschlichen Gräueltaten Menschen fähig sind. Aber dem Terroristen mit der Bombe, dem Hooligan mit dem Baseballschläger ist die Geschichte egal. Sie wollen unmenschlich sein, sie wollen, dass man sie fürchtet. Unsere Angst macht ihnen Freude, gibt ihnen Kraft, stachelt sie an.

Die Zivilisation ist nur ein dünner Lack. Man kann niemanden von Menschlichkeit, Barmherzigkeit oder Vergebung überzeugen, der nichts davon wissen will. Den Frieden, den Jesus verkündigt, finden nur wenige erstrebenswert, denn er bedeutet ein gemeinsames Wohnen der Fernen und Nahen unter einem Dach, ein Aufheben der Unterscheidungen und Trennungen zwischen „uns“ und „denen“. Deshalb kann man diesen Frieden nicht machen, man kann ihn nur verkündigen, daran glauben und darum beten.

An diesen Frieden zu glauben bedeutet, dass man ergriffen wird von dem Bild, das der Predigttext zeichnet: Das Bild vom heiligen Tempel des Herrn, dessen Steine wir alle miteinander sind, gebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, verbunden durch Christus, den Eckstein.

An diesen Frieden zu glauben bedeutet, dass man von der Wahrheit und Schönheit dieses Bildes berührt wird und dass man mitbauen möchte an dieser Wohnung Gottes im Geist.

So, wie man die Schönheit einer Melodie, eines Bildes, einer Rose nicht erklären kann, sondern von ihr ergriffen wird oder nicht, so ist es auch mit diesem Bild von der Wohnung Gottes: Es ist fast schon ein Wunder und ein großes Glück, wenn es uns berührt.

Es ist fast schon ein Wunder und ein großes Glück, wenn wir einstimmen in die Worte, dass es schön und lieblich ist, wenn Geschwister einträchtig beieinander wohnen.

Es ist fast schon ein Wunder und ein großes Glück, wenn wir erkennen, dass alle Menschen Geschwister sind: Kinder des einen Vaters im Himmel, Schwestern und Brüder Jesu.

Gebe Gott, dass dieses Wunder des Glaubens unter uns geschieht. Dass wir die leise Botschaft vom Frieden hören und ihn mitträumen, den Traum vom gemeinsamen Haus - in unserem Alltag, in unserer Heimat Europa und in der Kirche.

Amen.