Samstag, 25. Juni 2016

Paradoxa

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2016, über 1.Korinther 1,18-25:

18 Die Rede vom Kreuz erscheint den Verlorenen als Dummheit. Für uns aber, die Geretteten, als Gotteskraft.
19 Denn es steht geschrieben:
„Vernichten will ich die Weiheit der Weisen,
und das Verständnis der Verständigen zunichte machen“ 

(Jesaja 29,14).
20 Wo ist ein Weiser?
Wo ist ein Schriftkundiger?
Wo ist ein Redegwandter dieser Welt?
Hat Gott die Weisheit der Welt nicht als Torheit erwiesen?
21 Denn weil die Welt, obwohl sie von Gottes Weisheit umgeben war, Gott durch Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Verkündigung die zu retten, die glauben.
22 Denn die Frommen fordern Zeichen, die Skeptiker suchen Weisheit,
23 wir aber verkündigen den gekreuzigten Messias, für die Juden ein Skandal, für die Ungläubigen Blödsinn,
24 für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, ist Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit.
25 Denn das scheinbar Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das scheinbar Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.
(Eigene Übersetzung) 

Liebe Schwestern und Brüder,

„das scheinbar Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das scheinbar Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“.
Dieser Satz ist ein klassisches Paradox, ein Satz, der im Widerspruch zu unseren Erwartungen und Erfahrungen steht: 
Törichtes kann nicht weise sein, 
und Schwäche kann keine Stärke sein.

Vielleicht kennen Sie das verrückte Gedicht:
„Dunkel war's, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur,
als ein Wagen blitzeschnelle
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschossner Hase
auf dem Sandberg Schlittschuh lief.“
Jeder einzelne Satz dieses Gedichtes ist ein Paradox: 
Es ist dunkel, aber der Mond scheint hell;
alles ist weiß von Schnee, aber zugleich ist es grün, usw.
Solche Widersprüche sind schwer auszuhalten; man versucht, sie sich irgendwie zu erklären. Selbst, wenn sie, wie bei diesem Gedicht, ausgesprochener Blödsinn sind.

I
Ausgesprochener Blödsinn ist für viele auch „die Rede vom Kreuz“ - das, was die Evangelien über Tod und Auferstehung Jesu berichten, und was beide für uns bedeuten sollen.
Wohl jede und jeder hat sich darum gemüht oder müht sich noch, das in der Schule gelernte Wissen darüber, wie diese Welt funktioniert, mit dem in Einklang zu bringen, was die Bibel erzählt. Es geht nicht. Das, was die Geschichten des Glaubens erzählen, ist wider alle Vernunft. In unserer Welt kann niemand Tote lebendig machen, über's Wasser gehen, einen Sturm durch Worte stillen, Blinde mit Spucke sehend machen und nach drei Tagen im Grab auferstehen.

Wie bei allen Paradoxa gab es auch bei den biblischen Geschichten unzählige Versuche, sie zu erklären, sie irgendwie mit unserer Wirklichkeit zu versöhnen. Diese in bester Absicht unternommenen Versuche, die Wunder zu erklären, den Glauben mit Argumenten gegen Skeptiker und Lästerer zu verteidigen, verfehlten auf tragische Weise ihr Ziel. Die Wunder wollen nämlich garnicht erklärt werden. Sie wollen Wunder sein und als solche verstanden werden, weil der Glaube in einem wunderbar paradoxen Verhältnis zu unserer Wirklichkeit steht.

II
Im Gegensatz zu den Skeptikern, die versuchen, das Paradox zwischen Glaube und Wirklichkeit wegzuerklären, gehen die Frommen den entgegengesetzten Weg der Unterwerfung unter das Paradox: Gottes Macht und Gottes Geheimnis, sagen sie, seien zu groß, als dass wir kleinen Menschlein es ergründen und verstehen könnten - im Gegenteil: Schon der Versuch ist eine Anmaßung und ein Zeichen mangelnden Glaubens. Wir können und dürfen nicht wissen, wir sollen glauben - das zeichnet wahre Frömmigkeit aus. Früher nannte man das ein „sacrificium intellectus“, ein Opfer des Verstandes. Tatsächlich muss man, um all die Geschichten der Bibel wörtlich verstehen und glauben zu können, sein Gehirn an der Garderobe abgegeben haben.

Aber auch diese, nach eigenem Verständnis wahrhaft fromme Haltung verfehlt ihr Ziel in tragischer Weise. Denn auch das wollen die biblischen Geschichten nicht: für bare Münze genommen zu werden. Sie sind immer schon als Geschichten erzählt und gehört worden. 
Einer Geschichte kommt es nicht darauf an, genau und wahrheitsgemäß zu berichten, was passiert ist. Eine Geschichte will eine Wahrheit vermitteln, die jenseits des und über dem Erzählten liegt. Eine Wahrheit, die sich beim Hören erschließt und unmittelbar einleuchtet, wenn man sich auf die Geschichte einlassen kann.

III
Trotzdem wollen wir natürlich verstehen. 
Wenn die Paradoxa der biblischen Geschichten so sinnlos wären wie in dem Gedicht die sitzend stehenden Fahrgäste und der schlittschuhlaufende Hase, dann gäbe es keine Wahrheit zu entdecken. Wenn aber, wie wir glauben, die biblischen Geschichten nicht sinnlos sind, sondern eine Wahrheit enthalten, dann müssen wir überlegen, wie sich die Widersprüche auflösen lassen.

Dabei stellen wir fest: Die Widersprüche der biblischen Geschichten sind notwendig. 
Sie sind notwendig, weil der Glaube immer und immer schon im Widerspruch zur Welt steht. Denn die Welt befindet sich im Gegensatz zu Gott; es gehört zu ihrem und unserem Wesen, dass sie Gott widerspricht.

Es macht unser Menschsein aus, dass jede und jeder seinen eigenen Kopf und Willen hat - schon als Kind versucht man, ihn durchzusetzen. Diesen Willen darf man niemals brechen wollen - er macht uns zu denen, die wir sind. Aber er widerspricht eben immer auch dem, was Gott für uns und für seine Welt will. 
Glaube stellt den Versuch dar, diesen Widerspruch zwischen Gott und Welt zu überwinden.

Aus eigener Kraft können wir das nicht. Auch darum sind die Widersprüche in den Geschichten der Bibel notwendig: Sie wahren das Geheimnis Gottes und verhindern, dass wir über Gott verfügen. Das Paradox reißt einen garstigen Graben auf zwischen Gott und der Welt; einen Graben, den wir nicht überspringen können.

IV
Wenn hier unsere Welt und dort Gott ist, und beide vom garstigen Graben der Paradoxa getrennt sind - wie können wir dann überhaupt glauben?
Die Menschwerdung Gottes hat die Widersprüche aufgelöst.
Indem Gott einer von uns wurde, hat er von sich aus den garstigen Graben übersprungen, der uns von ihm trennt.

Hören wir noch einmal den letzten Satz des Predigttextes:
„Das scheinbar Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das scheinbar Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“.
Im Satz davon bezeichnet Paulus Jesus als „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“.
Auch dieser Satz ist ein Paradox. Ein Mensch, der hilflos den erbärmlichen Tod am Kreuz stirbt, ist alles andere als ein Zeichen von Kraft. Und die wunderlichen Reden Jesu, dass, wer seinen Mitmenschen beschimpft, sich des Mordes schuldig macht, und wer als Mann eine Frau auch nur ansieht, schon Ehebruch begangen hat, sind alles andere als ein Zeichen von Weisheit.

Wenn Paulus aber betont, dass gerade darin Gottes Kraft und Weisheit liegen, hat er offenbar ein ganz anderes Verständnis von Kraft und Weisheit als wir.

V
Wenn Jesu Tod am Kreuz ein Zeichen von Stärke sein soll, was für eine Art Stärke kann das sein?

Als die Inder unter der Führung von Mahatma Gandhi um ihre Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren kämpften, zwang Gandhi sie zum Verzicht auf jegliche Gewalt. Sooft dieses Prinzip durchbrochen wurde, bestrafte Gandhi sich und seine Anhänger, indem er so lange fastete, bis die Demonstranten zur Gewaltlosigkeit zurückkehrten. Das kostete ihn einmal fast das Leben.
Unzählige Demonstranten wurden von britischen Soldaten brutal niedergeknüppelt, schwer verletzt, sogar getötet, aber niemand wehrte sich. Diese konsequente Gewaltlosigkeit isolierte die Briten international immer mehr, so dass sie schließlich den Indern die Unabhängigkeit gewähren mussten.

Jesus starb am Kreuz, um damit der Liebe zum Sieg zu helfen und sie, wie Gandhi die Gewaltlosigkeit, zu unserer einzigen, mächtigsten Waffe zu machen. Nach weltlichen Maßstäben ist er damit gescheitert. Doch nach den Maßstäben des Glaubens hat Jesus mit seiner Auferstehung bewiesen, dass die Liebe mächtiger ist als der Tod, und damit die stärkste Macht auf Erden. Deshalb ist das scheinbar Schwache an Gott, seine grenzenlose, unbedingte Liebe, stärker als die Menschen. Denn die Liebe, die der Gewalt, dem Hass, der Feindschaft unterliegt, überlebt und triumphiert doch am Ende über sie.
Ebenso verhält es sich mit der Torheit:
Indem die Liebe über alle Vernunft gestellt wird, erweist sich das scheinbar Törichte an Gott als weiser als die Menschen, die mit ihrem berechnenden Wesen die Welt nicht schöner und die Menschen nicht besser machen, sondern Leben und Umwelt zerstören.

VI
Es gibt noch einen Grund, warum die biblischen Geschichten unserer Wirklichkeit widersprechen: Sie verweigern sich auf diese Weise unserem berechnenden Denken.
Mit den biblischen Geschichten ist es wie mit Romanen oder Märchen, wie mit allen guten Geschichten: Man muss hineinspringen, sich von ihnen fesseln lassen, um ihre Wahrheit zu erfahren. Dazu muss man zunächst einmal die Widersprüche geduldig aushalten, bis sie sich von selbst auflösen.
Dass die Geschichten der Bibel uns ansprechen und einleuchten, kann man nicht „machen“ und nicht erzwingen. 
Man kann nur hoffen, dass wir den Schritt, den Gott über den garstigen Graben machte, als einen Schritt auf uns zu erfahren.
Amen.