Freitag, 24. Juni 2016

Buße als Lebenshaltung

Leonardo da Vinci [Public domain], via Wikimedia Commons

Liedpredigt am Johannistag, 24. Juni 2016, über EG 141 "Wir wollen singen ein Lobgesang"

Liebe Schwestern und Brüder,

die Reformation hat die Heiligenverehrung abgeschafft. 
Trotzdem feiern wir heute den Geburtstag Johannes des Täufers. Wie geht das zusammen?
Nun, wir denken an Johannes nicht als einen Heiligen. 
Wir erwarten keine Hilfe und kein Wunder von ihm, 
und wir möchten auch nicht, dass er bei Gott ein gutes Wort für uns einlegt.

Wir denken an Johannes den Täufer als einen Vorläufer und Wegbereiten. Darum feiern wir heute seinen Geburtstag: Weil er das Kommen Christi angekündigt und durch seinen Ruf zur Buße vorbereitet hat. 
So beschreibt es das Lied zum Johannistag, das ich mit Ihnen singen und bedenken möchte. 
1. Wir wollen sing'n ein' Lobgesang Christo dem Herrn zu Preis und Dank, der Sankt Johann vorausgesandt, durch ihn sein' Ankunft macht bekannt.

I
„Wir wollen sing'n ein' Lobgesang“.
Wollen wir das eigentlich wirklich?
Ist Ihnen schon aufgefallen, dass viele Gesangbuchlieder uns ohne zu fragen, heimlich, still und leise etwas unterjubeln? „Wir wollen alle fröhlich sein …“; „Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen …“; „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“, um nur einige Beispiele zu nennen. Ganz schön dreist, diese Lieder: uns einfach Worte in den Mund zu legen, ohne zu fragen, ob uns das überhaupt recht ist, ob uns überhaupt nach Fröhlichkeit ist … 

Es geht ja aber auch einfach zu schnell: 
Bevor wir darüber nachdenken können, was wir da eigentlich singen, singen wir es bereits, und dann - - - 
ja, dann passiert etwas eigenartiges: 
Wir werden fröhlich. 
Wir loben Gott aus vollem Herzen. 
Wir lieben Gott. 
Wovon die Lieder singen, passiert, wenn wir ihre Worte in den Mund nehmen und aussprechen. 
Wir singen sie uns vor, und wir singen sie uns gegenseitig zu. 
Wir singen uns Mut und Trost zu, Freude oder Glauben, - 
auch, wenn wir uns selbst gerade nicht mutig oder fröhlich fühlen, 
wenn wir selbst Trost oder Glauben suchen. 
Durch den Umweg über das Singen kommen Mut und Trost, Freude und Glaube auch zu uns.

Die Lieder legen uns Worte in den Mund, und wir sprechen sie nach - so, wie man Vokabeln vor sich hinmurmelt, um sie auswendig zu lernen. 
Eins dieser Worte, die wir uns auf diese Weise aneignen, lautet: 
Christus hat Johannes vorausgesandt.
Das ist ja nun nicht besonders toll - nichts, was man sich ins Poesiealbum schreibt; keine Lebensweisheit, die man sich merkt und beherzigt.
Christus hat Johannes vorausgesandt - das ist, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig und bedeutungslos.

Aber in der Reformationszeit, in der dieses Lied gedichtet wurde, ließ dieser Satz keinen Zweifel aufkommen, woher der Wind weht: 
Johannes wird nicht verehrt, weil er ein „Heiliger“ ist. 
Sondern weil Jesus ihn gesandt hat, darum denken wir heute an Johannes den Täufer. 
„Solus Christus“, sagten die Reformatoren dazu, allein Christus soll der Maßstab sein. 
Wir sollen uns nicht nach den Heiligen richten - so vorbildlich ihr Leben gewesen sein mag.
Das klingt nach theologischer Spitzfindigkeit, das hat doch mit unserem Alltag nichts zu tun. 
Aber manchmal kommt es eben auf solch kleine, unscheinbare Details an: 

In der Zeit des Nationalsozialismus z.B. gab es nicht wenige Menschen, die in Adolf Hitler eine Art „Messias“ sahen, die ihm blind vertrauten und wahre Wunder von ihm erwarteten - und die hinterher erkennen mussten, dass sie einem skrupellosen Verbrecher und Massenmörder gefolgt waren. 
Hätte man sich damals daran gehalten, dass nur Christus beanspruchen kann, unser „Führer“ zu sein - solus Christus, eben -, wäre man vielleicht nicht so leicht auf den Verführer Hitler hereingefallen.

Natürlich, hinterher ist man immer schlauer. 
Zum Glück sind wir heute klüger, weil wir aus der Geschichte gelernt haben. 

Weit gefehlt! Noch heute laufen Menschen in Massen einem „Führer“ hinterher, wenn er nur überzeugend genug behauptet zu wissen, wo's langgeht - man schaue nur hinüber in die USA, wo der verrückte Demagoge Donald Trump so viele Anhänger um sich sammelt, dass ihm Chancen auf die Präsidentschaft eingeräumt werden.

Das Lied über den Täufer Johannes gibt uns schon in der ersten Strophe viel zu denken. 
Wer über seinen Text nachdenkt, den warnt es davor, den falschen Führern nachzulaufen. 
Mal sehen, was die nächste Strophe so zu bieten hat:
2. Die Buß' er predigt in der Wüst': „Euer Leben ihr bessern müsst, das Himmelreich kommt jetzt herbei, tut rechte Buß' ohn' Heuchelei!“

II
Die zweite Strophe zitiert, was die Evangelien als Botschaft Johannes des Täufers überliefern: 
„Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“
Das Wort „Buße“ umschreibt das Lied so: 
„Euer Leben ihr bessern müsst“.

„Euer Leben ihr bessern müsst“ - wenn wir uns das so zusingen, dann sagen wir uns ja eigentlich gegenseitig: 
Dein Leben ist nicht in Ordnung ist so, wie es ist. 
Da kommt man ins Grübeln: 
Haben wir das Recht, uns das gegenseitig vorzuhalten? 
Ist unser Leben etwa nicht in Ordnung?
Wenn ich mir mein Leben so ansehe: 
Als braver Bürger zahle ich meine Steuern, lasse mir nichts zuschulden kommen, fahre höchstens mal ein bisschen schneller als erlaubt. 
Was sollte an meinem Leben nicht in Ordnung sein?

Das Lied benennt es: „Tut rechte Buß' ohn' Heuchelei“.
Sollten wir etwa alle Scheinheilige sein?
Jesus kritisierte, dass einige sich und ihren Glauben für etwas Besonderes hielten; dass sie ihr Fasten oder ihre Spendenbereitschaft besonders zur Schau stellten, oder lautstark und wortreich beteten, kurz: dass sie sich in Glaubensdingen wie der portugiesische Fußballer Ronaldo verhielten.
Aber so sind wir doch nicht!? 
Uns könnte man eher vorwerfen, dass wir in Glaubensdingen zu zurückhaltend sind. Dass wir oft einen Bogen um die Kirche machen und froh sind, wenn man uns nicht ansieht, dass wir Christen sind.
Aber auch das ist ja keine Heuchelei.

Heuchelei ist es z.B., wenn unsere Regierung mit anderen Ländern Verträge schließt, damit Flüchtlinge gar nicht erst zu uns durchkommen. 
Heuchelei ist es z.B., auf's Christentum zu pochen, aber sich mit dem Nachbarn nicht versöhnen zu wollen. 
Heuchelei ist es z.B., wenn man sagt: „Ich kann ja doch nichts ändern“ und dabei denkt: Darum mache ich fröhlich weiter wie bisher - alle anderen machen's ja auch.
Heuchelei ist es z.B., wenn man gegen Kinderarbeit und Gentechnik ist, aber die Kleidung und das Gemüse schön billig sein sollen.

Diese Art Heuchelei meint Johannes, und wir müssen uns von ihm fragen lassen, ob wir uns so, wie wir leben, wirklich nichts vorzuwerfen haben. Ob es wirklich nichts gibt, was wir bedauern und ändern sollten.

3. Man fragt ihn, ob er Christus wär. „Ich bin's nicht, bald wird kommen er, der lang vor mir gewesen ist, der Welt Heiland, der wahre Christ.“
4. Er zeigt' ihn mit dem Finger an, sprach: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das trägt die Sünd' der ganzen Welt, sein Opfer Gott allein gefällt.
5. Ich bin viel zu gering dazu, dass ich auflösen sollt' sein' Schuh'; taufen wird er mit Feu'r und Geist, wahrer Sohn Gotts er ist und heißt.“

III
In den drei Strophen, die wir gerade sangen, weist Johannes sehr nachrücklich auf Christus hin. Man kann das schön auf der Darstellung des Johannes von Leonardo da Vinci sehen, wie Johannes auf das Kreuz an der Spitze seines Stabes zeigt und unsere Blicke darauf lenkt. 

Das Kreuz ist ein Symbol für das, was Jesus für uns tat: 
Jesus hat sich stellvertretend für uns wegen einer Schuld hinrichten lassen, die er nicht beging. 
Er hat sich als Unschuldiger zum Sündenbock machen lassen, damit wir niemandem mehr die Schuld in die Schuhe schieben müssen. 
Er hat uns damit gezeigt, dass man auch ohne Schuldzuweisung und Sündenböcke leben kann.

Aber mit den Sündenböcken ist es wie mit den Führern: 
Wie wir nur allzu gern einem starken Mann folgen, so machen wir auch nur allzu gern andere verantwortlich, wenn etwas schief läuft. 
Und meistens sind es die, die „anders“ sind: 
die Schwachen, die „Unnormalen“, die Fremden, 
die zu Sündenböcken werden. 
Wer ist schuld an der Arbeitslosigkeit, an der schlechten Altersversorgung, an der unsicheren Zukunft? 
Natürlich die Ausländer! 
Früher waren es die Juden, 
heute sind es Muslime oder Flüchtlinge, 
die zuerst ins Visier geraten, wenn man nach einem Schuldigen sucht.
Auch das ist ein Grund zur Buße: Dass wir immer wieder Menschen zu Sündenböcken machen.

Johannes der Täufer zeigt auf das Kreuz, das zum Hoffnungszeichen wurde.
Jesus hat durch seinen Tod an diesem Kreuz nicht nur den Sündenbockmechanismus ausgehebelt.
Er hat auch die Mechanismen von Schuld und Sühne ausgehebelt: 
Wir sind nicht mehr „schuld“ am Elend dieser Welt, 
nicht mehr „schuld“ an unserem Verhältnis zum Nachbarn, 
zur Partnerin oder zum Partner, zu den Kindern. 
Wir sind verantwortlich dafür: 
Es liegt an uns, dieses Verhältnis zu gestalten. 
Aber dafür ist es gleichgültig, 
was wir früher taten oder nicht taten. 
Was allein zählt ist, was wir jetzt tun: 
Was machen wir in diesem Augenblick? 
Was machen wir aus diesem Augenblick? 
Ergreifen wir die Gelegenheit, oder lassen wir sie verstreichen?
Es ist nicht leicht, in solchen Momenten die richtige Entscheidung zu treffen. Vielleicht kann uns die letzte Strophe des Liedes dabei helfen:
6. Wir danken dir, Herr Jesu Christ, des' Vorläufer Johannes ist; hilf, dass wir folgen seiner Lehr', so tun wir dir die rechte Ehr'.

IV
In der letzten Strophe des Liedes bitten wir wie in einem Gebet: „Hilf, dass wir folgen seiner Lehr'“.
Was lehrte Johannes? „Tut Buße“.
Martin Luthers 95 Thesen, mit denen er den Anstoß zur Reformation gab, fragen danach, was „rechte Buße“ ist. 
So lautet die erste der 95 Thesen:
„1. Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße (Matthäus 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“
Buße kann man sich nicht erkaufen; sie muss zu einer Lebenshaltung werden: Das ganze Leben soll Buße sein. 
Nicht, weil wir alle so schlechte Menschen sind. 
Sondern weil wir nun einmal alle Menschen sind, die manchmal sehr unmenschlich sein können. 
Darum verlangt Luther:
„42. Man muss die Christen lehren: Es ist nicht die Meinung des Papstes, dass der Kauf von Ablass in irgendeiner Hinsicht den Werken der Barmherzigkeit gleichzustellen sei.
43. Man muss die Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen“.
Buße kann man nicht kaufen.
Es ist auch keine Buße, wenn man sich ständig schlecht und als Sünder fühlt.
Buße ist eine Lebenshaltung: 
Buße heißt, man braucht nicht mehr an sich zu denken, 
weil man nicht mehr „schuld“ ist - das Schuld sein hat Christus für uns übernommen.
Buße heißt, man braucht nicht mehr an sich zu denken, 
weil man Angst hat, zu kurz zu kommen - die Fülle des Lebens, den Sinn unseres Lebens hat Christus uns längst geschenkt.

Darum bedeutet Buße als Lebenshaltung: barmherzig sein.
Das Wort „barmherzig“ kommt von „warmherzig“.
Das warme Herz ist das Gegenteil des kalten Herzens, des steinernen Herzens.
Warum ist Barmherzigkeit Buße?

Weil man erst einmal lernen muss, mit sich selbst barmherzig zu sein:
Sich seine Fehler und Schwächen zu vergeben und sich anzunehmen, wie man nun einmal ist - mit genau dem Körper, den man hat, mit seiner Vergangenheit, mit all den Fehlern, die man machte, 
den falschen Entscheidungen und verpassten Gelegenheiten. 
Nur, wer lernt, zu sich selbst barmherzig zu sein, kann auch mit anderen barmherzig sein.
Das ist die Buße, die Johannes der Täufer predigt und die Gott gefällt.
Amen.