Samstag, 18. Juni 2016

Sünder sein!

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juni 2016, über 1.Timotheus 1,12-17:

Ich danke Christus Jesus, unserm Herrn, der mich stark gemacht hat, dass er mich für zuverlässig befand und mir das Apostelamt anvertraute.
Früher war ich ein Lästerer und Verfolger und Gewaltmensch, aber mir ist Erbarmung widerfahren, denn ich handelte unwissend, aus Unglauben.
Aber die Gnade des Herrn war überreich vorhanden mit Glaube und Liebe in Christus Jesus.
Der Satz stimmt und verdient alle Anerkennung: „Christus Jesus kam in die Welt, um die Sünder zu retten“. Ich bin der erste von ihnen.
Deshalb aber hat er sich meiner erbarmt, damit Christus Jesus an mir als erstem die ganze Langmut zeigte, ein Muster für die, die an ihn glauben werden zum ewigen Leben.
Ihm aber, dem ewigen Herrscher, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einen Gott, sei Ehre und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.
(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/1_Timotheus_1)

Liebe Schwestern und Brüder,

jede Zeit hat ihre Helden.
Im Augenblick sind es die 23 Fußballer, die unser Land bei der Fußball-EM vertreten: 
Özil und Müller, Schweinsteiger und Khedira.
Im Moment sind das unsere Helden, und wie werden wir sie feiern, falls sie mit dem Pokal nach Hause kommen!

Jede Zeit hat ihre Helden.
Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, galt als Held. Oder der Boxer Muhammad Ali, der Anfang Juni gestorben ist. 
Mutter Theresa galt als Heldin, oder Mahatma Gandhi, obwohl der so gar nichts Heldenhaftes hatte.

Die katholische Kirche nennt ihre Helden Heilige. 
Elisabeth von Thüringen oder Franz von Assisi werden nicht nur von Katholiken verehrt.
Die evangelische Kirche hat die Heiligen abgeschafft, aber ganz ohne geht es auch nicht. Deshalb kommt nächstes Jahr Martin Luther ganz groß raus. Neben ihm gibt es noch ein paar andere, die schon fast zu Heiligen geworden sind: Dietrich Bonhoeffer, Johann Hinrich Wichern, oder Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.

I
Jede Zeit hat ihre Helden.
Auch der Predigttext stellt uns einen Helden vor, und er lässt ihn sogar selber sprechen. Dabei war Paulus lange tot, als der 1. Timotheusbrief geschrieben wurde. Ein Schüler des Paulus, oder der Schüler eines seiner Schüler, hat ihm diese Worte in den Mund gelegt. Paulus selbst hätte sich z.B. nie als „ungläubig“ bezeichnet. So oft und an so vielen Stellen betont er, dass er ein frommer, gesetzestreuer Pharisäer war - so fromm und gesetzestreu, dass er sogar die Christen verfolgte, bis Jesus ihm vor Damaskus erschien.
Diese Begegnung veränderte Paulus, und sie veränderte alles für Paulus: von einem Verfolger wurde er zu einem Verfechter des Christentums, zum ersten Theologen der jungen Kirche. Er hat unseren Glauben entscheidend gestaltet und geprägt - und das, obwohl er ihn nur aus zweiter Hand kennen gelernt hatte.
Insofern könnte man Paulus durchaus unter die Helden zählen, wären da nicht seine ärgerlichen und ungerechten Äußerungen über die Rolle der Frau in der Gemeinde.
Der Predigttext jedenfalls macht Paulus zum Helden, indem er ihn den „ersten Sünder“ nennt, der von Christus gerettet wurde, und ihn als „Muster“ für alle Gläubigen hinstellt. So, wie Paulus, so sollen auch wir sein und glauben.

II
Wenn wir für einen Moment seine frauenfeindlichen Äußerungen beseite lassen und uns auf den Versuch des Predigttextes einlassen, uns Paulus als Vorbild und Helden darzustellen, kann man schon ins Staunen geraten: 
Ich war ein Lästerer und Verfolger und Gewaltmensch“. „So“ einer soll uns ein Vorbild sein?
Oder, dass Paulus als „erster Sünder“ geradezu gepriesen wird - ist das etwas vorbildlich?
Immerhin: Martin Luther, auch ein Paulusschüler, hat den Satz geprägt: „pecca, sed pecca fortiter“ - „sündige, aber sündige tapfer“.
Wollen diese beiden, Paulus und Luther, uns etwa zu einem unmoralischen Lebenswandel verführen? (Nicht, dass das sehr schwierig wäre …)
Wollen sie alles verdrehen, das Gute schlecht und das Schlechte gut nennen?
Sicher nicht.
Aber warum ist Paulus dann als großer Sünder unser Vorbild, und nicht als großer Heiliger?
Warum rät Luther dazu, tapfer zu sündigen, und nicht dazu, jeden Tag sein Bestes zu geben und ein guter Mensch zu sein?

III
Der Glaube hat eine ganz andere Logik als die, die wir in der Schule kennen lernten. In gewisser Weise verdreht er die Dinge, oder stellt sie auf den Kopf. Z.B. wird Paulus nicht seiner Leistungen wegen zum Vorbild erklärt, sondern weil er als großer Sünder Gottes Erbarmen fand.
Überhaupt gelten Leistungen, gute Noten oder gutes Betragen dem Glauben nichts - oder nicht so viel, wie sie uns in unserem Alltag gelten. Schon Jesus hat sich nicht mit tugendhaften Menschen umgeben, mit Künstlern, Philosophen, Wohltätern. Er lud sich bei Halsabschneidern ein, verkehrte mit Prostituierten und Leuten, die aus der Gemeinde ausgeschlossen worden waren. Jesus war kein Moralapostel - die traten erst nach seinem Tod auf den Plan, als die Christen gesellschaftsfähig werden wollten. Schon Paulus verrät seine Glaubensüberzeugung, dass kein Unterschied sei zwischen Mann und Frau, Juden und Heiden, Sklaven und Freien (Galater 3,28), wenn er den Frauen rät, sich zu verschleiern und den Männern unterzuordnen, weil das in der damaligen Gesellschaft so üblich war (und heute noch nicht wesentlich anders ist). Mit diesem Verrat an seinen eigenen Überzeugungen legte Paulus den Grundstein für eine zweitausendjährige Unterdrückung der Frauen in der Kirche.
Insofern können wir das so stehen lassen, dass Paulus ein großer Sünder war. Aber warum sollen wir Sünderinnen und Sünder werden bzw. sein?

IV
Wenn Jesus kein Moralapostel war, und Paulus eigentlich auch nicht, dann ist mit „Sünde“ kein moralisches Fehlverhalten gemeint: 
Es ist keine Sünde, sein Kaugummi auf den Gehweg zu spucken oder unter den Tisch zu kleben, auch wenn es eklig ist.
Es ist keine Sünde, falsch zu parken oder zu schnell zu fahren, auch wenn man das nicht darf.
Es ist keine Sünde, Kirschen zu klauen und, wenn man erwischt wird, alles abzustreiten.
Ab wann ist Diebstahl eine Sünde?
Ab wann, zu lügen, sich gegen die Eltern aufzulehnen?
Sicher ist es eine Sünde, einen Menschen zu töten.
Aber wenn es ein Unfall war? Wenn es im Krieg geschah, oder aus Notwehr?

Jesus sagt in der Bergpredigt, dass jemand, der zornig auf eine/n andere/n ist oder gar schimpft, gegen das fünfte Gebot verstößt: du sollst nicht töten (Matthäus 5,21-26). Und wenn ein Mann eine Frau auch nur ansieht, hat er bereits gegen das sechste Gebot verstoßen: du sollst nicht ehebrechen (Matthäus 5,27-32).
Mit dieser übertriebenen Auslegung macht Jesus es unmöglich, selbst die zehn Gebote zu erfüllen. Und das ist genau seine Absicht. 
Jesus, Paulus und Luther teilen die Überzeugung, dass der Mensch nicht nicht sündigen kann. Alle drei zerstören nach Kräften unseren Glauben, wir könnten gute Menschen sein, ein anständiges, gottgefälliges Leben führen.
Sie tun das nicht aus Bosheit.
Sie tun es aus Liebe zu uns.
Denn wohin es führt, wenn man immer nur leisten muss, immer besser, schöner, klüger werden muss, das erleben und erleiden wir täglich aufs Neue.
Wir scheitern täglich daran, gut zu sein, und wir werden davon immer trauriger.
Indem Jesus, Paulus und Luther uns jede Hoffnung nehmen, aus eigener Kraft gute Menschen sein zu können, wollen sie uns gerade Hoffnung machen, indem sie uns quasi mit der Nase auf Gott stoßen: Gott macht uns zu guten Menschen. Von Gott sollen wir alles erwarten, so, wie Paulus bei seinem Erlebnis vor Damaskus die Kraft empfing, die sein ganzes Leben änderte.

V
„Christus kam in die Welt, um die Sünder zu retten“. Dass wir diesen Satz als wahr erkennen, und dass wir ihn beherzigen: das will der Predigttext erreichen. 
Dabei geht es ihm nicht darum, uns zu armen, kleinen Sünderlein zu machen, uns klein zu machen und zu demütigen. 
Vielmehr geht es ihm darum, dass wir uns für die richtige Seite entscheiden:
Stehen wir auf der Seite der Macher, der Gewinner, der Self-made-men, wie Donald Trump sie repräsentiert? Auf der Seite derer, die es geschafft, die es zu etwas gebracht haben, die alles haben und nichts brauchen?
Oder stehen wir auf der Seite der Verlierer, der Versager, derer, die nichts haben und nichts taugen?

Wenn man mich fragte: auf keiner von beiden. Muss man sich denn unbedingt für eine Seite entscheiden? Sie sind beide nicht verlockend. So ein egomaner Egoist wie Donald Trump möchte ich nicht sein. Aber ich möchte auch nicht als Versager oder Verlierer gelten, möchte nicht, dass man schlecht von mir denkt, mit dem Finger auf mich zeigt.
Gibt es denn keinen Mittelweg? Die Mitte zwischen beidem, das wäre genau das richtige: Erfolgreich, aber nicht eingebildet; wohlhabend, aber nicht geizig; es zu etwas bringen, aber ohne dabei auf die herabzusehen, die es nicht geschafft haben - geht das nicht?

Ich fürchte, diese vielbeschworene Mitte, um die die Parteien so sehr buhlen und die immer kleiner wird, je weiter die Schere zwischen Arm und Reich auseinander klafft: diese Mitte gibt es gar nicht.
Ich fürchte, wir werden uns entscheiden müssen, ob wir auf die eigene Macht und Leistung vertrauen, oder ob wir uns eingestehen, dass wir im Prinzip nicht besser sind als all die Verlierer und Verlorenen unserer Gesellschaft.

Das Wort „Sünder“ ist kein moralischer Begriff, der Menschen abstempelt in gut und böse. Er ist eine Eigenschaft wie unser aufrechter Gang oder unser großes Gehirn, eine Eigenschaft, die wir weder ablegen noch loswerden können: „Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten“, schreibt Paulus (Römer 3,23). Wer das erkennt, der denkt nicht schlechter über andere als über sich selbst; der hält sich nicht für etwas Besseres.

VI
„Christus hat sich meiner erbarmt“. Damit wir diesen Satz einsehen, verstehen und nachsprechen können, sollen wir uns den „Sünder“ Paulus zum Vorbild nehmen. 
Erst, wenn wir erkennen und uns eingestehen, dass auch wir nur lauter arme, kleine Würstchen unter vielen andern armen, kleinen Würstchen sind - erst dann können wir begreifen, was Jesus für uns tat, als er uns zu seinen Schwestern und Brüdern machte.
Erst, wenn wir unseren Dünkel verlieren und Menschen nicht mehr nach ihrem Äußeren, nach dem, was andere über sie erzählen oder nach unseren Vorurteilen und unserer vorgefassten Meinung über sie beurteilen, erst dann erfahren und begreifen wir, was Barmherzigkeit ist. Erst dann können wir auch mit uns selbst barmherzig sein, mit unseren Fehlern und Schwächen.

Solange wir Sünde nur als moralische Verfehlung sehen und verstehen wollen und nicht als eine Eigenschaft, der wir aus eigener Kraft nicht entkommen können, so lange verschließen wir die Augen vor der Realität: dass Gott uns nur helfen kann, wenn wir uns und ihm unsere Hilflosigkeit eingestehen.

Wir sind bereits gerettet.
Aber dass wir gerettet sind, begreifen wir erst, wenn wir einsehen, wie verloren wir waren.
Deshalb ist Paulus, der Sünder, ein Vorbild für uns.
Das Vorbild, das wir brauchen.
Amen.